DIE LAGE DER LYRIK
– „Eine Einladung zur Debatte“. –
In der letzten Poëzieweek (Woche der Lyrik) brachten Awater und Poeziëkrant, die beiden tonangebenden Lyrikzeitschriften in den Niederlanden und Flandern, mit einem gemeinsamen Special frischen Wind in die Debatte zur „Lage der Lyrik“. Im Mittelpunkt stand eine Umfrage unter dreißig wichtigen Dichter*innen beider Länder. Wir sprechen mit Thomas Möhlmann, Lyriker und Awater-Redakteur.
Trimaran: Thomas, kannst du uns erzählen, was genau es mit der Lyrik-Umfrage auf sich hat? Wie habt ihr „die (aktuelle) Lage der Lyrik“ untersucht? Und warum?
Thomas Vor vierzig Jahren hat die niederländische Literaturzeitschrift Maatstaf achtzehn damals sehr einflussreichen Dichtern und Poesiekritikern elf Fragen in Form einer Lyrik-Umfrage vorgelegt. Das führte zu einem kanonisierenden Berg an Antworten, An- und Bemerkungen. So umfangreich war seither nicht mehr nach den Ansichten der Dichter*innen selbst gefragt worden. Höchste Zeit also, die Maatstaf-Umfrage anlässlich der Poeziëweek 2023 noch einmal in aktualisierter Form zu wiederholen, fanden wir bei Awater und Poeziëkrant.
Wir haben uns zusammengetan und einer etwas größeren Gruppe von jeweils fünfzehn wichtigen Lyriker*innen aus den Niederlanden und Flandern eine neue Fassung der Maatstaf-Umfrage vorgelegt. Die Welt hat sich in den letzten vierzig Jahren natürlich grundlegend gewandelt, folglich mussten die Fragen auch grundlegend geändert werden. Dringend geändert werden musste auch die Zusammensetzung der befragten Gruppe: 1983 waren die Befragten noch zu 100% weiß, bis auf zwei stammten alle aus den Niederlanden und abgesehen von einer Frau waren es alles Männer. Das sollte dieses Mal natürlich hinsichtlich Alter, Gender, Herkunft und Lyrikgenre ein Stück diverser und repräsentativer ausfallen!
Wir stellten allen dreißig Teilnehmer*innen unsere elf Fragen und ließen ihnen alle Freiheiten, diese nach eigenem Gutdünken und im eigenen Ton zu beantworten. Die Fragen beziehen sich sowohl auf die eigene Poetik und Berufspraxis als auch auf die Medien, Auftrittserfahrungen und Politik.
Wir waren gespannt auf die unterschiedlichen Meinungen über die Rolle der Lyrik in den heutigen Debatten, über gesellschaftliches Engagement und formale Neuerungen, über die Literaturkritik und den eigenen Geldbeutel, über Instapoesie und Spoken Word. Unsere Umfrage konnte bei der einen Dichterin in einer Reihe bündiger Antworten münden und bei einem anderen Dichter in einem ausführlichen Essay.
Die Antworten aller Befragten lassen sich vollständig online auf unseren Websites nachlesen. Carl De Strycker und ich haben eine kompakte Analyse geschrieben, die als Teil eines gemeinsamen Specials innerhalb der normalen Ausgaben von Awater und in der Poeziëkrant publiziert wurde. Dieses Special haben wir „Die Lage der Lyrik“ genannt.
Trimaran: Was sind deiner Meinung nach die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung?
Möhlmann: Der Begriff „Stichprobe“ wäre mir lieber als „Untersuchung“. Wir wollten die Temperatur der niederländischsprachigen Poesie messen. Zurzeit fehlt eine echte Debatte innerhalb unserer Lyrik, aber aus den Antworten in der Umfrage geht hervor, dass Dichter*innen eine klare Meinung zu vielen Fragen haben, die ihren Beruf betreffen. Dass sie diese nicht gleich selbst aussprechen, sondern anhand eines Fragebogens formulieren, zeigt, so meine ich, dass es sich nicht um schlüssige Programme oder polemische Thesen handelt, mit denen ein anderer Blick auf die Poesie erstritten werden soll – nach den Positionskämpfen der unterschiedlichen Schulen des zwanzigsten Jahrhunderts scheinen in der Gegenwart allerlei Lyrikformen friedlich zu koexistieren.
Allerdings regen einige der Antworten hoffentlich zur Diskussion an. Denn das soll unsere Umfrage auch sein: eine Einladung zur Debatte, der Beginn eines tieferen Gesprächs über Lyrik. In den nächsten Ausgaben von Awater möchten wir Raum für ausführliche Betrachtungen bieten, in denen die teilnehmenden Lyriker*innen ihre Standpunkte ausführen können oder diejenigen, die nicht an der Umfrage mitgewirkt haben, ihre Eindrücke teilen können. Themen, über die ich zum Beispiel mehr lesen möchte, sind die sich wandelnde Rolle der Lyrikkritik und der Einfluss von Spoken Word auf lange Sicht.
Ich fand es auch interessant, dass in den Antworten sichtbar wurde, wie soziales Engagement in der Poesie gesehen wird, und zwar oftmals als etwas, das ein organischer oder zumindest selbstverständlicher Teil des Schreibens ist.
Beifang waren auch ein paar amüsante Erkenntnisse. So haben viele Lyriker*innen gemein, dass sie sich als Außenseiter oder Einzelgänger innerhalb der Lyriklandschaft betrachten und damit auch zufrieden sind. Und unter den Niederländer*innen ist die kanadische Dichterin Anne Carson sehr beliebt.
Trimaran: Ging es auch um Lyrikübersetzungen (vor allem aus dem Niederländischen ins Deutsche oder in andere Sprachen)?
Möhlmann: Ehrlich gesagt ging es bei Übersetzungen und anderen Sprachen mehr um den Einfluss der Lyrik aus anderen Ländern auf die niederländischsprachige Lyrik und um die – natürlich viel zu weit gefasste – Frage, was die niederländischsprachige Lyrik von dieser unterscheiden mag.
Alle Lyriker*innen lassen sich natürlich von anderssprachiger Poesie inspirieren, vor allem aus der angelsächsischen Welt, aber mehrere Dichter*innen erwähnten auch den deutschen Sprachraum, von Paul Celan bis Monika Rinck. In geringerem Maße wurde auch Lyrik aus der karibischen Diaspora sowie französische, italienische, arabische und japanische Poesie als Inspirationsquelle genannt. Und seit jeher sind polnische und südafrikanische Lyriker*innen beliebt in den Niederlanden.
Ob die niederländischsprachige Poesie anders ist als die internationale? Einige Lyriker*innen bemerken zumindest Unterschiede auf institutioneller Ebene. Auch große Verlage veröffentlichen weiterhin Gedichte und die Lyrik wird durch staatliche Subventionen unterstützt, was vielen jungen Autor*innen Chancen bietet und dazu führt, dass die niederländischsprachige Poesie von vielen als „polyphon“, „vielseitig“ und „divers“ oder eher „experimentierfreudig“ wahrgenommen wird. Der in Südafrika lebende Dichter Alfred Schaffer fasst es so zusammen: „Ich habe das Gefühl, dass auch der niederländischsprachige Mainstream (veröffentlicht von Publikumsverlagen) oft experimenteller ist als der Mainstream in vielen anderen Gegenden, wo das formale und inhaltliche Experiment natürlich auch gesucht wird, aber (noch) mehr außer Sichtweite bleibt.“
Übersetzung: Andrea Kluitmann
DIE ELF FRAGEN
1. Im Jahre 1983 wurden die Dichter*innen, die an der Lyrik-Umfrage der Zeitschrift Maatstaf teilnahmen, zunächst gefragt, inwieweit ihre Poesie an niederländische Poesietraditionen und -strömungen anschließt. Gibt es Ihrer Meinung nach gegenwärtig noch Strömungen in der niederländischsprachigen Lyrik? Falls ja, welche?
2. Können Sie Ihr eigenes Werk innerhalb der heutigen Lyriklandschaft verorten?
3. Lesen Sie Lyrik aus anderen Ländern und schlägt sich diese in Ihrer eigenen Arbeit nieder? Glauben Sie, dass fremdsprachige Lyrik die Entwicklung der niederländischsprachigen Lyrik bis in die Gegenwart eindeutig beeinflusst (hat)?
4. Worin unterscheidet sich die zeitgenössische niederländischsprachige Lyrik Ihrer Meinung nach im internationalen Vergleich und im Vergleich zu früher?
5. Betrachten Sie die niederländischsprachige Lyrik als eine Einheit oder bilden die niederländische und die flämische Poesie zwei verwandte, aber unterschiedliche Welten?
6. Halten Sie eine Erneuerung der Lyrik auf formaler und/oder inhaltlicher Ebenen noch für möglich? Halten Sie eine solche Erneuerung für wünschenswert?
7. Glauben Sie, dass gesellschaftliches Engagement in der Lyrik (unmöglich und/oder notwendig ist? Sollte Lyrik die gesellschaftliche, ethnische und sexuelle Vielfalt repräsentieren?
8. Lyrik erreicht ein kleineres Lesepublikum als Prosa. Haben Sie dafür eine Erklärung? Sind Sie der Ansicht, dass Lyrik in den Druckmedien genügend (kritische) Aufmerksamkeit erfährt? Und im Internet? Wie bewerten Sie die Qualität der Lyrikkritik in den Niederlanden und Flandern?
9. Profitieren Sie als Lyriker*in von den vielen Festivals, Auftrittsmöglichkeiten und Events mit und rund um Lyrik, die in den letzten Jahren entstanden sind? Bringen. Ihnen Auftritte beispielsweise eine größere Leserschaft oder eine willkommene Einkommensergänzung? Können Sie Ihren Lebensunterhalt mit Ihrer Arbeit als Lyriker/Lyrikerin ausreichend bestreiten oder ziehen Sie hierfür andere Einkommensquellen heran?
10. Finden Sie, dass „neue“ Formen wie Slam Poetry, Spoken Word und Instapoesie die Lyrik bereichern oder ärmer machen? Und warum?
11. Welche*n Lyriker*in betrachten Sie für sich selbst oder für die Poesie im Allgemeinen als am wichtigsten?
Für die vollständigen Antworten aller dreißig Dichter*innen siehe:
„Der Text, an dem man arbeitet, schärft den eigenen Blick. Bis einem ein Elsterschnabel wächst“, schreibt Peter Verhelst in dieser vierten Ausgabe des Trimaran an Ulrike Draesner, seine Übersetzungspartnerin. Verhelst fährt fort:
Wunderbar, oder? Dieser eingeschränkte Blickwinkel, diese geliebte Form der Paranoia, bei der man alles in Verbindung sieht zum eigenen Text. Alles, was brauchbar scheint, schleppt man ins Nest.
Die Übersetzungswerkstatt des Trimaran ist diesen Fundstücken und dem poetischen Diebesgut auf der Spur, insbesondere, wenn sie zwischen den beiden Sprachen Niederländisch und Deutsch hin- und herfliegen.
Grundlage der Übersetzungswerkstätten und des wechselseitigen Übersetzungsprozesses sind jeweils Interlinearfassungen in der anderen Sprache. Die Dichter*innen entscheiden dann selbst, welche Übersetzungsstrategien sie anwenden, ob sie nachdichten, variieren, spielen – oder sogar den Übersetzungsprozess selbst in der Übertragung reflektieren. Ganz in diesem Sinne trafen in einer Trimaran-Übersetzungswerkstatt in Brüssel Ulrike Draesner (D) und Peter Verhelst (BE) aufeinander sowie in Aachen Radna Fabias (NL) und Dagmara Kraus (D).
Die Dichterin und Romanautorin Ulrike Draesner entwirft mit ihrem Langgedicht „Penelope“ einen Gegenentwurf zur Odyssee als männlich dominiertem Gründungsmythos Europas. Der flämische Theatermacher und Schriftsteller Peter Verhelst nähert sich hingegen der (westlichen) Geschichte von ihrem Ende her, sozusagen Auge in Auge mit „Der Leiche der Utopie“. Angeregt durch ihre gemeinsame Übersetzungsarbeit beginnen sie einen Dialog über das Politische der Wahrnehmung und der Poesie, über weibliche und männliche Blicke, über Prämissen des eigenen Schreibens. Diesen ästhetischen wie gesellschaftlichen Aspekten geht auch die auf Curagao geborene Dichterin Radna Fabias nach. Nachdem im Mittelpunkt ihres Debütbandes Habitus u.a. Migration, (Post-)Kolonialismus und Erfahrungen vielfältiger Entwurzelungen standen, gewährt sie nun einen Einblick in ihre aktuelle Schreibwerkstatt. In ihren Übertragungen der sprachschöpferischen und mitunter musisch-lautpoetischen Gedichte von Dagmara Kraus erprobt sie eine große Bandbreite an Übersetzungsstrategien, von spielerisch-experimentell bis analytisch-kommentierend.
Der Magazinteil widmet sich den verschiedenen Facetten der deutschen, flämischen und niederländischen Poesieszenen und des poetischen Übersetzens: In einem Interview gibt Thomas Möhlmann Auskunft zum „Stand der Poesie“ in den Niederlanden und Flandern. Max Temmerman berichtet über das Amt der Stadtdichter*in, über seine Vergangenheit und Gegenwart. Und das Team des Europäischen Literaturfestivals Köln-Kalk (ELK) hat einen aufregenden Weg gefunden, internationale Poesie ins Veedel zu bringen.
Wir bedanken uns beim flämisch-niederländischen Kulturhaus deBuren dafür, dass wir mit der Trimaran-Übersetzungswerkstatt in Brüssel zu Gast sein durften, wie auch beim Deutsch-Französischen Kulturinstitut für die Gastfreundlichkeit in Aachen.
Gemeinsam mit der Kunststiftung NRW, Flanders Literature und der Niederländischen Stiftung für Literatur freuen wir uns, den Leserinnen und Lesern das vierte Heft des Trimaran präsentieren zu können und wünschen faszinierende Lesefunde.
Die Redaktion
– Editorial
– Björn Kuhligk: Auf den Punkt
– Die Lage der Lyrik. Interview mit Thomas Möhlmann
– Peter Verhelst empfiehlt: Mustafa Stitou
– Max Temmerman: Das Amt der Stadtdichter*innen
– Ulrike Draesner empfiehlt: Frauen | Lyrik
Gedichte, Übersetzungen, Kooperationen
– Penelope übersetzen. Peter Verhelst über Ulrike Draesner
– Ulrike Draesner: penelope
– so antworte ich dir aus meinem visier. Korrespondenz Ulrike Draesner – Peter Verhelst
– Breathing bodies. Ulrike Draesner über Peter Verhelst
– Peter Verhelst: Gedichte
– Über Radna Fabias | Über Dagmara Kraus
– Radna Fabias: Gedichte
– Dagmara Kraus: Gedichte
– Ruth Löbner empfiehlt: Ellen Deckwitz
– P.-B. Franke, A. Kasnitz, J. Linnebank: Europa im Veedel
– Ira Wilhelm empfiehlt: Asha Karami
– Christiane Kuby empfiehlt: Judith Herzberg
– Poetischer Grenzverkehr
– Kurzbiographien
– Die Stiftungen
des zweisprachigen Lyrikmagazins präsentiert Erstübersetzungen, Essays, Interviews und liefert wieder Einblicke in die aktuelle Poesie aus drei Ländern. In der Übersetzungswerkstatt – dem Zentrum des Magazins – begegnen sich Ulrike Draesner (D) und Peter Verhelst (BE) sowie Radna Fabias (NL) und Dagmara Kraus (D).
Die Dichterin und Romanautorin Ulrike Draesner entwirft mit ihrem Langgedicht „Penelope“ eine mythopoetische Fortschreibung der Odyssee und zeichnet damit einen Gegenentwurf zum männlich dominierten Gründungsmythos Europas. Der flämische Theatermacher und Schriftsteller Peter Verhelst nähert sich der (westlichen) Geschichte nicht von ihrem Anfang, sondern von ihrem Ende her. Gemeinsam beginnen sie einen Dialog über das Politische der Wahrnehmung und der Poesie, über weibliche und männliche Blicke, über Prämissen des eigenen Schreibens. Diesen ästhetischen wie gesellschaftlichen Aspekten ist auch die auf Curaçao geborene Dichterin Radna Fabias auf der Spur, und in ihren Übertragungen der Gedichte von Dagmara Kraus erprobt sie eine große Bandbreite an Übersetzungsstrategien. Dagmara Kraus, deren Biografie wie die von Radna Fabias von Mehrsprachigkeit geprägt ist, nähert sich dem Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Radikalität in den Texten ihrer Dichterkollegin. Der Magazinteil widmet sich verschiedenen Facetten der Poesieszenen und des poetischen Übersetzens. So spricht Thomas Möhlmann im Interview über die jüngste Umfrage zum „Stand der Poesie“ in den Niederlanden und Flandern, Max Temmerman stellt das Stadtdichter:in-Amt in Antwerpen vor, und das Team des Europäischen Literaturfestivals Köln-Kalk (ELK) erläutert, wie es internationale Poesie in sein Stadtviertel bringt.
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