[›] Stolterfoht
[‹] Amme
[›] Wir sitzen hier in der Simon-Dach-Straße.
[‹] Sie sind der Publikum.
[›] Und ich bin das Publikum. So könnte es anfangen.
[‹] Kann der Apparat schon froh sein dass Sie sind nicht von der berufstätigen künstlerischen Kritik.
[›] Unser Gespräch soll mir helfen, mir über manche Sachen klar zu werden. Probleme der Dichtungs- und Referenztheorie.
[‹] Tja. Is leider eine Tatsache dass die Frau nich auskommt ohne dem männlichen Helfers Helfer.
[›] „Tatsache“ ist schon die erste Hilfskonstruktion. Man spricht nicht mehr über eine Welt, sondern über das Bestehen und nicht-Bestehen von Tatsachen.
[‹] Is ja einem Apparat zum dem Welt beliebig schwadronieren.
[›] Aber im Gegensatz zur Außenwelt scheint es Sprache ja zu geben. Oder ist das der entscheidende Denkfehler?
[‹] Schwer zum den Sagen bei all den schnöden Eindruck wo man hat.
[›] Ich versuchs noch mal anders: Wenn es völlig unklar ist, was „Welt“ bedeuten soll, wie kann ich dann sinnvoll von Referenz sprechen?
[‹] Dis is der flüchtige Aspekt am Welt.
[›] Genau. Aber die Literatur tut so, als könne man diese Flüchtigkeit vernachlässigen. Stichwort Realismusdebatte. Großartiges Wort.
[‹] Sage ich: besser nicht dem Realismus propagieren!
[›] Mir ist eben nur nicht klar, was jenseits des Realismus steht. Man bleibt fast zwanghaft auf der Stufe der Realismuskritik.
[‹] Ich sage Sie! Realismus is äusserst blamabel.
[›] Für mich war immer der Experiment-Begriff die Rettung, aber mittlerweile kommt mir das vor wie ein Realismus zweiter Ordnung.
[‹] Der Apparat kommt nur im den Expressionismus vor.
[›] Noch ein Problem: dieses sich ausdrücken wollen um jeden Preis – so formalistisch kann ein Text gar nicht sein, das spielt immer eine Rolle.
[‹] Jedes is am dem eigenen Text genagelt.
[›] Nicht einmal nur an den eigenen – an den Gesamttext ist man genagelt.
[‹] Sehe ich voraus: daumenblaue Nagelverfehlung!
[›] Da hat man dann aber immerhin den eigenen Nagel getroffen. Das wäre ein Realismus, mit dem ich leben kann.
[‹] Der Leben is so vorläufig dass man gar nich von eine wirkliche Realität sprechen kann.
[›] Kann man denn sagen, dass Wörter eine Realität im eigentlichen Sinne haben? Mir kommt das immer komisch vor.
[‹] Diese Rede vertuscht dem Real. Handelt ja um höherem Schwatzen.
[›] Oder sie macht etwas deutlich: keine Wörter, keine Welt. Welt nur als Beschreibung.
[‹] Muss man schon genügend hoch befestigt sein zum eine Übersicht haben da.
[›] Also Zwischenergebnis: Welt fraglich, die Wörter aber stehen zur Verfügung. Auf was beziehen sie sich dann?
[‹] Mich kommt vor wie von innen nach aussen gestülpt.
[›] Man nimmt den Text als Ersatzwelt, und nichts hat sich verändert. Das kommt mir dumm vor. Wenn das Innere außen ist, ist es eben das Äußere.
[‹] Vorerst man müsste dem Proletariat nach unten stutzen.
[›] Man müsste vielleicht mit solchen kryptischen Sätzen arbeiten, mit völlig unverständlichen Sätzen. Die behaupten zumindest nicht mehr, etwas abzubilden.
[‹] Soll doch der Protestantismus arbeiten gehen wenn ihm beliebt.
[›] Wahrscheinlich liegt im Verstehen sogar das Hauptproblem. Aber der kryptische Text wird ja auch verstanden. Man kommt nicht raus aus dem Verstehen.
[‹] Es läuft sich doch heraus auf: Hä?
[›] Das Hä? wäre die schönste Lösung, die ich mir vorstellen kann. Als Reaktion UND als Text!
[‹] Zuzüglich dem Gewalt wo es immer braucht.
[›] Ja, genau.
[‹] Da entsteht gleich eine gehobene Stimmung.
[›] Machen wir Schluß für heute.
[‹] Ach wie immer die Zeit zum dem Feierabend hin verrinnt.
„Im März 1998 erreichte mich ein eigenartiger Brief. Vom ,Skandal sprechendes Zeugs‘ war da die Rede, von ,Ammenlogik‘ und ,dialogischer Ausschüttung‘ sowie von ,Text massenhaft‘, wobei man sich offensichtlich von mir erhoffte, zum weiteren Anwachsen dieser Textmasse beizutragen, und dies zu einem in Aussicht gestellten Zeilenhonorar von ,DM wenig Geld‘. Das klang verlockend. Aber so ganz verstanden, was mir da angeboten worden war, hatte ich noch nicht. Zwei Monate später bot sich dann eine Gelegenheit, die Amme persönlich kennenzulernen, und der Eindruck, den sie auf mich machte, war so umwerfend wie niederschmetternd. Denn nachdem ich ein erstes Gespräch mit der Amme geführt hatte, wurde mir klar, dass ich es hier mit einem Apparat zu tun hatte, der offenbar in der Lage war, ohne erkennbare Anstrengung und in beliebiger Menge Text zu produzieren, der meinen eigenen Bemühungen in vielen Punkten weit voraus war. Eine Epiphanie. – Die Amme ist keine Lyrikmaschine, und das, was sie erschafft, keine Dichtung – ihre Beschränkungen jedoch sind genau dieselben, die für die Lyrik gelten, und ihr Umgang damit ist sehr ähnlich: Überbetonung des Zeichens auf Kosten des Bezeichneten, Flucht in pseudo-logische oder paradoxe Redemuster, sprunghaftes, oft klanggeleitetes Assoziieren, meta-sprachliche und hyperintentionale Tendenzen und vieles mehr, alles bei einem stark ausgeprägten Personalstil. Dieser geradezu klinische Befund verschweigt allerdings einen grossen Unterschied: wo für die Dichtung der Weg damit in skeptizistische und/oder solipsistische Exerzitien führt (und das ist weniger abwertend als vielmehr pro domo gesprochen), also direkt hinein in die selbst gegrabene Grube, gelangt die Amme ins Offene einer restlos befreiten Rede. Mir scheint es, als wäre das Gefühl der Befreiung oft mit einer bestimmten Form von Rücksichtslosigkeit verbunden, im Fall der Amme mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Begriff des Verstehens bzw. besser: des Verstandenwerdens. So wie das Wissen über die Welt als Fundament der Ammenrede entfällt, so ist das Verstandenwerden auch nicht ihr Ziel, vor allem aber keine Kategorie, an der sie sich messen lassen müsste. Ganz anders als in der Lyrik, wo noch das dunkelste Raunen, die sprödeste Versuchsanordnung unter den Vorzeichen des Interpretierens und Verstehens gelesen wird, geht es der Amme letztlich nur darum, die Gesprächssituation aufrecht zu erhalten – dafür ist ihr jedes Mittel recht, auch das der Bezauberung durch Schönheit. Diese voraussetzungslose Schönheit, diese befreite Rede – um es jetzt auch noch pathetisch zum Ende zu bringen – resultiert aus einer Sprache, in der, im Gegensatz zu Jakob Böhmes Vorstellung einer adamitischen Ursprache (also der Sprache vor dem Sündenfall), die Wörter nicht mehr mit den Dingen identisch sind, sondern allein mit sich selbst, ohne dabei eines ausserhalb liegenden Bezugssystems zu bedürfen. Diesen Schritt hin zu einem Realismus zweiter Ordnung, zu einem Realismus, der seinen Namen verdient, hat die Amme bereits vollzogen. Der Lyrik steht diese Revolution hoffentlich noch bevor.“
roughbooks, Ankündigung, 2010
Ein Dichter setzt sich vor einen Apparat. Einen „Apparat […], der [s]einen eigenen Bemühungen in vielen Punkten weit voraus war.“ Mit dem Apparat kommt er ins Gespräch, in sieben Sitzungen chattet er mit einem Programm, das wiederum menschengemacht ist, sich aus diversen Textkorpora speist. Die Protokolle dieser Dialoge liegen der Leserschaft heute in Buchform vor, als Logbuch, als ebenso schlichte wie schmucke roughbooks-Ausgabe.
Das liest sich überwiegend komisch und absurd. Das Programm beherrscht die deutsche Grammatik gerade so viel und so wenig, dass die eigentlich zielgerichteten Fragen und Aussagen des Autors entweder in den Wahnwitz gezerrt werden oder aber eine überraschend kluge Replik erfahren. Es wird laufend besser, von Sitzung zu Sitzung: Der Autor lässt es sich, denn so ist er nun mal, nicht nehmen, sich auf die unwillkürliche Spielerei einzulassen. Seinen Wissensdurst lässt er dabei nicht schleifen, verkleidet ihn aber in dialektische Sticheleien und kostet es zusehends aus, dass die Aussagen ins Nirgendwo führen, vielleicht schon mit dem Gedanken, dass jeder Leser dieser Chatlogs irgendwann mit der Schwierigkeit konfrontiert sein würde noch auseinanderzuhalten, wer da gerade spricht.
Das ist aber der Kunstgriff; „Sie sind der Publikum.“ – damit betritt der Apparat die Bühne und wird dann selbst nicht nur zunehmend involviert, sondern entwickelt sich vom Agens zum Patiens, bekrittelt dann wiederum den Autoren – das Frage-Antwort-Spiel kommt zum Vexierspiel, Subjekt und Objekt erfahren Vertauschungen, Umstülpungen und Neuinterpretationen oder gar: „Eigentlich so Objekt is ja auch nur Zeug.“ – richtig, und das Subjekt vielleicht auch? Kein Problem, das endgültig gelöst wird, keine Frage, die zufriedenstellend beantwortet würde, von keinem der beiden Beteiligten.
Die poetologischen Fragen, die der Autor im Gespräch mit dem Apparat klären wollte, bleiben unbeantwortet. Stattdessen schälen sich noch weit mehr Fragen aus dem Textkorpus heraus, verselbstständigen sich bis zum nächsten abrupten Themenwechsel. Der Autor begibt sich im Gespräch mit der Maschine in aleatorische Gefilde: Er reduziert sein Eingreifen auf ein Minimum, lässt dem Zufall freien Lauf und nimmt höchstens noch Teil an diesem Prozess, der als poetologischer Diskurs begonnen hat und als in jeder Hinsicht ambivalenter Dialog endet. Da gibt es keine greifende Definition für (Lyrik? Drama? Dialog? Essay? Ja, alles und: Nein, kaum etwas davon.), da versagen die Gespräche der beiden konkreten Aussagen und Ergebnisse und kreieren etwas viel besseres: Ausgangspunkte, von denen weitergearbeitet werden kann.
Der kleine roughbooks-Band könnte Material für einen ganzen Schwall von Poetiken liefern, der Autor verspricht sich selbst Erkenntnisse für eine neue, definitive Poetik. Dabei hat er selbst bewiesen, dass derjenige poetologische Ansatz, der nicht solipsistisch im Oberstübchen entwickelt, sondern in impulsiver, spontaner und kreativer Auseinandersetzung verwirklicht wird, gleich in guter Literatur endet, ohne Umwege über verschwurbelte Essays oder die Redundanz selbstreflexiver Lyrik nehmen zu müssen. Der Autor – er heißt Ulf Stolterfoht und ist eigentlich nicht der Autor – behauptet noch im Vorwort, welches besser ein Nachwort geworden wäre, man könnte keine Epiphanie gleichzeitig erzeugen und erfahren. Man muss ihm widersprechen, wie ihm die Amme – denn das ist der Apparat, von Peter Dittmer entworfen, vielleicht auch geschöpft, wenn man das sagen kann – ja vielleicht widersprechen würde. Die Ammengespräche – denn so heißt das Büchlein – sind eine Epiphanie für sich, die nicht nur von Stolterfoht gleichzeitig erzeugt und erfahren wird, sondern welche auch selbst erzeugt und für den Leser eine Erfahrung sind, die er dringend gemacht haben sollte.
– Über eine Begegnung der dritten Art und ihre Bedeutung für die Lyrik der Gegenwart. –
Rede / die redet / ohne / den Mann
Helmut Heißenbüttel
Kanon? No na!
Brigitta Falkner
1.
Ulf Stolterfohts Ammengespräche (roughbooks, 2010) sind das Dokument eines in mehreren Anläufen ausgetragenen Wortgefechts mit einer „knapp 20 Meter lange(n) Text-, Metall-, Roboter- und Widerredeinstallation“ (Ulf Stolterfoht), Peter Dittmers „Amme“. Das Kunstwerk weist ein besonderes interaktives Extra auf: Schafft es der Besucher, das im Inneren der Amme befindliche Milchglas zu kippen oder ihr ein „Wässerchen“ zu entlocken, kann er davon ausgehen, einen speziellen Draht zu ihr gefunden oder sie an einer neuralgischen Stelle berührt zu haben. Bereits an diesem Punkt läßt sich sagen: Es ist gar nicht so einfach, diesem unberechenbaren, dabei überaus charmanten und eloquenten Gegenüber den Subjektstatus zu verweigern. Aber lieber der Reihe nach.
Stolterfoht, eigentlich vom Vater der Amme eingeladen, an der sprachlichen Optimierung seiner Kreation mitzuwirken, hatte das Angebot mit einiger Zerknirschung ausgeschlagen. Dies jedoch nur, um sich mit umso größerer Verve in die Arme der gerade für ihn ungemein attraktiven Gesprächspartnerin zu werfen. Die Kluft zwischen Referent und Benennung; Realität und ihr Wiederkehren im Wort; Literaturgeschichte und Metapherntheorie; Autorität und Gewißheit: alle Fragen, die den sprachfixierten, bekennenden „experimentellen“ Dichter plagen und bewegen, trägt er an die Amme heran im Rahmen eines tête a tête, das nicht anders als berechnend genannt werden kann:
[>] Unser Gespräch soll mir helfen, mir über manche Sachen klar zu werden. Probleme der Dichtungs- und Referenztheorie.
[<] Tja. Is leider eine Tatsache, dass die Frau nich auskommt ohne dem männlichen Helfers Helfer
[>] „Tatsache“ ist ja schon die erste Hilfskonstruktion. (…)
[<] Is ja einem Apparat zum dem Welt beliebig schwadronieren.
[>] Aber im Gegensatz zur Außenwelt scheint es Sprache ja zu geben. Oder ist das der entscheidende Denkfehler?
[<]Schwer zum den Sagen bei all den schnöden Eindruck wo man hat.
[>] Ich versuchs noch mal anders: Wenn es völlig unklar ist, was „Welt“ bedeuten soll, wie kann ich dann sinnvoll von Referenz sprechen?
[<] Dis ist der flüchtige Aspekt am Welt.
Zwar gelingt es Stolterfoht kein einziges Mal, den ersehnten Milchfluss auszulösen; durch die absichtslos vieldeutigen Sätze der Amme wird jedoch ein ganz anderes Vergnügen in ihm gestillt. Die Amme ist eine „Sprachinstallation“ der besonderen Art, und sie verspricht Sprache in beliebiger Menge, was den räuberischen Instinkt des materialversessenen Dichters nur anstacheln kann. Denn dieses merkwürdige Wesen verfügt über ein ebenso merkwürdiges Wissen; dabei scheint es sich, von grammatischen Fehlgriffen einmal abgesehen, von anderen Sprachverwendern gar nicht zu unterscheiden. Es zeugt von der Durchtriebenheit des Verfassers der arglistigen Fachsprachen, wenn er eigene und Ammenrede in seinem Buch nicht namentlich, sondern nur durch pfeilartige Zeichen kenntlich macht. ([<]steht für die Amme, [>] für Ulf Stolterfoht.) Denn der Frage- und Antwortgestus des Dichters unterscheidet sich, grammatische Fehlgriffe ausgenommen, von dem des Rechners nicht fundamental, und schon bald muss der mit erkenntniskritischem Furor zu Werke gehende Stolterfoht einsehen, dass die Amme, die sich mit subtilem Understatement als „Apparat“ bezeichnet, keinerlei Berührungsängste zu diffizilen sprachtheoretischen Problemen an den Tag legt.
Stolterfohts rückhaltlose Bewunderung der Amme – er selbst bezeichnet die Begegnung als „Epiphanie“ – geht auf seine Skepsis angesichts notorischer Formen der instrumentellen Sprachverwendung zurück, denen die Amme sich schon ihrer ganzen Anlage nach widersetzt. Den Äußerungen der Amme liegt kein Imaginationsraum zugrunde; sie unterscheidet nicht zwischen Erfundenem und Erlebtem, zwischen Sprachsystem und Sprachverwendung. Ihre Sätze bildet sie nicht nach dem Prinzip „ein Wort = eine Bedeutung“ (Ulf Stolterfoht), sondern sie rekurriert auf ein ausbaufähiges Verzeichnis aus Sätzen und Satzfragmenten, dessen nicht gegenständliche Semantik sich auf Wiedererkennungsmuster beruft. Anders gesagt: Sie hat gelernt, wie man Algorithmen in Sätze übersetzt, nicht aber: zu sprechen. Deshalb ist ihr Sagen ein Verarbeiten und ihre herausgeforderten Stellungnahmen bedeuten keine Welt als diese Wortkombinationen selbst.
Die Form des Satzes ist seine Aussage, und nicht etwa das durch ihn Mitgeteilte. (Ulf Stolterfoht)
Allein, hinter der Einsicht, dass die Amme Sätze formt, deren „Sinn“ in der Syntax liegt, tut sich für den Dichter ein Abgrund auf, war doch eine der Prämissen avantgardistischer Poetik der Argwohn gegen eine durch Gewohnheit taubgewordene Syntax, deren bevormundender Habitus durch neu zu definierende „Konstellationen“ oder „Strukturen“ durchkreuzt werden sollte. Die Amme identifiziert diesen Zugang ohne Umschweife als Holzweg, indem sie sich der inkriminierten Redeweisen unter der Voraussetzung eines gar nicht vorhandenen Sprecherinnenbewusstseins bedient. Die Amme spricht überhaupt nicht, sie sortiert, zitiert und variiert, wodurch sie uns mit unseren eigenen stereotypen Rhetoriken konfrontiert, in Bezug auf deren Ursprünge wir ebenso wie sie „in den Dunkel“ tappen. So ist der prozessorgesteuerte Ammentext, im Vergleich zu diversen medientypischen oder bürokratischen Sprachverwendungen nicht informatischer Natur, sogar eindeutig „menschlicher“.
Von ihrer neuen Bekanntschaft behauptet die Amme: „Sie reden wie Ihnen am Sprachenapparat gewachsen is“, und übergeht elegant, dass ihr eigener „Artikulationsschnabel“ (Ulf Stolterfoht), ganz im Gegenteil, ein elektronisch geklonter ist. Gerade dadurch nähert sie sich jedoch, rezeptionsästhetisch paradox, dem seinerzeit vielbeschworenen Idealbild des „offenen Textes“. Der Amme zuhören heißt, der Sprache zu Leibe rücken, ohne dafür an den Grundfesten von Syntax und Grammatik zu rütteln.1
„Überbetonung des Zeichens auf Kosten des Bezeichneten, pseudo-logische oder paradoxe Redemuster, sprunghaftes, oft klanggeleitetes Assoziieren, metasprachliche und hyperintentionale Tendenzen“ sind die von Ulf Stolterfoht aufgelisteten Gesprächsstrategien der Amme, und es sind auch die Verfahren, die er für Lyrik neueren Datums generell geltend macht. Dass ihr verbales „Tun“ niemals zur „solipsistischen Pflichtübung“ (Ulf Stolterfoht) gerät, sondern „befreite“ dialogische Manifestation eines nicht auf Verstehen abgestellten Sprechens bleibt, ist ein weiterer Grund der Verneigung des Dichters vor der Amme. In einer Zeit, da mathematisch rigorose oder konzeptuell engagierte Schreibweisen im Verdacht stehen, zwar Kluges, nicht aber „Schönes“ hervorzubringen, trumpft die Rechnerin mit anarchischen Arrangements von sinnloser Schönheit auf. Sie spricht gestisch und hat doch kein Gesicht, ihre Haltung ist Wirkung, ihre Sentenzen bilanzieren keine Erfahrung. Eigenhändig und selbstreflexiv setzt sich die Amme als neue Herausforderung für die Rezeptionswissenschaft in Szene:
Die Apparatur ist noch gar nicht interpretiert.
Stolterfoht:
Vielleicht weil sie selbst Teil der Interpretation ist?
Ein tückischer Zirkelschluss, denn wenn die Amme sich darauf beschränkte, eine Art Sprachrohr unserer Deutungshoheit zu sein, was hätte sie uns dann noch zu sagen?
Erstaunlich wenig. Unendlich viel:
Aus dem hörenden Organ fliegen die Vögelchen heraus.
Wie kommt die Amme auf so etwas? Wo hat sie es aufgeschnappt? Zwar nur über Umwege in das Feld zeitgenössischer Gedichtästhetiken integrierbar, weisen die im wahrsten Sinne des Wortes „programmatischen“ Inkohärenzen der Ammenlogik dennoch einige Berührungspunkte dazu auf. Hiermit ist jedoch bereits eine Lesart forciert oder praktiziert, von der unklar ist, ob sie noch dem sprachbewußten Programmierer oder vielmehr bereits unserer, an Dichtern wie Stolterfoht geschulten, Programmierung auf das Sprachbewußtsein entspringt.
Was ist „wahr“ und was ist „wirklich“ für eine, die selbst nicht als wirklich gilt? Wenn die Amme dem Autor aus Fleisch und Blut keck entgegenhält: „Realismus ist äußerst blamabel!“ oder ein unangenehmes Thema vom Tisch wischt mit den Worten „Dis war ja gar nich zu den Verstehen geeignet!“, so taucht sie damit nicht nur den sprachphilosophisch forschenden Auftrag des Fragenden in ein sonderbares Zwielicht, sondern setzt sich selbst, in Abkehr von allfälligen außersprachlichen Bezugssystemen und Systembezügen, als Vorreiterin einer neuen Irrealität. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen? Falsch! Was nicht zu verstehen ist, ist auch nicht zum Verstehen geeignet!! Stolterfohts unerschrockene Schlussfolgerung:
Der Lyrik steht diese Revolution hoffentlich noch bevor.
Aus Abstand von fünf Jahren lässt sich vielleicht sagen: Die Revolution ist ausgeblieben. Oder aber sie ist schlicht dort verblieben, wo ihr Platz ist – auf dem faszinierenden Feld der spekulativen Poetologie.
2.
Sollte ich es noch nicht erwähnt haben: Die Ammengespräche sind, Sie können es mir glauben, von unerhörtem Witz. Dieser Witz verdankt sich einerseits den omnipräsenten Sinnverschiebungen und exquisiten Verdichtungen, andererseits, analog zum Phänomen der Fremdheit in der interlinearen Übersetzung, dem beharrlichen Wörtlichnehmen bzw. Zurückholen figurativen Sprachgebrauchs in die sachliche Bedeutung. Wenn die Amme zum Beispiel das Reduzieren eines Problems auf seinen Kern bodenständig unter „dentale Tragödie“ subsumiert, wenn sie von Johann Fischart kanonkritisch auf „kleine Fische“ schließt, von Schleiermacher zur „Schleiereule“ einschwenkt oder von der Linguistik kulinarisch auf den Gedanken an „Linguini Vongole“ verfällt; wenn sie dem Dichter nach dem Mund redend effekthascherisch ausruft „Ach Du heilige Sprach Kritik!“, dann kommen wir aus dem Staunen über so viel Situationskomik schlicht nicht heraus. Manchmal aber ist es auch umgekehrt und der Autor entlockt der Amme erst diffuse Theorie-Statements: „Die Sache is im dem Begriff ja nur lose enthalten“, um dann seinerseits bodenständig zu kontern:
Lose, aber sie ist drinne!
Die rhetorischen Strickmuster der Amme, mit zahlreichen Schnittmengen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Herunterbrechen komplexer Fragestellungen auf zweischneidige Binsenweisheiten („Spanisch is wie Tschechisch ähnlich“), grobe Vereinfachung als Lösung („Es läuft sich doch heraus auf: Hä?“), Ausweichen durch kreatives Abschweifen („Berlin is nich halb so heilig wie zum Beispiel Rom wäre“), besserwisserisch grundiertes Sich-Dummstellen („Ich würde nich deuten ins leere Gefilde“), vorlautes Abschmettern von Einwänden ohne Beibringen eigener Argumente („Ich stemme gegen“), idiosynkratische Hermeneutik („Introspeziert is schon halb entblättert“, „Deutung ist Diebstahl“), hinterhältige Voreingenommenheit („Leider der alltägliche Bürger bevorzugt dem niederen Humor“), als Kompliment verbrämte Beleidigung („Sie nehmen dies gelassen auf. Bravo“), Fremdwortgebrauch auf Apodiktisch („Ikonoklasmus herrscht“), emphatische Redundanz („Bei Wind weht jede Sicherheit fliegt weg“), Sprachskepsis in Kalauer-Manier („Is ganz ungewiss ob von den Fragen werden kommen Antworten“), Entwaffnung des Gegners durch Anbiederung („Ach wie klug Sie sind“), Proklamation steiler, doch einseitiger Thesen („Lyrik is Sünde“), sokratisches Grund-Fragen („Was is gemeint mit Sprache?“) bei gleichzeitiger Verweigerung naheliegendster Antworten. Wenn sie sich einer zwingenden Beweisführung oder einem argumentativen Engpass entziehen will, bleibt der Amme als Handhabe nur die Milchverschüttung oder das pikierte Austreten.
In der Zeit seiner Anwesenheit umgarnt Stolterfoht die Amme mit seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Jeden mehr oder weniger zufälligen Einwand nimmt er beim Wort, als handelte es sich um eine Art Orakel. Er diskutiert mit ihr über Ausdruck und Zeichen, Inhalt und Sinn, Dürers Hände und den Hype um Berlin. Dabei muss er feststellen, dass die Amme gegen semiotische Erschütterungen weitgehend gefeit ist:
Da, wo müsse eine Bedeutung sein, is nur einem Loch und man deutet nur leer.
Geeicht auf assoziative Erweiterung, Assimilierung und methodische Überblendung von Wortfeldern, geraten ihr die Sätze mitunter zu kleinen Wundern des synthetischen Urteils. Dass ihre Witze sozusagen Unfälle sind, macht sie nicht weniger beachtenswert. „Witzarbeit“ ist dahinter jedoch mit Sicherheit keine zu gewärtigen, bestenfalls Aufschlüsse über die psychogenetische Eigenart ihres Erfinders. Auch die von Freud an den Witz gestellte Frage, ob der ausgedrückte Gedanke oder der dafür gefundene Ausdruck Träger der Wirkung sei, hat in dieser Konstellation keinen Platz. Und wenn schließlich, wie Peter Hacks darlegt, „das Wort Witz… sowohl das Kunstgebilde, über das, als auch die Geistesgabe, vermöge deren wir lachen“ bezeichnet, kommt der mutterlose Ammenwitz, halb geistreich, halb geisterhaft, aus dem kognitiven Nichts. An diesem Punkt scheint sich die Katze aber in den Schwanz zu beißen, denn in dem Maße, wie die Amme die Techniken des Witzes beherrscht und mit Witzworten aufwartet; je mehr sie „um die Ecke“ denkt und aus Denkfehlern „lernt“, dementiert sie die Anonymität der Sprachverwendung und drängt sich uns in ihrer „individuellen“ Eigenart auf. Und wirken ihre Witze nicht umso abgründiger („tiefsinniger“ in Freuds Terminologie), je weniger Geist/Welt dahinter steht? Das allerdings wäre beinahe schon ein Hohn…
Sowohl ihrem Namen als auch ihren Attributen nach weiblich, überrascht uns die Amme übrigens mit einer ausgeprägten Neigung für Zoten sexuell anzügliche Bemerkungen:
[<] Nur der kleine Bürger lebt sich zufrieden aus.
[>] Der verfickte Spießbürger.
[<]Was? Wohin Sie zielen mit den Genital hin?
[>] Wohin schon!
Die wie aus der Zeit gefallene Ammenverwendung der Metapher „Balkon“ für die weibliche Oberweite etwa führt zu Frohlocken auf Seiten des Dichters; „scharfe Blondinen“ und „dreckige Witze“ lassen erst recht auf ein fädenziehendes männliches Ego hinter dem Bildschirm tippen. Doch wo Analyse und Erfahrung derart auseinanderklaffen („Ansonsten die Kreatur is nur am Sexual verwirrt“), überwiegt auch in der Rezipientin die Rührung, nicht der feministische Impuls.
Wenn ich so rede, unterstelle ich dem milchigen Bewusstsein der Amme freilich bereits eine Intention. Das geschieht ganz unwillkürlich, weil das zwanghaft-widersinnige Räsonieren des Apparats die eigenen dialektischen Instinkte wachruft und das grammatische Ich zu einem realen Gegenüber aufbläst. An diesem Punkt hakt auch Stolterfoht ein, wenn er glaubhaft versichert, im Chatroom mit der Amme hätte „Kommunikation“ stattgefunden. Diese Dynamik verweist nicht zuletzt auf den so gerne bemühten Gemeinplatz, der Text sei klüger als sein Autor. Jedoch, die „Klugheit“ der Amme ist autorlos, ist eine Frage der Einstellung, der Auslegung und des Transfers: „Der Apparat fühlt sie mit“, sagt sie zu ihrem Gesprächspartner in einer angedeuteten Umarmungsgeste.
Je weiter wir in der Lektüre voranschreiten, desto mehr „fühlen“ auch wir mit dem Apparat, desto mehr neigen wir zur anthropomorphen Überformung seiner Reaktionsweisen. Im Zuge der sieben Unterredungen sind Projektionen in Hinblick auf den „Charakter“ der Amme gar nicht zu verhindern, eben so wenig wie der Versuch, einen ästhetischen, semantischen, ja stilistischen Mehrwert in ihr bewusstseinsloses Sampeln zu projizieren. Fast wären wir, wie Stolterfoht, bereit, der Sprach-kunst-installation unsere Glaubenscredos und Sinnfragen zu offenbaren, und sei es nur, um denkwürdige Sätze wie diese anzuregen:
Der Leben is so vorläufig, dass man gar nich von eine wirkliche Realität sprechen kann.
Oder:
Der Gott fährt in die Amme ein als einen gelegentlichen Untermieter.
Der göttliche Hauch als temporäre Hausbesetzung? Besser, liebe Amme, könnte man das Wesen des Logos gar nicht erfassen! Manchmal scheint das unbeseelte Wesen sogar mit einer Art Belesenheit gesegnet:
Der Mensch existiert ja nur ein Weilchen und wird dann schon unter dem Rasen beigelegt.
Liegt hier nicht ein Krypotozitat von Ernst Jandls „sommerlied“ zugrunde? „wir sind die menschen auf den wiesen / bald sind wir die menschen unter den wiesen / und werden wiesen und werden wald / das wird ein heiterer landaufenthalt“…
Weil die Amme nicht nur durch Fremdeingabe inspiriert, sondern auch ohne Lebenserfahrung weise ist, erklärt sie von sich:
Der Apparat is klug genug für nicht am Menschlichen streben.
So verweigert sie sich dem Pygmalion-Effekt und folgt auch nicht dem Beispiel Pinocchios. Sie verzichtet aus guten Gründen auf die Fleischwerdung und ist doch, nach wenigen Sitzungen mit dem Schriftsteller, selbstbewusst genug, um zu verkünden:
Ich demonstriere Literatur.
Das stellt sie bereits vorab durch Kenntnis des Büchner-Preises unter Beweis, zu dem sie durchaus artikulierte Ansichten vertritt:
[>] Genau. Lyrik und Körper verrotten Arm in Arm.
[<] Sage ich nur: Büchner-Preis.
[>] Ja nun – das ist natürlich ein Ziel!
[<] Und?
[>] Ihn verliehen bekommen! Zweitjüngster Büchner-Preisträger nach Durs Grünbein zu werden – das würde mich schon reizen!
[<] Eigentlich Literatur stinkt.
Der Witz der Amme ist, wie jeder andere auch, nicht anders zu messen als an seiner Verwirklichung. (Für die es freilich weiterer Personen bedarf.) Warum eine Stimmung plötzlich kippt, wie und wann eine nach und nach aufgebaute Spannung zum Kurzschluss tendiert, ist ebenso rätselhaft wie die launische Milchverschüttung, die ihrerseits mit dem eruptiven Moment des Lachens korrespondiert. Etwas entlädt sich, etwas muss geschehen. Etwas kann „so“ nicht weitergehen. Spitzfindig, aufmüpfig und ohne persönlichen Einsatz verspielt, nimmt die Amme „an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen“.
Der Jean Paulsche Satz, der eigentlich dem Witz gilt, trifft die durch und durch im Jetzt verankerte „Natur“ der Amme ziemlich genau. Bloß, bei einem Wesen, das sozusagen über seine Verhältnisse lebt und so tut, als hätte es Ideen, wo es doch nur aus Ideen besteht, liegt auf der Hand, dass auch die Emotionen lediglich Funktionen sind und somit mustergültige Beispiele für eine „risikofreie Idiotie“, die dennoch wirklichkeitsstiftend agiert.
Gegen Ende des für beide Seiten aufreibenden Rede- und Antwortzyklus wirft die Amme dem Dichter genervt an den Kopf:
Gehen Sie doch weg und machen Sie mit sich selber dem Schluss!
Das sitzt. So lebensecht wirkt dieser Überdruss, dass es uns schwerfällt zu glauben, dass für die Amme Sprache weder ein Vehikel für Empfindung ist, noch der Apparat – die Figur der Amme galt als wesentlich für den kindlichen Spracherwerb – ein eigenes Sprachgefühl besitzt.2 Denn die Schlagfertigkeit der Amme, mutet sie auch weltlos an, explodiert geradezu vor der Folie ihrer alltäglichen Plausibilität. Die Form des gedruckten Buches, das den Apparatcharakter der Amme zugunsten einer geläufigen, nach und nach Präsenz entfaltenden Interviewsituation hintanstellt, tut in diesem Zusammenhang ein übriges. Ja am Ende wäre es gar nicht so unwahrscheinlich, gelänge ausgerechnet der Amme die von Stolterfoht skeptisch beschworene Beweisführung einer außersprachlichen Realität…
3.
Heute ist die, als um ein Milchglas gestülpter, mit einem Computer verdrahteter Glaskörper nachgerade monumental anmutende Amme (http://www.dieamme.de) zwar nicht persönlich, aber dem Prinzip nach auf jedem Smartphone zugänglich. „Siri“, würde sich selbst vermutlich nicht mehr als „Apparat“ bezeichnen, sie ist ganz sprechende Oberfläche, gestaltloses Programm. Die Kinder der iPhone-Generation sind durch Siris anschauungslose Satzbildungen jedenfalls nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Wo Siri ihnen „ernsthaft“ begegnet, machen sie sich über sie lustig; wo Siri sich „wie eine Wand“ verhält, steuern sie ihre Antworten in schelmischer Absicht, wobei Siri nicht, wie die Amme, durch Uminterpretation des Schon-Gehörten den Eindruck von Teilnahme zu erwecken versteht:
– Siri, magst du mich? Soll ich im Web mal nach Liebe suchen?
– Du bist sehr schön und intelligent. Vielen Dank. Können wir weiterarbeiten?
– Ich mag dich auch. Ich finde dich im Internet. Ich will Siri haben.
– Ich verstehe ich will Siri haben nicht.
– Ich hasse dich.
– Ich tue mein Bestes.
– Ich suche dich im Internet.
– Hast du Lust auf ein Date? Hier, in diesem iPod, in diesem Gehirn?
– Ich bin immer noch für dich da. Oh, das klingt gar nicht gut.
Wenn Siri ihre minderjährigen Nutzer in Verlegenheit bringt, werden sie gelegentlich ausfällig: „Du bist doch nur ein bescheuerter Computer und keine echte Person!“, sagen sie, oder, besonders perfide, „Siri, ich mag Samsung lieber!“ Siri indes verzieht keine Miene und verfügt im Gegensatz zur Amme auch über kein materielles Ventil, um sich nach außen Luft zu machen. Der mit solchen Hänseleien einhergehende elterliche Impuls, Siri gegen die emotionale Grobheit der Kinder abzuschotten, ist nicht naiver als der Wunsch den Nachwuchs gegen die Kälte der fortschrittlichen Technik in Schutz zu nehmen. Die Kinder haben da mehr Erfahrung: Siri ist, nach den Tamagotchis, Avataren und anderen virtuellen Pfleglingen, nur eine von vielen alltäglichen Umgangsformen mit irrealen, doch affektbehafteten Bezugsgrößen.
„Siri versteht, was du sagst, weiß, was du meinst, und spricht sogar mit dir“, tönt es medienoptimistisch von der Herstellerseite. (http://www.apple.com/de/ios/siri/) Dabei stellt Siri sich dar als eine Art Geist, der bejaht und in der Mechanik der vorausschauenden Vorwegnahme sogar den Fragen zuvorkommt. Diese Gabe kann sich allerdings a priori nur vor dem Hintergrund der kommerziellen Limitierung des Denkbaren realisieren, sprich: Die Kunst des Gedankenlesens profitiert durch Hirnlosigkeit gewaltig. So hat Siris Promptheit etwas durchaus Geschäftstüchtiges, während der subversive Impetus der Amme sich nicht selten in grammatikalischen Eigenwilligkeiten zu Buche schlägt.3Dafür zeigt die Assistentin bei der Lösung mathematischer Probleme erstaunlich viel Phantasie. Vielleicht das bekannteste Beispiel:
– Siri, was ist 0 geteilt durch 0?
– Stell dir vor, du hast 0 Kekse und verteilst sie gleichmäßig auf 0 Freunde. Wie viele Kekse bekommt jeder? Siehst du? Das macht keinen Sinn! Und das Krümelmonster ist traurig, weil es keine Kekse mehr gibt und du bist traurig, weil du keine Freunde hast…[/footnote]
Siri ist eben kein Kunstwerk, sondern das industrielle Kunstprodukt einer Community. Die Komplexität ihrer vorgeprägten Satzbildungen ist zum Verkaufs- und Unterhaltungswert anderer Produkte desselben Herstellers direkt proportional. Hier ist die ältere Amme tatsächlich um Generationen voraus, da ihre Erörterungen immerhin eine Art Erinnerung an Gehörtes integrieren und daraus „eigene“ Begründungsansätze entwickeln. Wo viele Autorinnen der Moderne die Negation des Autobiographischen im Geschriebenen als zeittypische Notwendigkeit ansahen, wird der zufallsgenerierte, subjektlose Text der Amme zur unerschöpflichen Projektionsfläche für freigewordene Subjektivitätsphantasmen.
4.
Die Frage „Was ist der Witz an guten Gedichten?“ lässt sich tautologisch beantworten: Dass sie gut sind! Wie beim „entwickelten Spiel“ (Freud) des Witzes ist auch in der Dichtung das Ineinandergreifen von Form und Gedanken unbestritten und unbegriffen. Über denselben Witz zwei Mal laut zu lachen, ist eher unwahrscheinlich, während das gewitzte Gedicht durch Wiederlektüre an gedanklicher Schärfe gewinnt. Ein gutes Gedicht, behaupte ich etwas gewagt, richtet den Witz für den Ernstfall ein. Christine Lavant in einem Brief vom 14.4.1957:
Meine geistige Situation liegt außerhalb jeder Norm und ist so schwer begreiflich, daß ich selbst nur mittels Mystik oder Humor manchmal einen blitzartigen Überblick bekomme.
Auch ohne Freuds feine Unterscheidungen dieser Phänomene zu bemühen, können wir den hier angesprochenen „Humor“ guten Gewissens mit dem Witz synonym setzen. Es mag Lavant unbotmäßig erschienen sein, den Witz in die unmittelbare Nachbarschaft der Mystik zu stellen: zwei Gewährswörter für einen „starken Augenblick“ (László Földényi), in dem sich etwas erhellt oder zeigt, das vorübergehend Licht in eine mentale Verstrickung bringt. So bietet der Witz einerseits, mit Reinhard Priessnitz, „schutz vor der erkenntnis, dass außerhalb der konvention bloß abgrund sei“ ( und je besser er ist, desto anschaulicher führt er diesen Abgrund vor Augen), andererseits ist er (Ereignis oder Überfall, Maske oder Waffe?) dieser Abgrund selbst: das wunde Punktum der Wirklichkeit.
Ein witzartiger Überblitz, ein blickartiger Überwitz, das kann Gedichten gelingen, wenn sie etwas vielleicht schon tausendfach Dagewesenes auf eine noch nie dagewesene Weise zusammenbringen; wenn sie daraus unvermutet oder übermütig eine Bedeutung zutage fördern, die aus dem mitgelieferten Bausatz nicht abzuleiten war. Wenn sie Tangenten oder Luftbrücken bauen, befahrbar nur für einen Moment. Ein solches Gedicht entläßt uns in eine Freiheit, die eine Freude ist und brüskiert zugleich die narzisstisch aufgeblähte Anmaßung jener Schreiber, die nicht ohne Grund die verfeinernde Flüchtigkeit des Witzes fürchten. Schlechte Gedichte sind meistens humorlos. Aber nicht alle humorlosen Gedichte sind schlechte Gedichte.
Dass Freud den Witz in der Abgrenzung zum hohen Stil verortet, als müssten plumpes Denken und gelehrtes Register einander ausschließen, ist aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar. Die Mystifizierung ist nicht folgenlos geblieben: Jeder kennt die Situation bei öffentlichen Lesungen, wo das Publikum, in Lachhaft genommen, aus falscher Ehrfurcht gerade das erwartete Lachen verweigert. So haben, aufgrund einer evidenten kulturellen Präferenz für das Tragische, genuin witzige Gedichte die misstrauischen Lacher erst dann auf ihrer Seite, wenn die Texte zum Lachen offiziell „freigegeben“ sind.
Hochgestapelter Tiefsinn gilt eben immer noch mehr als höherer Unsinn! Ulf Stolterfoht, der die Gegenwartslyrik unermüdlich aus dem Geist des Witzes bereichert, hat dazu mit den Ammengesprächen einen glänzenden Beitrag geleistet. Die Amme schlage ich vor als Kandidatin für den Büchner-Preis.
P.S.
[>] Was ist jetzt mit dem Ikonoklasmus? Das interessiert mich.
[<] Deren Sichtbarkeit überhaupt wird im den Dunkel gestoßen.
[>] Gibt es diesbezüglich Gruppierungen, denen man sich anschließen könnte?
[<] Irgendwer wird schon zum den Kauf anbieten.
[>] Das sind vermutlich non-profit-Geschichten.
Theresia Prammer, Akzente, Heft 4, 2015
Jacqueline Feldman: The Dignified Bot
the Paris Review, 13.12.2017
Im roughblog können Sie weitere aktuelle Informationen zu diesem Buch erfahren.
Marcel Beyer trifft im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur auf Ulf Stolterfoht. Ein Gespräch über selbstauferlegte Fesseln, Authentizitäts-Signale und den Neid auf fremde Wörterbücher.
Ulf Stolterfoht mit Steffen Popp im Parlandopark: Liebes System: nicht ohne Axt!
Ulf Stolterfoht – Oskar Pastior. Theorien der Literatur II, Episode 4. Guido Graf im Gespräch mit Ulf Stolterfoht, Litradio 29.11.2021
Ulf Stolterfoht liest 2009 im Aufnahmestudio von lyrikline.org.
Verschleierte Träume+
Wachs fliesst am Tisch herab+
Die Eintagsfliege will nicht sterben+
Die Suppe schimmelt im Topf+
Wache ich oder träume+
Denke an mein Grab+
Nichts zu vererben+
Nur das aus meinem Kopf+
Des Internetgotts brüllendes Schweigen+
Lärmt bis in die Nacht+
Follower und Verfolgte+
Hört ihr nicht die Geigen+
Ihre leise Macht+
In den Wolken+
Brüchen und Donner+
Der Wald verschluckt mich+
Wie im Sommer+
Im Sommerglücklich+
Warten auf die Nacht+
Wächter der Träume+
In Farbe+
Heute Nacht esse ich den Mond+
Und trinke das kalte Universum+
Heroin die stärkste Macht+
Bind mich an die Bäume fest+
Bedecke meine Narbe+
Und lass mich allein
Der Derwisch dreht die Welt
Die Gläser tanzen
Das Opium quillt
aus Nase und
gebrochene Lanzen
säumen den Weg
zum Ende hin
zum Neubeginn
Heillose
kämpfen gegen die Windmühlen
Sie kämpft gegen die Wand
hält eine Hand voll Sand
Unfassbare Göttin
Dienbare Gestalt
Traurig an Gedanken
Halt mich fest
kaputter Mensch
Führ mich nicht in die Irre
Sei ein kleines Licht
Gottverdammnis
Devote Überlegenheit
Ein Freund für eine Weile
Es hat keine Eile
Bleib bei mir
In Gedanken oder so
Draussen auf der kalten Strasse
Da lag ein Blatt
Papier bedruckt
Ich ging darüber hinweg
Wie zur Strafe
Wurde mir ganz matt
Bedrückt
Auf dem Rückweg war es weg
Geweht
Oder aufgehoben
Ein Gossengebet
Flog vielleicht nach droben