GEHN
Die Straße ist gerade und glatt
Auf dem Stadtplan und wenn ich so drüberseh
Wenn ich drauf geh
Fühl ich Kopfsteine unter den Sohlen
Bergundtal klebrigen Teer
Ich wollte ein Brot und irgendwas holen
Da überfällt mich die Straße von überallher
Und wie das Kind vom Regenbogen
Bin ich um alles betrogen:
Um die Ecke Urwald, hinter Häusern Meere
Zwischen Straßenschildern Laternen und Gewehre
überm Bahnhof eine Wolke schwarzgrau in Eile
Ein Schornstein schreibt Zeile für Zeile
Chronik der Stadt in den blauen Dunst
Formeln Farbe Schwarze Kunst
Aus der Halle unten die Raucherzeuger
Die Schornsteinbauer und Wolkenbeuger
Laufen um den Platz in der Straßenbahn.
Inge Müller
Moderne Dichtung ist ihrem Erlebnisfundus und ihrer Struktur nach weitgehend eine urbane, eine großstädtische Dichtung. Der Bewohner der großen Städte prägt mit seinem Bild des Menschen und der Gesellschaft, seinem Anspruch an die Welt, seinen Existenzproblemen und Gewohnheiten Inhalt und Gestalt heutiger Lyrik. Hochgradige Sensibilität für die vielfältigen Reize des Daseins in der großen Stadt, für Wechsel und Bewegung, für Farb- und Geräuschnuancen, Intellektualität und Flexibilität sind Kennzeichen zeitgenössischer Poesie. Sie lösen das Gedicht aus überkommener Gefühlsbeladenheit und einer abgenutzten, leer gewordenen Bildwelt. Dynamik und Vitalität des Geschehens in der modernen Großstadt haben den Rhythmus und die Intensität des dichterischen Ausdrucks gesteigert. Bewegung und Simultaneität sind durch die ungeheuren Veränderungen, die die Existenzweise des Menschen in den letzten hundert Jahren von Grund auf revolutioniert haben, ein formbestimmendes Element in der Lyrik geworden. „Seine (des Menschen) Umgebung“, schreibt Bertolt Brecht, „verwandelte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr, dann von Jahr zu Jahr, dann beinahe von Tag zu Tag. Ich, der dies schreibt, schreibe es auf einer Maschine, die zur Zeit meiner Geburt nicht bekannt war. Ich bewege mich in den neuen Fahrzeugen mit einer Geschwindigkeit, die sich mein Großvater nicht vorstellen konnte, nichts bewegte sich damals so schnell. Und ich erhebe mich in die Luft, was mein Vater nicht konnte. Mit meinem Vater sprach ich schon über einen Kontinent weg, aber erst mit meinem Sohn zusammen sah ich die bewegten Bilder von der Explosion in Hiroshima.“
„Als heroische Landschaft habe ich die Stadt“, sagte der junge Brecht. In den Städten finden die gewaltigen Kämpfe des Zeitalters statt, hier werden die großen Fragen des Jahrhunderts entschieden. Mit den großen Städten ist das moderne Proletariat, die revolutionäre Arbeiterbewegung entstanden. Die Metropolen und Industriestädte werden zu Zentren des proletarischen Klassenkampfes, Schauplatz der großen sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts. Von der Großstadt her und den Lebensproblemen ihrer Bewohner erhält die zeitgenössische Lyrik politische und soziale Impulse. Der proletarische und sozialistische Dichter findet seine Sujets zu einem bedeutenden Teil im Bereich der Arbeitervorstadt, der Fabrikstadt. Ohne den Hintergrund der großen Städte sind die Klassiker unserer sozialistischen Literatur nicht denkbar.
Mit der zunehmenden Industrialisierung und dem schnellen Wachstum der Städte vor allem seit Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen sich die Existenzverhältnisse der Menschen radikal zu verändern. Waren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Deutschland noch achtzig Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt gewesen, so gegen Ende nur noch dreißig Prozent. Heute wohnen in den hochindustrialisierten Staaten vier Fünftel der Bevölkerung in Städten; man spricht von Conurbation, vom Zusammenwachsen mehrerer Großstädte, von städtisch-geographischen Großlandschaften.
Die Poesie hat diese Wandlungen, die tiefen Einbrüche in die Lebensweise und das Bewußtsein der Menschen in der Stadtheimat sorgsam registriert. Früher Widerschein eines Neuen, noch Unbekannten sind die Ereignisse um die Pariser Kommune, die zum erstenmal die entscheidende Rolle des Industrieproletariats, der großen Städte und ihrer Bewohner für die Geschichte der Menschheit ins Bewußtsein hoben. Der Aufstand der Pariser Arbeiter gegen die Unfähigkeit und den nationalen Verrat der Bourgeoisie, die Rebellion eines Stadtvolks gegen eine Gesellschaftsordnung, die den veränderten Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen in großen Gemeinwesen nicht mehr entsprach, wirkte wie ein Fanal, wie ein erstes Rufzeichen an die neu sich formierenden Völker. Die Dichtung hat diese Zeichen aufgenommen, als Chiffren des Protestes und der Hoffnung, als Schlüsselworte einer sich abzeichnenden tiefgreifenden Wandlung der Geisteshaltung und Psyche des zeitgenössischen Menschen. In der Lyrik Rimbauds und Verlaines sind die Impulse und Emotionen, die Ängste und Visionen aufgezeichnet, die aus den Klassenkämpfen dieser Zeit erwachsen, aus dem selbstherrlichen Anspruch der großen Stadt an die neue Zeit. Die wilde Auflehnung gegen den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Moral sprengt das Gedicht aus herkömmlichen Formen und macht es beweglich und aufnahmefähig für neue Inhalte und Aussagen.
Es ist das Verdienst der Schriftsteller des Naturalismus, die Großstadt als Gegenstand dichterischer Gestaltung entdeckt zu haben. Noch ist die Stadt kein vertrauter Lebensboden; sie wird vielfach von außen betrachtet, mit den Augen des Besuchers, des Abseitsstehenden. Der Gegensatz von Natur und Großstadt als vergleichendes, moralisierendes Moment bleibt lange wirksam; das Großstadterlebnis erscheint als gesteigertes oder vermindertes Naturerlebnis und ist vom Pathos des Mitleids und der sozialen Aufklärung bestimmt. Weitgehend in konventionellen Formen befangen, löst sich der naturalistische Dichter nur langsam aus dem starren Schema und benutzt Reim und Metrum in einer dem neuen Inhalt adäquateren Weise. Die kapitalistische Großstadt hat endgültig aufgeräumt mit der ständischen Gliederung der Gesellschaft und den fließenden sozialen Unterschieden; Armut und Reichtum stehen sich schroff gegenüber. Mit dem Auftauchen des neuen Sujets erhält die Dichtung in Deutschland wieder eine gesellschaftskritische und politische Note.
Das Phänomen der modernen Großstadt bleibt noch wesentlich auf Berlin reduziert. Als einziges der literarischen Zentren in Deutschland ist Berlin zugleich eine bedeutende Industriestadt; in dem Maße, da es sich als politische und geistige Metropole etabliert, gewinnt es weltstädtische Züge. Die Silhouette der Stadtlandschaft in der deutschen Dichtung ist unverkennbar mit der Physiognomie Berlins verbunden; die vitalsten Zeugnisse einer neuen Poesie im Naturalismus und im Expressionismus sind gespeist aus den Bildern und Impulsen großstädtischen Lebens, wie es sich in Berlin entwickelt.
Die schnell und chaotisch wachsende kapitalistische Großstadt mit ihren sozialen Gegensätzen, ihrem Wohnungselend, den häßlichen Wohnbezirken der Vorstädte und den unmittelbar daneben errichteten Fabriken, Lagerhallen, Güterbahnhöfen usw. hat stets zwiespältige, oft feindliche Empfindungen ausgelöst. Bei den Dichtern des Naturalismus wird die Großstadt einerseits bejaht als ein Daseinszentrum von bislang nicht gekannter Lebensintensität, das ein neuartiges Gemeinschaftserleben vermittelt. Andererseits fühlt sich der Dichter herausgefordert durch den ungeheuren Kontrast zwischen den Leistungen der menschlichen Arbeit und der Ballung von Armut und Not innerhalb der Stadt. Er beginnt gegen die Welt der Maschinen aufzubegehren, gegen die Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens und die moderne bürgerliche Zivilisation. Diese antizivilisatorische, antikapitalistische Tendenz kulminiert in Richard Dehmels „Predigt ans Großstadtvolk“, in der die Bewohner zum Verlassen der Stadt aufgefordert werden.
Mit den neuen Formen des Klassenkampfes, die von den Industriestädten ausgehen, wächst die bürgerliche Aversion, der Widerstand gegen die Stadt. Friedrich Nietzsche, der sein romantisch-antikapitalistisches Trauma von der Pariser Kommune empfangen hat, steigert sich in wilde Ausbrüche gegen die moderne Großstadt. In Zarathustra heißt es:
Speie auf diese Stadt der Krämer und kehre um! Hier fließt alles Blut flaulicht und lauicht und schaumicht durch alle Adern: speie auf die große Stadt, welche der große Abraum ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt…, wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düsterne, Übermürbe, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt… Wehe dieser großen Stadt! – Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird!
Die verschiedenen literarischen Strömungen aristokratischer, neoklassizistischer oder neuromantischer Prägung um 1900 stimmen überein in der Ablehnung der modernen großstädtischen Zivilisation. Aber während die romantisch-antikapitalistische Polemik Stefan Georges oder auch Rainer Maria Rilkes in ihrer Wirkung weitgehend esoterisch bleibt, dringt die gegen soziale Thematik aus dem Leben der Großstadt und gegen die Großstadt selbst gerichtete „Heimatkunst“ tiefer. Diese Afterdichtung, die einen verfälschten, mystifizierten Natur- und Heimatbegriff, Bauerntum und Bodenständigkeit gegen die „Heimatlosigkeit“ und Fremdheit des Menschen in den Städten ausspielt und in den kleinbürgerlichen, von der Proletarisierung bedrohten, sozial heimatlos gewordenen Schichten eine große Wirkung erzielt, bereitet den Boden für faschistische Ideologien.
In den Jahren zwischen 1908 und 1914, mit dem jugendlichen Aufbruch der Literatur in Deutschland, treten Dichtung und Großstadt in eine große produktive Gemeinsamkeit. Die vielfältigen und bizarren Erscheinungen großstädtischen Lebens werden zum zentralen Thema der Lyrik. Eine junge Dichtergeneration formuliert ihre Antiposition gegenüber der neuromantischen und neoklassizistischen Literatur. Die Gestalt des jugendlichen, sich selbstherrlich als Maß aller Dinge setzenden, gegen die bürgerliche Gesellschaft revoltierenden Poeten hebt sich ab von der grellfarbenen, gespenstischen Silhouette der großen Stadt. Charakteristisch für diese Zeit ist das Caféhauserlebnis als Form der Gemeinsamkeit und des Protestes. Der Dichter, der Stadtwelt als Abenteurer, als Rebell, als Moralist gegenüberstehend, kommt „die Straßen entlang geweht“, erforscht und enthüllt die Schrecken und Geheimnisse des Häuserdschungels, „erobert“ sich die Stadt.
Wieder gehen maßgeblich von Berlin entscheidende Impulse für eine revolutionierende „Gedichtschreibung“ aus. Alfred Kerr propagiert die Idee einer „Großstadtlyrik“. Im März 1909 gründen Kurt Hiller und einige andere den Neuen Club mit dem Neopathetischen Cabaret, dem Georg Heym, Jakob van Hoddis und Ernst Blass angehören. In dem programmatischen Artikel „Gegen ,Lyrik‘“, abgedruckt in der „Zeit- und Streitschrift“ Die Weisheit der Langeweile, wendet sich Hiller gegen die einseitige Gefühlsbetontheit des herkömmlichen Gedichts und fordert eine Intellektualisierung der modernen Lyrik.
Ich setze als Ziel der Gedichtschreibung: das pathetische Ausschöpfen dessen, was dem entwickeltsten Typus Mensch täglich begegnet; also: ehrliche Formung der tausend kleinen und großen Herrlichkeiten und Schmerzlichkeiten im Erleben des intellektuellen Städters…
Ein neuer Typus des Dichters kündigt sich an, nicht mehr verträumt, naturverhaftet, weltabgewandt, sondern weltstädtisch, kritisch, beschwingt, wirklichkeitstrunken. „Der kommende Lyriker“, schreibt Ernst Blass 1912 in der Vorrede zu seinem Band Die Straßen komme ich entlang geweht, „wird auch ein Darsteller des Alltags sein. Kein alltäglicher Darsteller! Er wird aber kein Schilderer der Weltstadt sein, sondern ein weltstädtischer Schilderer…“ Acht Gedichtzeilen wie „Weltende“ von Jakob van Hoddis vermögen dem Lebensgefühl einer ganzen Generation Ausdruck zu verleihen. Eine heute kaum noch verständliche Wirkung ging von diesem Gedicht aus, „weil zwischen seinen Zeilen“, schreibt Johannes R. Becher, „hinter ihnen sich außerordentliche Erlebnisse und Ereignisse hervordrängen“. Die bürgerliche Welt „der Abgestumpftheit und Widerwärtigkeit“ schien plötzlich „bezwingbar“ zu sein. Die Stadt wird nicht mehr von außen her, im Dienst einer sozialen Ethik gesehen, sondern von innen her erlebt, als Teil und Stimme dieser Stadt. In Johannes R. Bechers „De profundis III“ spricht sich das neue Stadterlebnis programmatisch aus:
Singe mein trunkenstes Loblied auf euch ihr großen, ihr rauschenden Städte.
Trägt euer schmerzhaft verworren, unruhig Mal doch mein eigen Gesicht!
Zerrüttet wie ihr, rüttelnd an rasselnder Kette.
Glänzende Glorie, seltsamst verwoben aus Licht und Nacht du, die meine zerrissene Stirn umflicht!
Hier wird die völlige Identifikation des Dichters mit der Stadt konstatiert. Die ungeheuren Spannungen, von denen die Existenz des Schriftstellers erfüllt ist, leiten sich her aus dem dissonanten Leben der großen Stadt. Poesie wird zum permanenten Versuch, die Totalität des Daseins in der Stadt mit all seinen Widersprüchen und pittoresken Erscheinungen zu erfassen. Die Stadtlandschaft stellt sich dar als ein vielfältiges, riesenhaftes Panorama. Vorstadt, Fabrikstadt, Bahnhöfe, Straßen, Cafés, Bars, Bordelle, Asyle, Spitäler, Irrenhäuser usw. werden immer wieder neu entdeckt und besungen. Der Dichter ist enthusiasmiert, herausgefordert, bestürzt, verzweifelt, doch niemals unbeteiligt. Seine fast pantheistische Weltbegeisterung steht im Einverständnis mit allen Äußerungen des Lebens und der Kraft, mögen diese noch so häßlich und ekelerregend sein. Die einzelnen Gegenstände werden teilweise mystifiziert, aber die sozialen Sympathien und Antipathien sind klar erkennbar. Der Dichter spürt in der Zerrüttung, dem Chaos der Stadt die kommende Erneuerung, vernimmt aus dem gesellschaftlichen Untergrund die Stimme der Zukunft.
Auch die Natur, geheiligtes Reservat der Dichtung, ist in die Vorstellungs- und Erlebniswelt des Großstädters einbezogen. Das führt zu einer völligen Umwandlung der Bildsprache und des lyrischen Materials. „Tod dem Mondschein“ – diese Losung des italienischen Dichters Marinetti vereinigt die junge Dichtergeneration auch in Deutschland. Der Mond und andere Requisiten konventioneller Poesie werden bewußt trivialisiert und bilden eine seltsam verfremdete Kulisse großstädtischen Lebens. Das herkömmliche Repertoire lyrischer Ausdrucksmittel ist unbrauchbar geworden, eine poetische Scheinwelt wird ab- und umgewertet, um der inneren und äußeren Wirklichkeit des zeitgenössischen Menschen wieder nahezukommen. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der Malerei, wo eine ganze Generation junger Maler durch das Erlebnis der Weltstadt entscheidend beeinflußt wurde, nicht selten in unmittelbarer Berührung mit der Dichtung. Ludwig Meidner, mit Jakob van Hoddis befreundet, schrieb:
Malen wir das Naheliegende, unsere Stadt-Welt! die tumultuarischen Straßen, die Eleganz eiserner Hängebrücken, die Gasometer, welche in weißen Wolkengebirgen hängen, die brüllende Koloristik der Autobusse und Schnellzuglokomotiven, die wogenden Telefondrähte (sind sie nicht wie Gesang?), die Harlekinaden der Litfaß-Säulen, und dann die Nacht… die Großstadtnacht…
Die große Stadt vermittelt ein neues Generations- und Gemeinschaftserlebnis, vervielfältigt die Erlebnisfähigkeit und -möglichkeit des einzelnen, aber sie hat zugleich das Gefühl der Einsamkeit und Fremdheit unermeßlich gesteigert. Das wilde Wachstum, fast animalische Wuchern der Stadt nach allen Seiten hin, die Unübersehbarkeit und Undurchschaubarkeit der Existenz- und Machtverhältnisse in der Stadt, das Finster-Bedrohliche ihres äußeren Bildes – all das führt zu einer Dämonisierung und Mythisierung der Stadt. Der Dichter, den andrängenden Bildern und Gestalten ausgeliefert, nimmt visionäre Elemente zu Hilfe, um das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner anschaulich zu machen. Georg Heym hat in Gedichten wie „Die Dämonen der Städte“ und „Der Gott der Stadt“ das Traumhaft-Gespenstische am bildkräftigsten zum Ausdruck gebracht. Gleich einem Ungeheuer lastet kommendes Unheil über der Stadt, die Zeit scheint stillzustehen, alles Dasein ist erstarrt und sinnentleert wie in Erwartung einer furchtbaren Katastrophe. Vor allem in den nächtlichen Städten nimmt das Grauenhafte, die dunkel drohende Gewalt übermächtige Formen an. Die krakenhafte Gestalt der Weltstadt und die unheimliche Ballung der Lebenserscheinungen in der Stadt erzeugen Bildvorstellungen, die das „Weltende“-Thema immer wieder variieren. Aus der Schilderung des Existenzkampfes der Massen und der Zwangsläufigkeit ihres Daseins, als Ausdruck dämonischer Besessenheit und als Götzendienst für eine fremde schicksalhafte Macht angesehen, erwachsen Visionen, in denen sich die Vorahnung des Krieges manifestiert. Krieg und Revolution, düster beklemmend vorgezeichnet, brechen aus der Welt der Städte hervor und wenden sich gegen sie zurück, gegen ihre kapitalistische Unnatur, gegen soziale Versteinerung und menschliche Kälte.
Mit der Entdeckung der Vorstadt, der Fabrikstadt, der Geschlagenen der Großstadt, der Huren, Bettler und Krüppel, polemisiert der Dichter gegen das harmonisierte, idealisierte Menschen- und Gesellschaftsbild seiner Epoche, das mit den wirklichen Verhältnissen nur wenig gemein hat. In den Außenseitern und Asozialen werden die Totengräber des herrschenden Systems geahnt, aber noch nicht direkt sozial gesehen. Die neue Thematik bereitet den Weg für die Politisierung der Großstadtlyrik, wie sie sich bei Becher, Lotz, Hasenclever, Zech u.a. ankündigt, jedoch auf einer poetisch weitaus höheren Stufe als im Naturalismus. Diese Entwicklung verstärkt und radikalisiert sich nach 1914 durch die Erfahrungen des Krieges. Langsam keimt, zuerst noch verschwommen und menschheitsverbrüdernd, die Hoffnung auf das „Erwachen der Städte“. Gegen Ende des Krieges, mit der Oktoberrevolution in Rußland, wird das politische Moment vorherrschend. Der Dichter beschwört die kommende Revolution, wenn auch weitgehend abstrakt als Aufstand des Herzens und des Geistes.
Der revolutionäre Aufschwung selbst, der ungebrochene lyrische Enthusiasmus bleibt Episode. Neue Stimmen und Talente melden sich an, die aus dem Kampf der Arbeiterbewegung, des revolutionären Proletariats in den großen Städten hervorgegangen sind. Das Erlebnis der Massendemonstrationen, der revolutionäre Elan einer empordrängenden Klasse, die Gewalt der großen sozialen Veränderungen in Rußland verleihen der Dichtung zeitweise ein Element ungestümer Kraft und Siegeszuversicht. Aber bald sind Hoffnung und Pathos überschattet von Trauer und Resignation. Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wird zum Symbol für den Verrat und die Niederlage der Revolution. Die Städte sind erfüllt vom Schmerz der Geschlagenen, vom Triumphgeheul der Mörder. War die Dirne einst Gleichnis für die Entfremdung des Menschen in der Stadt, so wird die Stadt selbst, Beute der Konterrevolution, zum käuflichen Wesen. „Soldatendirne Berlin“, heißt es bei Rück, „Wien, du alte, kalte Hure“, bei Ehrenstein. Der Haß auf die kapitalistische Großstadt, das Zentrum der verratenen, mißratenen Revolution, findet in Ehrensteins „Zerstöret die Stadt!“ seinen radikalsten Ausdruck.
Das Chaotische und Widersprüchliche der Situation, die gesteigerte Simultaneität des Geschehens führt zu einem hohen Spannungsgrad des Gedichts. Lyrische Formen wie Hymnus, Bänkelsang oder Chanson scheinen geeignet, das neue Zeitgefühl mitteilbar zu machen. Der Vergnügungstaumel, der breite bürgerliche Schichten mit der zeitweiligen Stabilisierung der Verhältnisse Mitte der zwanziger Jahre erfaßt, steigert den Lebensrhythmus der Stadt. Die weitere Ausdehnung der Großstädte, revolutionierende Möglichkeiten der Architektur und des Bauens, zunehmende Motorisierung des Verkehrs, neue Formen der Nachrichtenübermittlung, Massenwirksamkeit von Presse, Film und Radio usw. erweitern den Vorstellungskreis und aktivieren das Existenzbewußtsein der Bewohner. Der Dichter versucht einzufangen, was die Oberfläche der „neuen Zeit“ ausmacht: die Fülle und Farbigkeit, die Rasanz, das Schreiende und Plakative des Daseins in der Großstadt. Kino, Varieté, Jazz, Sechstagerennen, Stadtbahn, Reklame usw. sind bevorzugte Themen und Sujets dieser Dichtung.
Der ständige Wechsel der Erscheinungen, die Unruhe und Nervosität der menschlichen Existenz teilt sich dem Gedicht auch äußerlich mit. Die Lyrik gerät in Gefahr, den einzelnen, sein Antlitz und sein Anliegen aus den Augen zu verlieren; vor dem Individuum breitet sich die chaotische Vielfalt einer Dingwelt, die es verwirrt und verführt. Das Massenhafte in seiner Buntheit und Faszination nährt die Illusion von einer Welt voller unbegrenzter Seinsmöglichkeiten, aber es verstärkt zugleich das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Alfred Döblin, einer der bedeutenden Gestalter des Phänomens der modernen Großstadt, schreibt 1928:
In den Rayon der Literatur ist das Kino eingedrungen, die Zeitungen sind groß geworden, sind das wichtigste, verbreitetste Schrifterzeugnis, sind das tägliche Brot aller Menschen. Zum Erlebnisbild der heutigen Menschen gehören ferner die Straßen, die sekündlich wechselnden Szenen auf der Straße, die Firmenschilder, der Wagenverkehr. Das Heroische, überhaupt die Wichtigkeit des Isolierten und der Einzelpersonen, ist stark zurückgetreten, überschattet von den Faktoren des Staates, der Parteien, der ökonomischen Gebilde. Manches davon war schon früher, aber jetzt ist wirklich ein Mann nicht größer als die Welle, die ihn trägt. In das Bild von heute gehört die Zusammenhanglosigkeit seines Tuns, des Daseins überhaupt, das Flatternde, Rastlose.
In den Gedichten dieser Zeit treten fast immer beide Seiten der modernen Stadtwelt in Erscheinung: Lärm, Bewegung, Dichtbeieinandersein und zugleich Leere, Einsamkeit, Grausamkeit des Lebens. Mit der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Bedrohung Ende der zwanziger Jahre verblaßt die bloße Abenteuerlichkeit. Hatten die hymnischen Gesänge eines Iwan Goll, das freche Chanson eines Walter Mehring das Zeitgefühl breiter Schichten eben noch treffend artikuliert, so scheint der elegische Ton, die melancholische Ironie eines Erich Kästner der Seelenverfassung des kleinen Mannes jetzt eher zu entsprechen.
Was eben noch hinter der bizarren Oberfläche der großen Stadt verborgen lag, die Klassenspaltung, der soziale Kampf, die Trennung der Stadt in arme und reiche Viertel, tritt mit der Wirtschaftskrise erneut übermächtig ins Bewußtsein der Dichtung. Die entwürdigenden Wohnbedingungen in den Arbeitervorstädten, das Schicksal der Arbeitslosen, die Fabrikstadt werden zum Thema lyrischer Gestaltung. Proletarische und sozialistische Schriftsteller, bisher nur vereinzelte Stimmen im Chor der deutschen Poesie, erheben nachdrücklich ihre Stimme. Das Proletariat als kommender Herrscher der Städte tritt auf den Plan. Seine Gedanken und Gefühle, Leiden und Sehnsüchte, Kämpfe und Siege werden mit elementarer Wucht vorgetragen.
Mit dem Anwachsen der revolutionären Bewegung beginnt das Politisch-Agitatorische in der Lyrik zu dominieren. Die faschistische Gefahr macht verstärkte Anstrengungen der Arbeiterklasse notwendig, der Dichter appelliert an die Solidarität der Werktätigen. Die Fabrik wird zum „Herzschlag“ der Stadt, von ihr aus „hämmert die neue Zeit“. Kämpfe, die in der einen Stadt ausgetragen werden, gehen alle Städte an. Ein neues Gemeinschaftserleben wird artikuliert, als Ausdruck solidarischer Verbundenheit, über die Grenzen des Landes hinausreichender Klassenverantwortung. Während die kapitalistische Großstadt der Agonie verfallen, vom Kampf aller gegen alle zerrissen ist, beginnt sich das Bild der neuen sozialistischen Stadt zu konturieren. Bertolt Brecht, der den „Verschollenen Ruhm der Riesenstadt New York“ beschreibt, liefert zugleich das Gegenbild, indem er die „Inbesitznahme der großen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft“ und damit die neuen Formen menschlichen Zusammenlebens im sozialistischen Gemeinwesen feiert.
In dem Maße jedoch, da die Großstadt vom Proletariat und vom Sozialismus erobert wird, wächst der Haß der Feinde auf die Stadt. Die offizielle Dichtung im faschistischen Deutschland kennt Großstadtlyrik im eigentlichen Sinne nicht mehr. Die Naziideologie brandmarkt und verbietet jede Literatur, die die Lebensverhältnisse und die sozialen Probleme in der Stadt zum Gegenstand ihrer Darstellung macht. Alles Weltoffene und Gesellschaftskritische ist als „Asphaltliteratur“ unter Strafe gestellt. Mit der humanistischen Literatur ist der großstädtische, weltbürgerliche, internationalistische Geist der Dichtung ins Exil gegangen. Was in dem Deutschland der Jahre von 1933 bis 1945 als Lyrik noch ernstgenommen sein will, beschränkt sich auf private Bezirke und den Bereich der Natur. Nur im Untergrund und folglich unveröffentlicht wie bei Gertrud Kolmar etwa entstehen Gedichte, in denen die Stadt, einst Hort der Freiheit und der Freizügigkeit, sich wieder ins Mittelalterliche verkehrt und zum Ghetto und Kerker wird.
Die Stadt im faschistischen Deutschland ist von Terror und Furcht beherrscht. Aber sie bleibt Zufluchtsort der Verfolgten und Gejagten, Zentrum eines zähen, nie ganz verlöschenden Widerstands. Die antifaschistischen Schriftsteller tragen das Bild einer politisch, moralisch und zuletzt im wörtlichen Sinne sich verdunkelnden Stadt in die Fremde. Viele kommen nicht los von den grauenhaften Erlebnissen des Verfolgtseins und der Anonymität des Untergrunds. Die Erfahrungen auf der Flucht, in fernen Städten werden von der Erinnerung an die heimatlichen Straßen bedrängt. Als die Vertriebenen gezwungen sind, sich recht und schlecht in der Fremde einzurichten, gewinnt die Exilstadt Eigenleben, wird zur zweiten Heimat: Moskau, London, New York, Los Angeles. Die Dichtung dieser Jahre ist erfüllt von Trauer und Verzweiflung über die Entwicklung in Deutschland, aber auch von Haß, aufklärerischem Wollen und kämpferischem Enthusiasmus. Der Kampf der Interbrigaden in den Städten Spaniens, der Kampf der Partisanen gegen die deutschen Okkupanten verdrängt die Stimmungen der Resignation. Gebrauchslyrik und dichterischer Feuilletonismus treten unter dem Eindruck der neuen Erfahrungen zurück. Lyrische Genres wie Sonett und Ballade werden nutzbar gemacht und geben dem Großstadtbild dieser Jahre eine andere räumliche Tiefe.
Die Zerschlagung des Faschismus in Deutschland, der totale Bankrott einer ganzen gesellschaftlichen Epoche, die Zerstörung der großen Städte stellt die Literatur vor entscheidende Alternativen. Großstädtisches Leben im hergebrachten Sinne gibt es nicht mehr, das Stadtthema, wo es aufgenommen wird, impliziert die Frage nach Bewältigung der Trümmer und der politischen und moralischen Hinterlassenschaft, die Frage nach dem Woher und Wohin. Eine lange, an Höhepunkten reiche Entwicklung ist in ihrer Kontinuität gestört, zwölf Jahre Blut-und-Boden-Dichtung, mystische Heldenlyrik bleiben nicht ohne Folgen für künftige dichterische Bemühungen. Viele Erfahrungen und Sachverhalte sind verwischt, in Vergessenheit geraten, haben eine bösartige Nebenbedeutung erhalten, nicht weniges muß neu begonnen, neu durchdacht und erforscht werden. Eine wichtige Voraussetzung, die Naivität und Unbefangenheit der Welt gegenüber, scheint verlorengegangen. Die faschistischen Vernichtungslager, die zerbombten Städte, die amerikanischen Atombombenabwürfe haben alle Dinge unendlich schwieriger gemacht.
Die Dichtung im Osten des Landes, antifaschistische und sozialistische Traditionen fortführend, zeigt von Anfang an eine andere Tonart, als sie der sogenannte „Kahlschlag“ in der westdeutschen Literatur aufweist. Aus dem Heroismus des Kampfes gegen den Faschismus bezieht sie die Kraft, ein sichtbares Ziel zu markieren. Der Appell zum Neubeginn, der Impuls für das Neue geht von der Stadt aus, von denen, die aus den Städten vertrieben wurden, die sich in den Städten verborgen halten mußten. „Die Stadt ist die Erste. / Die Stadt fängt an. / Die Stadt beginnt. / Die Stadt ist der Stein“, heißt es bei Günter Kunert. Die große Stadt, Geburtsstätte der Arbeiterbewegung, ist Keimzelle der neuen Entwicklung; sie schafft die materiellen und geistigen Voraussetzungen für ein neues Leben. Indem die Stadt Rechenschaft hält mit ihrer kriegerischen Vergangenheit, wird sie sich neuer Gefahren bewußt und besinnt sich auf die besten schöpferischen Kräfte.
Daseinsfreude beginnt sich zu regen, die Stadt gewinnt ihre Farbe zurück.
Da hat die stille Straße
So tief vom Frieden geträumt –
Daß an allen Häusern
Ein Lächeln erschien.
Ein menschenfreundlicher, selbstbewußt planender, kritischer Geist bemächtigt sich der Stadt. Mit dem Schöpfertum der von Furcht und Ausbeutung befreiten Arbeit tritt ein Lebensbewußtsein hervor, das mit der Beseitigung der Trümmer der Vergangenheit auch die alten Formen menschlichen Zusammenlebens zu überwinden bestrebt ist. Schon hat sich die Stadt ihre „Wunder“ und ihre Poesie zurückerobert: die Liebe, die Kinder, die Träume und den Mond über der Stadt.
Dichtung und Stadt sind eine neue Gemeinsamkeit eingegangen, beide jung und von hohem Anspruch erfüllt. Eine unruhig forschende dichterische Jugend, mit feinem Gespür für jeden Impuls und jede wirkliche Veränderung, allem Gestrigen, jeder Schablone widerstrebend, versucht eine Bildwelt zu schaffen, die dem neuen Weltbild entspricht. Leidenschaftlich beteiligt an allen inneren Regungen der Stadt, allen äußeren Veränderungen der Stadtlandschaft, hat sie die dunklen Bilder der Vergangenheit immer vor Augen, richtet sie den Blick stets über die Gegenwart hinaus. Wo sich eine verlogene Idylle etablieren will, wird sie höhnisch, unnachsichtig abgetan. Eine Lyrik entsteht, die verhaltener, sensibler geworden ist, die von einem Stadterlebnis ausgeht, das klare Linien überschaubare Verhältnisse vorfindet, das den Rhythmus der riesigen Bauplätze, der Werkhallen, des Alltags der arbeitenden Menschen in sich trägt. Neue Traditionslinien lassen sich nachzeichnen, von Becher, Brecht oder Majakowski her, fast vergessene Gattungen wie das Poem werden in die dichterischen Bemühungen einbezogen, um dem Atem dieser Zeit Stimme zu geben, um das Schicksal des einzelnen im Spiegel der kollektiven Erfahrungen gestalten zu können.
In der westdeutschen Literatur ist die demokratische Linie in der Gestaltung moderner Lebensprobleme von Anfang an nur bedingt wirksam. Der Dichter gräbt nach den Quellen, die vom Expressionismus in den Surrealismus und andere Kunstrichtungen eingeflossen sind, oder versucht in kahler Landschaft neue Sachlichkeit zu begründen. Oft variierte Themen wie Einsamkeit und Entfremdung werden zeitgemäß beleuchtet. Wieder steht die „Jugend der Städte“ nur auf den „Balkonen des Lebens“, wieder hält die „Hure Großstadt“ den einzelnen „in ihren weichen und verderbten Armen“. Der Gefahr der Entpolitisierung und Reduzierung des Großstadtsujets auf den bloß privaten Bereich sind manche Dichter nicht entgangen. Walter Höllerer empfiehlt den Lyrikern „das scharfe Anblenden der Nähe, das zu einer offenen Ferne hinreißt, und das Aushalten von Spannungen“. Eine sogenannte Citylyrik wird begründet, aus der die soziale Problematik weitgehend verdrängt ist.
Erst mit dem hektischen wirtschaftlichen Aufstieg, dem Wiedererstarken der ökonomischen Macht der Konzerne und des Staates beginnt in der Lyrik wieder ein politisches Gewissen zu schlagen. Aber der direkte Angriff ist wegen des Fehlens einer organisierten Gegenkraft nur selten möglich. Die dichterische Attacke richtet sich gegen Erscheinungen der „Konsumgesellschaft“, gegen Auswüchse, Auswirkungen im Leben des einzelnen. Obwohl Hunger und Armut in den großen Städten nicht mehr eine solche Rolle spielen wie ehemals, sind Symptome der Entfremdung, der „Frustration“ und der existentiellen Not verstärkt wirksam. Das Gedicht wird zum Spiegel der Absichten und Methoden der herrschenden Klasse, jede spontane, unliebsame Regung abzufangen und in ihre Gesellschaft zu integrieren. Es reflektiert Unbehagen und Ekel an dieser Gesellschaft und den Widerstand der Betroffenen. Der Dichter muß die Rolle der Massenmedien, das Reklameunwesen, das klischierte, präfabrizierte Denken und Sprechen kritisch durchleuchten, dieses ganze „Leben aus zweiter Hand“, dem die Bewohner der kapitalistischen Großstadt heute unterworfen sind. Er muß den Punkt zu finden trachten, von dem aus die moderne Stadtwelt wieder durchschaubar gemacht und Statik, pointillierter Tiefsinn und Zynismus Bennscher Prägung überwunden werden können. Die Warnrufe vor Kriegsgefahr und restaurativer Entwicklung, die sich auf Grund der wirtschaftlichen und sozialen Widersprüche verstärken, gehen aus von den großen Städten. Hier finden die Protestdemonstrationen statt, die Streiks und Märsche der Atomkriegsgegner, hier kann die „heimatlose Linke“ in der westdeutschen Literatur wieder festen Boden unter die Füße bekommen.
Dem Bild der von quälenden Dissonanzen erfüllten kapitalistischen Großstadt stellt der sozialistische Dichter das Bild eines planvoll errichteten, menschlich organisierten Gemeinwesens gegenüber. Die neue Stadt hält Abenteuer und Entdeckungen bereit, die im Wagemut und in der Kühnheit ihrer Erbauer begründet sind. Das Antlitz der Stadt mag teilweise noch unfertig, das Leben ihrer Bewohner beengt erscheinen. Es gibt Irrwege, Schwierigkeiten, die aus der Spaltung des Landes resultieren, aus der schweren Last der Vergangenheit. Aber in der Artikulation der Schwierigkeiten zeichnet sich ihre Überwindung ab. Die große Stadt ist voller Erwartung und weit geöffnet für Kommendes. Im lyrischen Bekenntnis des sozialistischen Schriftstellers erfüllen sich die Träume und Hoffnungen der arbeitenden Menschen auf die sozialistische Stadt der Zukunft, die Gegenwart zu werden beginnt.
Fritz Hofmann, Nachwort
Die Gedichte wurden ausgewählt aus einer Überfülle von Material, das nach historischen und thematischen Gesichtspunkten zu ordnen war. Die Anordnung der Gedichte ist im wesentlichen chronologisch. Die Zeiträume von 1885–1910, 1910–1914, 1914–1918, 1918–1933, 1933–1945, 1945–1967 bilden großen Rahmen, in sich zum Teil wieder nach besonderen Motiv-Komplexen gegliedert. Es lag nicht in der Absicht der Herausgeber, Vollständigkeit erreichen zu wollen oder eine der Gesamtbedeutung der einzelnen Dichter entsprechende Proportionalität zu wahren. Kritische Leser mögen das eine oder andere Gedicht vermissen, Autoren von Rang zu wenig vertreten oder gar nicht berücksichtigt finden oder umgekehrt manche der aufgenommenen Gedichte für deplaciert halten. Ausgewählt wurde unter dem speziellen Gesichtspunkt der „Großstadtlyrik“, soweit diese Bestimmung faßbar und in den einzelnen Sujets nachweisbar ist. Dabei erwiesen sich bestimmte Autoren als ausgesprochen „großstädtische“ Dichter, deren Werk exemplarische Bedeutung besitzt und hier entsprechend vertreten ist. Andererseits durfte aus dokumentarischen Gründen eine Reihe von Arbeiten nicht fehlen, weil in ihnen bestimmte neue Aspekte des Großstadterlebnisses zum erstenmal in der deutschen Literatur sichtbar werden. Entscheidend letzten Endes war die Verwertbarkeit im Sinne der Gesamtkonzeption und der Stellenwert der Gedichte innerhalb der Komposition des Bandes. Bei den Quellennachweisen haben wir uns auf das Nötigste beschränkt. Verlage und Rechtsträger sind nur auf ausdrücklichen Wunsch genannt worden. Zu besonderem Dank sind wir der Deutschen Fotothek Dresden und dem Kupferstichkabinett Berlin verpflichtet, die uns bei der Beschaffung des Bildmaterials beispielhaft unterstützt haben.
Fritz Hofmann
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