ZWEIFEL
Aus dem Karton der Illusion
zieh ich den alten Traum hervor
wie du vor dem Spiegel
einen Hut zum langen Knöpfelkleid
oder wenn du von der Jagd kommst
das Kaninchen – oder wie du
die Rose vom Unkraut trennst
und unter Fremden deinen Freund erkennst.
Dazu die Begebenheit:
Neulich, als der Abend kam auf leisen Sohlen wie ein Käfer
(für viele ja der gute Schäfer) und verstohlen dann
in mir die Poesie zu lodern begann –
da ging ich schlafen. Schlaf ist ein zweifelhaftes Revier
was heißt hier wirklich, was dort nicht
du glaubst einen Räuber zu fassen, ballerst los
bloß nachher sagt man dir, es war ein Soldat
In der Tat, genauso ging es mir
Darum erklär mir bitte einmal klipp und klar
was ist wirklich – und was daran ist wahr
Von den verschiedenen Triebfedern, die beim Übersetzen aus einer anderen Sprache am Werk sind, kam hier vielleicht am ehesten das zum Greifen, was dem Privatdetektiv (nehme ich an) Freude macht: auf eigene Nase und Verantwortung vorzugehen, als Amateur, und auf die fremdgelegten Spuren sekundärer Profis ruhig zu verzichten – sozusagen die Freizeit-Attitüde als einziges Hilfsmittel, „mal sehen was da rauskommt“. Der Fall: das unbekannte Frühwerk eines Autors, der mir auch sonst kaum vertraut ist, und dem persönlich nichts mehr weh tut.
So besehen, hat TRISTAN TZARA, bevor er 1916 nach Zürich ging und hinfort nur noch französisch schrieb, im zarten Alter zwischen 16 und 19 Jahren seine ersten Gedichte in rumänischer Sprache verfaßt und zum Teil auch in Bukarest publiziert – doch das sind belegte Tatsachen. Tristan Tzara, eigentlich Sami Rosenstock, war ja auch 1896 in Moineşti, also in Rumänien, geboren worden (und 1963 in Paris, also in Frankreich, gestorben), hatte sich damals in Zürich der Dada-Bewegung angeschlossen, so daß von diesem Zeitpunkt an nichts Unentdecktes zu entdecken bliebe; alles kann in seinem französischen Werk nachgelesen werden.
Auf der Spur der frühen rumänischen Gedichte – also Neugier von rückwärts? Vom fait accompli, ihrem Text, ausgehend – ihm bereits den Strick drehend? Wo kündigt sich was an, ha? Da oder da? Birne, Stofftier, Krankenschwester? Präkonzeptuelle, postpubertäre, xenophile, expressionistisch-romantische Dada-Eklekte? Oder doch (noch?) nichts davon?
Als ich vor knapp drei Jahren das rumänische Frühwerk Tzaras zu übersetzen begann, war etwas von dieser Neugier dabei, doch die Gedichte enttäuschten mich, d.h. sie lagen kaum auf meiner Frequenz; und die Herausforderung, sie dem deutschen Leser direkt aus dem Rumänischen zugänglich zu machen, erwies sich als Anlaß zur Erledigung einer eher dokumentarischen Pflicht. Dabei blieb es, selbst als etwas Seltsames passierte. Beim Übersetzen war mir nämlich stellenweise plötzlich, als hätte ich es mit Bruchstücken von ins Rumänische übersetzten – und zwar ein wenig ungelenk und fehlerhaft übersetzten – deutschen Autoren zu tun, menschheitsdämmernden, Else Lasker-Schüler etwa, aber auch Trakl, manchmal auch Heine; und die es nun gälte, in ein mögliches Original zurückzuübersetzen. Nichts Belegbares; aber gerade die vermeintlichen „Fehler“ waren irritierend – wenn Tzara etwa, ausgehend vom deutschen Homonym „Futter“, den rumänischen Ausdruck für „Nahrung“ in einen Kontext setzt, der schlüssig würde, wenn er das rumänische Wort für „Bekleidungsinnenseite“ verwendet hätte… Punkte also, nichts Durchgehendes, und ich bin den Dingen auch nicht nachgegangen. Was Tzara so gelesen haben mag (vielleicht um 1912, als er unter dem Namen S. Samiro Mitarbeiter der Zeitschrift Simbolul war), könnte zwar Indizien liefern, letzten Endes aber wären es unlautere Vermutungen. Außerdem war es reizvoller, auf der Text-Ebene zu bleiben und sich hin und wieder vom Eindruck der „imaginären Retroversion“ foppen zu lassen.
Und von der Vexation der wiederkehrenden Motive, ihrer Nähte, Bruchstellen, Überlappungen. Wie sähe demnach, falls man sich drauf einließe, ein aus dem Gedächtnis nachgestelltes typisches Tzara-Frühgedicht, sozusagen die Hypothese einer zusammenfassenden Beschreibung aller hier versammelten Gedichte überhaupt aus?
Wie in Gaudis Barcelona: jeder Schnitt durch die Tortilla zeitigt ziemlich ähnliche Muster – müßig, sich besonders erinnern zu wollen. Manchmal fehlt das eine, manchmal fehlt das andere; zwei bis drei sind in jedem. Keines läuft, wie es beginnt, manches endet anders als erwartet, vieles erinnert in etwas an etwas in manchem. Insgesamt kann von einer Summe nicht die Rede sein, selten von einer repräsentativen Subtraktion (Halsstarrigkeit). Eine derartige, falls sie gelänge, Zusammenschau der Teile und Motive wäre interessant, aber zu vollständig; einiges bleibt vereinzelt. Die Muse des Jünglings vom Lande wäre ein Internatsmädel mit Binnenreim aus guter Familie, schuldhaft verlassen, kaum zu fassen, eine Art Zeitgeist. Ihr Aufbruch wäre die große Stadt, der Handelshafen, das Hospital, die Schwesternhaube. Ihr Einbruch erfolgte im Eisspiegel des Weihers, im Regenbogen der Wanderdüne, im Nebeneinander von Saxophon und Mansarde, Ballettratte und Hanfseil, erstem Weltkrieg und elektrischer Birne. Ihr Umbruch schwankte zwischen Schwefelgelb und Lilienweiß, Schützengraben und kaiserlichem Wabenbau (in Rumänien gab es damals aber nur einen König), zwischen Psalm und Skandal im erotischen Heuschober – braves Kind, irrer Schock, feines Trauma, agrarische Provinz mit dem Stich ins Überläufertum. Der Pazifismus und die Eisenbahn. Die Obsession des nassen Taschentuches – Freud Hein und Freud Nase, dazu die Puppe, das Stofftier, der Grabstein, das Pferd – und Hunde, Hunde, Schimpf und Schande. Die Ironie braucht mehr Windungen als sie hat – das ist sie, aber mit Schnupfen, hinter der hohlen Wand. Hamlet mit Spitzbart hopst, eins zwei drei – und handgezeichnet erscheint Ophelia mit Bubikopf und Lauskamm. Etüde des Pseudonyms: Tristan Ruia (rîie = Krätze; Volksetymologie). Mythen für den Ausbruch, der bis nach Zürich führen wird, in das sagenhafte Kaffeehaus – läse man sie hier schon im Kaffeesatz? Durchbrechen mit dem Herzblut verzweifelter Wörtlichkeit? Beschwörung: wie schön es doch sei, in einem Gedicht weiterzuleben.
Und natürlich diese Schwierigkeiten für den Übersetzer. Die vielen Reime! Assonanzen! Verschränkten Positionen! Zäsuren und Korrespondenzen! Kein festes Metrum – aber Wohlklang! Aber Schwulst! Und, wie gesagt, die kleinen Schaukelmoore: Ist „colonada sfîntǎ“ ein heiliger Säulengang – oder eine verkappte Säulenheilige? Findet die „tristeţǎ casnicǎ“ im Haus statt – oder heim-lich? (Tristesse auf jeden Fall). Was tun, wenn Geige und Weise zusammenfallen, die Weise aber die von Art & Weise ist? Sind Bilderbücher zum Vergessen oder zum Ansehn da? („uitare“ ist beides). Und dann „calul putrezit“ – das verschimmelte Pferd? Oder doch ein Schimmel?
Abgesehen von solchen Kniffligkeiten, die ich schließlich nicht überbewerten wollte, hat mich das Übersetzen auch nicht in große Gewissenskonflikte gebracht. Wie das Original, so die Übersetzung: ein wenig gegen den Strich, aber nicht zu sehr; Pastiche ja, vielleicht; Parodie nein; durchaus ein Anstrich von Parnaß, wenn auch leicht lurchisch; künstliche Tränendrüsen – ehrliches Nähtischchen; ein bissel Sammelsurium.
Noch immer keine Spur vom Dada-Tzara? Vom Surrealismus-Tzara noch kein Überbein? Nahm er den Hut – um wegzugehen? Oder kam er an – weil er den Hut nahm? Oder ging er einfach. Wo liegt der Hund begraben?
Genauso unsinnig wie die Frage, ob „die“ rumänische Literatur ihn nun mit seinen frühen Gedichten für sich beanspruchen solle, könne, dürfe. Das heißt ihn teilen müsse, später, mit der französischen? Oder mit welcher? Oder war er für diese Art & Weise von Literatur schon immer verloren.
Nein, ich bin auf diese frühen Gedichte nicht neugieriger als vorher. Sie beweisen mir so wenig den Tzara von später wie den zwischen 1912 und 1915, als er sie schrieb. Der Witz an der Geschichte ist geographischer Natur – ein Elend, dem gute wie schlechte Gedichte einfach gewachsen sind, indem man sie wohl oder übel, also unterschiedlich, liest.
Denn wie sich die frühen Gedichte Tzaras zum Rest seines Œuvres verhalten, das findet außerhalb dieses Buches statt. Meine Übersetzung steht dem notgedrungen sowohl im Wege als auch zur Verfügung; besser als nichts.
Oskar Patior, Nachwort, 1982
eigentlich Sami Rosenstock (1896–1963) hatte, bevor er 1915 von Rumänien nach Zürich ging und sich dort im Cabaret Voltaire der Dada-Bewegung anschloss, seine Gedichte zum Teil in rumänischen Zeitschriften veröffentlicht. Vom klassischen Dada und den späteren surrealistischen Gedichten Tzaras her betrachtet, liefern diese Gedichte ein Rohmaterial, das zur Motiv- und Spurensuche anregt. Gleichzeitig dokumentieren sie etwas wie den Aufbruch, Einbruch, Umbruch zur Zeit des Ersten Weltkriegs am Südostzipfel Europas.
edition text + kritik, Ankündigung
TRISTAN TZARA
Wer ist da
Du hast mir nicht die Hand gedrückt
Wir haben sehr gelacht als wir von deinem Tod hörten
Wir hatten solche Angst daß du ewig sein könntest
Dein letzter Seufzer
dein letztes Lächeln
Weder Blumen noch Kränze
Nichts als die winzigen Autos
und die fünf Meter langen Schmetterlinge
Philippe Soupault
Tristan Tzara – Dada Into Surrealism (1959)
Oskarine ist ein Gedicht-Generator von Ulrike Gabriel, der auf den Gedichten von Oskar Pastior basiert. Jedes Gedicht spricht sich selbst – immer neu und mit der Dichter-Stimme.
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