humpty dumpty über bezüge: wenn ich ein wort
so schwer arbeiten lasse wie „referenz“ dann
bezahl ich ihm natürlich was extra. wir wissen
was dahintersteckt. kategoriendefekt. ähnlich
gelagerte fälle sind nennschwelle unterbestimmt-
heit und übergangsneid. alles erfahrene komposita.
wie aber zarte pronomen entlohnen? nehmen wir nur
mal „ich“ in „gerade will ich die lyrik erneuern
als sämtliche muskeln beteuern sie säuern“ – da
tut sich dann natürlich nichts. entsprechend we-
nig wird bezahlt. deutlich stringenter: „heil
mir im ausgefransten dilthey-kilt“ oder wie man
sich endgültig disqualifiziert. es hat mich nie
gegeben. sehr schön. vielleicht ein spürchen zu
extrem. egal! auf diese weise macht man die welt
kahl. da man aber weiterhin wörter benutzt haben
sie die bedeutung die man ihnen zu geben beliebt.
das ist alles. bleibt schließlich die frage was
man sich unter einer semantik ohne welt vorzu-
stellen hat? wohl höchstwahrscheinlich die welt.
hat ihrem Autor begeisterte Besprechungen und einige Preise eingebracht. „In vielen Gedichten Stolterfohts“, schrieb Jörg Drews, „gibt es etwas, das ich zu den neuen Möglichkeiten der Lyrik rechnen würde: Intellektuelle Heiterkeit, die nicht einfach nur witzig-satirisch oder kulturkritisch ist, sondern mit avancierten poetischen Mitteln arbeitet und auf der Höhe der satirisierten Gegenstände ist, ähnlich wie in der erzählenden Prosa Thomas Meinecke in seinem Theorie-Szene-Roman ,Tomboy‘.“ Auch diese zweite Sammlung schlägt andere Seiten auf als die betulicher Poesie-Alben: wie Ulf Stolterfoht unter anderem Rotwelsch, die sprachlichen Macken und Tücken der Psycho- und Poetologen, die letzten Worte des Gangsterkönigs Dutch Schulz und die deutschen Anklänge so entfernter Sprachen wie Norwegisch und Finnisch kurzschließt, setzt deren Sinn- und Unsinns-Potential frei.
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2002
− Noch einmal ordentlich im Wörtermüll gewühlt: der Lyriker Ulf Stolterfoht und sein Band fachsprachen X–XVIII. −
Die Bücherhalle in Berlins Schöneberger Hauptstraße muss ein inspirierender Ort sein, zumindest für einen eigensinnigen Lyriker wie Ulf Stolterfoht. Zu Zeiten, in denen sich Dichter gerne wieder von tanzenden Schmetterlingen oder dem eigenen Hormonspiegel beflügeln lassen, holt sich Stolterfoht seinen poetischen Vollrausch im Staub der Bibliotheken. Das ist ein striktes Befolgen der alten Mallarmé-Doktrin, nach der Gedichte nicht aus Gefühlen entstehen, sondern aus Wörtern – und die kommen bekanntlich aus Büchern.
Wie schon in seinem Debüt fachsprachen I–IX bezieht der 1963 im Schwäbischen geborene Wahlberliner auch das Material für seine neue Lieferung fachsprachen X–XVIII über weite Strecken aus Fremdtext, vorzugsweise aus sprachanalytischen Theoriewerken und Wörterbüchern. Aber auch der frei flottierende Sprachmüll des Alltags, Redewendungen, Werbeschnipsel oder der Zitatenschatz abendländischer Dichtkunst: Alles ist Material, Hauptsache, es kommt als Wort daher. Und so wird denn auch manisch montiert, kompiliert und persifliert, eingedampft und angereichert, dass einem Hören und Sehen vergeht. Nicht, weil man es nicht mehr ertrüge, sondern weil einem die Textgebilde nahe legen, man möge sich, um zu folgen, schleunigst von den üblichen Lesegewohnheiten verabschieden:
murg in con-
tinuu. tiv sturz. dezastru complet. demn sem-
nalizator pulveriza bluming transfug vi popic
poetic
Was immer da auch pulverisiert wurde, es war Rumänisch – jedenfalls soweit es im Wörterbuch die muttersprachlichen Anklangsnerven eines deutschen Dichters trifft. Ähnlich elaborierten Unsinn gibt es neben Finnisch und Polnisch noch in einem halben Dutzend anderer Idiome zu lesen. Aber es geht auch verständlicher:
dem dichter ist die erfassung der welt in ihrer gliederung
zum triebziel geworden. weshalb ihm in tiefster fachlicher
versenkung die gefahrenabwehr versagt. Was er beklagt. da-
hinter lauert die leere. reim schließt sich eher aus als
ein. Gedankliches nachschaffen gerät rasch zur parodie.
auch vegetatives wäre zu nennen: darmempfindung und hang
zum akronym.
Ob sich Stolterfoht nun fremdes Vokabular anverwandelt oder die Lage der aktuellen Lyrik bilanziert, zentral bleibt ihm das eine:
ach sprache
das gefühl im mund: lyrik jahrelang mit einem
unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben.
Unaufgeräumt ist in diesen Gedichten allerdings gar nichts. In präzise vermessenen, meist drei- bis sechszeiligen Strophen organisiert Stolterfoht seinen Stoff, und es macht großen Spaß, dabei zuzusehen, wie sich die Lyrik hier über Umwege ihre eigentlichen Ausdrucksqualitäten zurückerobert. Den meisten Strophen liegt ein eher prosaischer Satzbau zugrunde, kaum eine Zeile ist metrisch gedacht, durch die raffinierte Montage aber, durch Zeilenumbrüche und die Segmentierung einzelner Satzteile, ergeben sich rhythmische Strukturen, Binnenreime und Assonanzen beinahe von selbst. Verse sind nicht gewollt, sie entwickeln sich aus einer inneren Zwangsläufigkeit. Das Ergebnis sind formal höchst geschlossene Gedichte, die völlig frei sind von poetischen Klischees.
Während Stolterfoht im ersten Band die Fachsprachen als begehbare Räume erkundete und darüber auch seine eigene Lyrik als Fachsprache entdeckte, geht es in der neuen Folge vor allem um die Bewegung selbst. Etliche Texte sind ein direkter Reflex auf den Schreibvorgang und haben somit nicht mehr (aber auch nicht weniger) zum Gegenstand als ihr eigenes Entstehen:
die angst vor dem plot und gütiger gott! betrachten sie
bloß: dieses schreiben fürs erste als gegenstandslos.
Ein Bekenntnis zur experimentellen Lyrik, zum Gedicht, das sich um „Welthaltigkeit“ nicht schert, weil es sich seiner Wörter gewiss sein kann, und das statt auf lyrische Gestimmtheit lieber auf gescheiten Humor und eine gehörige Portion Selbstironie setzt:
doch woher kommt das entweihte gedicht? aus langeweile und
honorarbedürfnis. experimentelle lyrik entsteht genau dann
wenn man nichts mehr zu schreien hat außer: hunger! aber
nichts ißt weil einem die köchin nicht gefällt. so ungefähr.
− Kein Geheimtipp mehr: Der Lyriker Ulf Stolterfoht spricht fachsprachen X–XVIII. −
Ulf Stolterfoht schreibt Sätze, keine Verse. Er gibt ihnen einen Rhythmus, und Wittgenstein wippt mit den Füßen dazu: „die lage ist der fall. gedicht was bricht.“ Die Instrumente dazwischen sind reduziert. Kommata als Ordnungshüter sind verbannt, die Sätze sind auch so erkennbar, als Grundeinheiten, „konsequent zugrunde gedacht“. Reduktion und Steigerung der Komplexität geschehen im selben Atemzug. Die Sätze, die Stolterfoht verwendet, sind von der Art, die selbst ihren Rhythmus setzen. Was auch eine Sache des Verstehens ist und der semantischen Ernüchterung. Diese Sätze, wie alle, können verstanden werden, auch wenn ihre Bestandteile und auch noch ihre Zusammenstellung nichts bedeuten.
Dass die Einzelwörter überhaupt etwas bedeuten sollen, behagt Stolterfoht nicht. Die Struktur der Sätze tritt an die Stelle der heiligen Wörter. Die Rahmen für die Wörter ersetzen, was so gern, in einem Akt der semantischen Amnesie, auf die Wörter fixiert wird. Wir denken in solchen Satz- Rahmen. Die „frame theory“, die sowohl in der Hirnforschung als auch in der Linguistik zuhause ist, gibt eine Art Resonanzboden für Stolterfohts Dichtung. Dabei geht es ihm ganz offensichtlich nicht um die dichterische Umsetzung eines Programms. Eher ist der Versuch zu beobachten – und sein schönes, sein erheiterndes, beschleunigendes, sein genaues Gelingen –, sich immun zu machen gegen die schalen und hohlen Verführungen einer Dichtungstradition, die sich in semantisch aufgeladenen Schlüsselworten aufgehoben glaubt.
Stattdessen können wir beobachten, wie Sprache sich selbst de- und wieder neu konstruiert und dazu, wie es scheint, nicht länger der modischen Metaphorik von Körpersäften bedarf. Vielfach wird von Epigonen heute der Kling’sche „Synapsenslang“, der sich einst medien- und kognitionstheoretischen Einsichten und Studien verdankte, als Aufforderung missverstanden, die alten Verschmelzungsfantasien von Körper und Geist aufzuwärmen, das „urgemütliche drüsenidyll“, wie Stolterfoht das nennt. Er fasst diese Begriffe an, mal beherzt, mal mit spitzen Fingern, und lässt sie stolpern, bringt sie in seinen rhythmischen Strukturen in Bewegung. Gegenüber dem Glauben an die Bedeutung, dieser numinosen Abstraktion, wird es in Stolterfohts munter getakteter Syntax konkret:
häufig höre ich sätze ohne genau zu verstehen
was sie bedeuten. eher was läuten wie:
wespen
erleichtern die wahrnehmung. kissen federn sie
ab könnten sie polstern. die empirische liege. sich einrichten darauf. matrizengruft.
Das – die „matrizengruft“ – könnte die Gefahr des Verfahrens andeuten, zeigt aber auch sein inneres Beben an: das fremde Material, das Stolterfoht zum Sprechen bringt, Sätze, Zitate, fremde, geheime und eben Fachsprachen. Am liebsten wäre es ihm, das Material so schichten zu können und tanzen zu lassen, dass er hinter seiner Abmischung verschwinden kann. Auch hier liegt natürlich die alte Vorstellung nahe von der Dichtung, die sich selbst schreibt, von der Autorschaft, die sich im Werk auflöst. Selten aber dürfte das mit so viel Gelassenheit vonstatten gegangen sein wie bei Ulf Stolterfoht, der entspannt auf Geheimnisse verzichtet.
Er sammelt entlegenes Material, Fachsprachen der Radiotechnik ebenso wie der Schweinemast, Rotwelsch ist eine virtuos genutzte Quelle – und er führt dieses Material vor. Er führt es vor und dementiert es im nächsten Atemzug. Dieser ständige Verkehrungseffekt wird in einen Rhythmus eingespeist, der häufig mit Binnenreimschleifen arbeitet. Das Erinnerungspotential des Materials und der Rhythmus führen die Funktionsweise des Sprechens selbst vor. Und machen zugleich deutlich, dass es – durchaus individuelle – Rhythmen gibt, die dem Sprechen bei aller Heterogenität des Materials zugrunde liegen: Taktfolgen, Melodien wie aus Kindertagen, ein Wippen und Schaukeln, als Fachsprache der Ammen. Das kann mal zart sein, oft auch heftig, „geheimes rondo kreist zentrifugale / satzwürfe ein. der dehnungscharakter mancher silben hin- / tertreibt den rhythmus. legt klappergeräusch lahm.“
Das ist nur Selbstbeschreibung des Schreibens. Man kann nur Formen darstellen, heißt das, wenn man etwas ausdrücken will. Was wiederum bedeutet, dass, auf dergleichen Intentionen zu verzichten, der Form nur gut tun kann. Der Rhythmus der Gedichte Stolterfohts hängt an der Form der Sätze, die er findet in seinem Material und schichtet, verkettet und dehnt. Die Sätze tragen die typischen Stolterfoht’schen Rhythmen schon bevor sie Material werden. Sie zitieren sich sozusagen selbst herbei. Die Auswahl aus der Welt der aufgesuchten Fachsprachen ist auch ein Verfahren, den Fallen auszuweichen, die sich unweigerlich stellen, wenn man etwas benutzt und strafft und dehnt. Was er als Quelle auswählt, verdankt sich nicht selten einem Höchstmaß an Befremdung in Lektüren, die durch die Archive und Antiquariate streunen. Die Seelenabgründe von Lexikographen werden hier in diesen Texten ihren Unruhepol finden.
Stolterfohts fachsprachen konstruieren dafür in ihren lyrischen Satzstrukturen eine Klammer, die sich nicht mehr aufbiegen lässt, aus fachsprachlichem Funktionsvokabular und seinen ungebändigten Bedeutungsmöglichkeiten. Der Terminus Fachsprache suggeriert immer die Existenz einer Normalsprache, die alltäglichen, nicht-spezialisierten Zwecken folgt. Nach Lektüre der beiden fachsprachen – Bände Ulf Stolterfohts (der erste erschien 1998, mindestens ein weiterer wird folgen) könnte man allerdings annehmen, dass es dies- oder jenseits aller Fachsprachen in der Welt keine anderen Wörter und Sätze mehr gibt: „bleibt schließlich die frage was / man sich unter einer semantik ohne welt vorzu- / stellen hat? wohl höchstwahrscheinlich die welt.“
− Ulf Stolterfoht dichtet und plündert die Fachsprachen. −
Kann ein Buchtitel noch kühler daherkommen, noch unaufgeregter? fachsprachen X–XVIII. Sachbücher, das weiss man, haben meist schlichte Titel, und in der Regel ist der Tonfall auch zwischen den Deckeln mit guten Gründen eher nüchtern. Hier handelt es sich allerdings um einen Gedichtband, nicht um ein Verzeichnis von Fachsprachen. Und schon hier, beim Titel, setzt die Überraschung ein, mit der Ulf Stolterfoht gerne operiert: Mit sichtlichem Vergnügen unterläuft er die Erwartungen, die gewisse Wörter und Wendungen wecken. Seine Gedichte haben mit Fachsprachen durchaus etwas im Sinn. Sie zehren von jenen Sprachen, die sich in bestimmten Bereichen – etwa der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Kultur – herausgebildet haben, weil dort (und jeweils nur dort) ein sprachlicher Präzisierungsbedarf besteht, dem der herkömmliche Wortschatz nicht genügen kann.
Das Vokabular, mit dem Fachsprachen operieren, wird ausserhalb des jeweiligen Anwendungsbereichs oft nicht ohne weiteres verstanden und kann darum leicht eine gewisse Attraktivität entfalten, auch weil die Fachausdrücke nur noch als Lautgebilde mit hohem, hier aber unbekanntem Informationsgehalt erscheinen. Von Paul Celan beispielsweise weiss man, dass er systematisch Wörterbücher der Biologie und der Geologie nach Wendungen durchforstete, die Ungewöhnliches bezeichnen und ungewöhnlich klingen. Viele dieser oft sehr speziellen Wendungen sind dann zu Keimzellen von Gedichten geworden.
Arrangement und Erfindung
Auch Ulf Stolterfoht sieht sich gerne in Wörterbüchern um. Aber vor allem durchkämmt er Texte, in denen die Wörter und Wendungen gewisser Fachsprachen bereits angewandt werden. Handbücher, Fachbücher, Abhandlungen. Aus ihrem Sprachmaterial, das ja eine hohe Funktionalität hat, entstehen seine Gedichte in einer kühnen Mischung von Arrangement und Erfindung, die über die blosse Collage hinausgeht und oft hinreissende Versuchsanordnungen installiert. Einen beträchtlichen Teil ihres Reizes beziehen diese Gedichte, wie schon in fachsprachen I–IX, aus dem Zusammenstoss und der Überlagerung von Wendungen und Zitaten, die der Autor unter die täuschende Decke einer strophischen Gliederung steckt – während sich der sprachliche Duktus der Verse gegen die strenge Ordnung und die damit assoziierte „Schönheit“ sträubt, welche die Terzinen oder Quartette suggerieren.
Die strenge äussere Form schärft den Blick auf die Seltsamkeiten der Sprache. Für sich genommen, lösen die sprachlichen Vorfabrikate noch wenig aus, in einigen Fällen sind sie zwar erheiternd, spannend werden sie aber erst durch die kombinatorische Fähigkeit Stolterfohts, die Sprachdokumente in neue Muster zu ordnen. Und manches verspricht allein schon dadurch vielschichtig zu werden, dass es aus dem vordergründigen Kontext herausgelöst worden ist, vor allem in Zitaten. Nicht wenige Gedichte lesen sich so, als blende sich Stolterfoht gleichsam für einige Takte in einen endlosen Textstrom ein.
Raffiniert ist das Spiel mit Assonanzen. An gewissen Stellen wird Stolterfoht regelrecht musikalisch, die Wörter scheinen alle semantischen Bezüge abzustreifen und sich dem reinen Klang zu überlassen:
,kenn‘ raunzte er schrill und trillte sich tief in den
flöhfang. der angeruderte. Der otternschleim. muck
es bald hack. als solches kämmten sie wurstwohin in
die schwärze. sachsenlatzheit. sachmatratzen. dem
dicki heftend finstert er…
Purer Klang wird der Ausflug in „benachbarte“ und dennoch fremde Sprachen: In „neun lieder in neun sprachen“ reicht das Sprachmaterial vom Norwegischen über das Dänische bis zum Polnischen, wobei vor allem die Interferenzen zwischen dem Deutschen und dem Niederländischen, wo es besonders viele „falsche Freunde“ gibt, eine erheiternde Doppeldeutigkeit erzeugen können.
Theoreme der Poesie
Das ist allerdings nur eine Seite aus dem breiten lyrischen Repertoire von Stolterfoht. Andere Beispiele belegen den Witz und die Leichtigkeit, mit welcher der Autor gegen „Absprachen“ antritt:
humpty dumpty über bezüge: wenn ich ein wort
so schwer arbeiten lasse wie ,referenz‘ dann
bezahl ich natürlich was extra. wir wissen
was dahintersteckt. kategoriendefekt. Ähnlich gelagerte fälle sind nennschwelle unterbestimmt-
heit und übergangsneid. alles erfahrene komposita.
wie aber zarte pronomen belohnen?
Im selben Gedicht heisst es später einmal: „da man aber weiterhin wörter benutzt haben / sie die bedeutung die man ihnen zu geben beliebt“. Indem er sprachliche Mechanismen freilegt und genussvoll ausweidet, verwickelt er sich auch leicht in kleine Diskurse, hält wie beiläufig, absichtsvoll absichtslos, vertrackte Fragen hin, winzige Theoreme:
„ich bin ein gedicht“ – sicher einer der verzwacktesten sätze deutschsprachiger lyrik. ein
widerborst. der ist wovon er spricht.
In diesem Band kann die „gedichtbegleitende massnahme“, wie es einmal heisst, nur aufmerksame Lektüre sein, und die wird reichlich belohnt.
− Erfülltes Begriffsleben: Ulf Stolterfoht läßt Fachsprachen dichten. −
Worte sind Dinge, und trotzdem stimmt kein Satz wirklich. Aus diesem Paradox kann man, wie Ulf Stolterfohts „fachsprachen,“ beweisen, wirksame Gedichte machen, denn es ist das Grundgeschäft der Lyrik, die Wörter für real zu nehmen. Freilich nicht so wie Jäger, Seeleute und Automechaniker, die sich ohne Reflexion eines Jargons bedienen, bei dem Wort und Sache identisch erscheinen. Denn seit Ludwig Wittgenstein wissen wir, daß selbst die elementare Verständigung zweier Bauarbeiter das Einüben einer Kultur durch Interaktion voraussetzt; unsere Sätze ähneln eingeübten Gesten, deren Bedeutung immer nur indirekt erschlossen werden kann.
Ulf Stolterfohts fachsprachen X–XVIII (der erste Band erschien 1998) machen diesen Abgrund produktiv. Seine Lyrik poetisiert nicht die gefühlte Welt – „dieses urgemütliche drüsenidyll“ –, sondern erforscht die Weltförmigkeit der Sprache. Dies aktualisiert, die poetische Kehrseite Wittgensteins, der die Sprache als Koordinatensystem der Welt zurechnete. Mit der Sprache als einem Stückchen Welt orientieren wir uns in der Welt – mit der heiklen Konsequenz, daß Wörter eben Dinge unter Dingen sind und besonderer Sorgfalt bedürfen, um auf Dinge zu verweisen. Unter diesem materialen Gesichtspunkt werden von Stolterfoht Ausschnitte aus Vokabularen leicht rhythmisiert in etwa elf bis vierzehn Silben lange Zeilen gefügt und dabei verschiedenen poetischen Verfahren der Wortverknüpfung unterzogen: Neben basaler Syntax regeln Klangähnlichkeiten, Assoziationen, Wiederholungen den Sprachfluß. Sinn wird so als Sonderfall von Sprachverwendung erfahrbar, dessen Automatismus stillgestellt werden muß, um an das wirklich wirksame Sprachgeschehen heranzukommen. Was auch Lyrikern nicht leichtfällt: „das gefühl im mund: lyrik jahrelang mit einem unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben“. Stolterfohts Kunst ist eine zutiefst menschliche, da sie die avancierteste Sprachreflexion zugleich gegen sich selbst richtet. Wenn in einem Zyklus, der psychiatrische Fachsprache durchspielt, „wörtliche epiphanien von leib- / haftigkeitscharakter“ auftauchen, so ist unentscheidbar, ob es sich dabei um die Erfüllung lyrischer Utopie oder um ein gefährliches Symptom handelt. Gleiches gilt von jenem „freiheitsgrad / den ein erfülltes begriffsleben zu bieten hat“, denn „dort löst sich / das wort allmählich vom ding und deutet jedesmal aufs neue“. Der Doppelsinn, jedesmal etwas anderes oder jedesmal das Neue zu bedeuten, schließt psychische Störung und sprachliche Entdeckungskraft kunstvoll kurz.
Mit unglaublichem Erfindungsgeist und halsbrecherischer Kühnheit verwandelt Stolterfoht in diesem Band Deutsch in Tschechisch oder Schwedisch, plündert Manuale der Stimmbildung und Annoncen für Viehschlächter-oder kontrastiert Rotwelsch und Neurowissenschaften. Zugleich betreibt Stolterfoht immer auch kritische Poetik über „ding- / wahrnehmung und sagebedarf“, um immer wieder in den absurden Kern der Dichtung vorzugtoßen:
„ich bin ein gedicht“ – sicher einer der verzwacktesten sätze der deutschspachigen lyrik.
Wer denkt und spricht eigentlich in Stolterfohts Texten, die die Zitathaftigkeit allen Sprechens so souverän belegen? Man ist versucht, mit Karl Kraus’ Wort über Nestroy zu sagen: Die Sprache mache sich in ihm Gedanken über die Dinge. Aber nach der linguistischen Wende der Philosophie ist es unendlich schwierig geworden, den Geist zu berufen, der die Buchstaben belebt und die dinghaften Wörter zu sprechenden Worten macht.
Denn es „bleibt schließlich die frage, was / man sich unter einer semantik ohne welt vorzu- / stellen hat? wohl höchstwahrscheinlich die welt“. Diese Tautologie kann man als Kapitulation der Dichtung lesen oder als deren Triumph. Mit Ulf Stolterfohts Augen gesehen, ist ein Gedicht ebensosehr eine Welt wie die Welt ein Gedicht. Und Größeres kann man von einem Lyriker weder verlangen noch sagen.
Ulf Stolterfoht debütierte 1998 mit dem Lyrikband fachsprachen I–IX, der ihm 2000 den Förderpreis zum Hans-Erich-Nossack-Preis einbrachte. Für Teile der nun bei Urs Engeler Editor vorliegenden fachsprachen X–XVIII wurde ihm 2001 der Christine-Lavant-Preis zugesprochen. Schade, daß der jeweilige Redaktionsschluß von repräsentativen Sammelbänden wie Hartungs Jahrhundertgedächtnis oder Der neue Conrady die Aufnahme von Gedichten Stolterfohts verhinderte, denn die Art und Weise, wie vielschichtig dieser mit allen Fachsprachwassern gewaschene Dichter sein katachresisches Textmaterial konstruiert, ist nicht nur anregend und reizvoll, sondern darüber hinaus wohl auch absolut einmalig. Die Lektüre dieses Work in Progress erfordert allerhöchste Konzentration und Aufgeschlossenheit für sprachliche Formungen, die mich ein wenig an Finnegans Wake von James Joyce erinnern – weltberühmt, von wenigen nur gelesen.
Theo Breuer, aus: The Breuer: Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005
fachsprachen I–IX, fachsprachen X–XVIII und fachsprachen XIX–XXVII lauten die sachlichen Titel von Ulf Stolterfohts drei Gedichtbänden.1 Jeder Band besteht aus neun nummerierten fachsprachen-Gruppen, von denen jede ihrerseits neun Einzelgedichte zählt. Jedes Gedicht ist auf genau einer Seite abgedruckt und umfasst Strophen von je gleicher Verszahl. Die Gedichte einer Neunergruppe haben denselben Aufbau, was ihre Strophen- und Verszahl betrifft. Dem einzelnen Gedicht wird innerhalb des theoretisch endlos erweiterbaren fachsprachen-Projekts sein Individualstatus genommen, in den Vordergrund gerückt wird der Ton. Ulf Stolterfohts Idiolekt besteht aus unterschiedlichen Fachsprachen. Versatzstücke aus literarischen Werken, aus fachlicher und aus Fachsprache untersuchender Literatur baut Stolterfoht so in seine Texte ein, dass zwischen Eigenentwurf und Fremdzitat nicht zu trennen ist. Das Material stammt aus Fachbüchern, etwa zu Schweinezucht, Radiotechnik oder Geologie:
wir beobachten unfrisches feinste zerreibsel
bankig-plattig oder flach abgeböscht unter
stauchraum2
Auch ein Rotwelsch-Buch kann als Ausgangspunkt dienen:
„kenn“ raunzte er schrill und trillte sich tief in den
flöhfang. der angeruderte. der ottemschleim. muck
es bald hack. als solches kämmten sie wurstwohin3
Daneben sind Übungsbücher zur Rhetorik und Fremdsprachenwörterbücher zu nennen; in folgendem Ausschnitt ein polnisches Wörterbuch:
aaaaaorder: fabularny desen plot! Ana-
liza damski daktyl-klomb. komplet ko-
deks aby one literacki topic kanonik.
typ poemat/emblemat. cyfra meta-werk
syn data – kurz: absolutny babel.4
Das polnische Deutsch klingt wie die Anweisung, eine Geschichte zu fabulieren, die ein vollständiges Buch sein soll, aber ohne Thema aus dem literarischen Kanon und nicht vom Typus Symbolgedicht; ein Metawerk, ein absolutes Babel. Das deutsch klingende Polnisch ist vom Wortschatz her korrekter als sein Pendant, ergibt allerdings zusammenhanglose Wörter (übersetzt man Wort für Wort erhält man: ,Orden: Spielfilm Muster Zaun! Damenanalyse Dattelknolle…‘). Stolterfohts fachsprachen befolgen die „order“ aus der ersten Lesart bestens. Abseits vom Sinnbildlichen thematisieren sie das Sprachmaterial und seine Machart. Linguisten und Sprachphilosophen geben die Stichwörter für poetische und poetologische Reflexionen über das Dichten.5
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader apfel als ein bild
für trug. gemeint sei aber straffer lug. verun-
glückte metapher. es findet kein bedeuten statt.
aaaaaaaaaaaaaaaaa[…] der apfel als ein bild für
bild. zwanghaftes geschachtel: er stehe dann für
die idee von x. im alltag deute er auf nichts. be-
schneiter zweig mit leerem stiel. unbehangen. und
doppelt im problem gefangen. haben wir doch bisher
bestritten der lyrische apfel hätte ein denotat in
der welt6
Die Grundlage von Stolterfohts Gedichten ist der Satz. In Prosasätzen ohne Kommata (in den fachsprachen gibt es kein einziges Komma) wird beschrieben, dass das metaphorisch aufgeladene Einzelwort, hier der „apfel“, ein problematisches Konzept ist. Dazu finden sich auch unverständliche Sätze:
selten gehörtes zum thema metapher. die roggenmuhme etwa
in ihrer darstellung des erbsenweibs.
[…]
der schotenmops als weizenbeller. Als
erbhans oder truebi. literatur als schrunst. die wachtel schließlich als wachtel.7
Der Leser kann seine Fantasie spielen lassen und wird von den Texten in vielen Hinweisen ausdrücklich davon befreit, hinter jeder Konstruktion anderes zu suchen als ein Spiel mit Lauten und eine Lust am Komischen. „absolutny babel“ sind die Gedichte dennoch nur auf den ersten Blick. Wie in jede Fachsprache kann man sich in sie einarbeiten. In einigen Gedichten, in denen Stolterfoht keine Fachsprache benutzt, schreibt er darüber, dass auch seine Lyrik eine erlernbare Fachsprache ist. Spöttisch gibt er in „dogma für dichtung“ eine Anleitung zum Dichten:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader schrieb erfolgt
am original-schauplatz (schreibtisch). elektrische be-
leuchtung stellt eine ungeheure erleichterung dar. für
umstände wie inhalt gilt: hauptsache anstrengend. be-
drängend. […]
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawo tiefere bedeu-
tung fehlt hilft reim. notfalls kanns assonanz. sprache
gerinne zum tanz. gefrorener plantsch. dafür die axt.
Das beil. Das steif geseifte weil: man welt im satz nur
probeweis zusammenstellt.8
Allmählich setzt der Leser das gewünschte Ergebnis mit dem vorliegenden Text und den anderen fachsprachen gleich. Der unregelmäßig verteilte „reim“ und die „assonanz“ sind allgegenwärtig. Typisch für die fachsprachen ist der Umgang mit Fremdmaterial auch in diesem Beispiel. Franz Kafka schreibt, ein Buch müsse „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“,9 in „dogma für dichtung“ ist das Meer zu einem Wasser geworden, in dem man sich unbeschwert vergnügt:
gefrorener plantsch. dafür die axt.
Die Dichtung legt einen Ort der Kinderspiele frei, keine Tiefe der Persönlichkeit, in die es hineinzuschauen gilt. Goethes Faust wünscht sich:
Daß ich erkenne was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau’ alle Wirkenskraft und Samen
Und tu’ nicht mehr in Worten kramen10
,bescheiden‘ kontert Stolterfoht nach derselben ,Melodie‘, dass „man welt im satz nur probeweis zusammenstellt“. Gegen die Frage nach dem Sinn in der Welt setzt er die nach der Welt in der Semantik; „in worten kramen“ ist der Zweck seiner Dichtung. Vollends verrät das lyrische Ich seinen Autor in der vierten Strophe der Dichtungsanleitung:
wie
nun die passenden formate finden? das schmalbuch-
analog-system mit minion-optik bietet bestmögliche
textwiedergabe auf allerengstem raum.11
Stolterfohts fachsprachen sind nämlich alle aus der Schrifttype Minion gesetzt. Die vielen Aussagen zur Dichtung reflektieren auch ironisch ihr eigenes Dilemma:
jeder kann heute (12. februar 2004) dichter werden. und viele
werdens dann tatsächlich. […]
überhaupt (vorausjaulendes klagen): du kannst heute lautstark
sagen „bumm“ und keine sau kümmert sich drum. setzt du dich
aber vor publikum und liest unter titel wie folgt: „grauhudl ante
schwalminger durch dircks. schom erklatanter strusebert. bie-
nemann. wranck. tran stupferich / gegenstrotz / gschnür“ – so
wirst du wut und tränen sehen. […] doch
halt: bald verleiht die staatsgewalt auch diesen zeilen gewicht.
schade. und zugleich egal. […]12
Selbstironisch karikiert Stolterfoht die Sprechweisen, die bei ihm selbst zu finden sind, und ihren gesellschaftlichen Assimilierungsprozess, den schließlich auch der „dichter“ hinnimmt. Für den Dichter der fachsprachen ist das kein Grund zur Resignation. Er kombiniert und erfindet Sprachkonstruktionen, die er auch dann noch im Gedicht zu durchschauen versucht, wenn diese Reflexion seine eigene Arbeit wieder dekonstruiert. Sebastian Kiefer lässt die Interpretation eines Stolterfoht-Gedichts13 zu dem Schluss kommen, das Gedicht demonstriere, dass man „nicht anders könne[], als fortlaufend Sinn zu produzieren“ und es sei „atemlos im Sinnschöpfen wie im Sinnvertilgen“.14 Auch diese Einsicht wird in den fachsprachen schon erklärend vorweggenommen:
echtes erstaunen: daß
selbst bei unzureichender motivierung versprechende
seme entstehen.15
Indra Noël, in Indra Noël: Sprechreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005, Lit Verlag Dr. W. Hopf, 2007
aus: „fachsprachen X“
das punktuelle zünden der welt „hängt alles
wie an lunten“ / brennt dementsprechend ab:
beziehung sprengmeister zu detonat bei soge-
nanntem bombenwetter sollt ihr den dichter
kennenlernen / die ganze wucht des bergschuhs
fühlen: er setzt statt spürest merkest. du denk-
bar vag surrogat – kaum schwund! ach sprache /
das gefühl im mund: lyrik jahrelang mit einem
unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben.
schlägt ein wie eine jambe: schwulst pop und neue
sachlichkeit – ganz sacht hat es gekracht. wo jetzt
im saal die lücke klafft saß vormals was wie
hörerschaft. tatsächlich aber dürfte dieses hei-
sere wegkauen der sätze nur einer eingeschwornen
klientel ans herz gewachsen sein. selbst die war
nicht zu halten. dann also auf autismus schalten.
ich ist wieder wer – das urgemütliche drüsen-
idyll. wo etwas anders ausgedrückt: allein das
ungeschriebene glückt / sogar das abgetriebne
schmückt. zufrieden lehnt man sich zurück. welt
findet zwischen ohren statt. der rest sei: schweigen
schmunzeln schädel öffnen um so – von jeder andern
pflicht befreit – synapsenzuwachs zu betrachten.
dann küß die hand und glückhaftes umnachten.
„Die lyrische Poesie“, so definierte einst der Philosoph und Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer in seiner Abhandlung über die „Wissenschaft des Schönen“ (1846–1857), „ist ein punktuelles Zünden der Welt im Subjecte… Die (poetische) Situation ist der Moment, wo Subjekt und Objekt sich erfassen, dies in jenem zündet, jenes dies ergreift und sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausspricht.“ Die fortdauernde Gültigkeit dieser Definition könnten die lyrischen Nachgeborenen auch heute noch bewundern – verfügten sie nur über ein hinreichendes Wissen über Gattungspoetik. Der Lyriker Ulf Stolterfoht, den man der sprachreflexiven Dichtungstradition zurechnen darf, hat sich ein Wissen um die ästhetischen Bestände bewahrt und es sich zugleich zur Profession gemacht, die alten Texte des Kanons einem ironischen Haltbarkeitstest zu unterziehen. Stolterfoht betätigt sich als Abrissarbeiter im Überbau der ästhetischen und auch außerästhetischen Diskurse, ein unsteter Wanderer zwischen den einzelnen Sprachwelten und „Fachsprachen“, der uns bei seinen vokabulären Tiefbohrungen zeigt, wie hohl und morsch die Normierungen und formalisierten Übereinkünfte in den einzelnen „Fachsprachen“ geworden sind.
Halb heiterer Dekonstruktiv, halb frivoler Parodist, reisst der Autor das Vischer-Zitat lustvoll aus seinem Text-Zusammenhang, nimmt die Metapher des „Zündens“ wörtlich und baut eine semantische Kette von Explosions-Bildern auf bis hin zum „Bombenwetter“, in dem „der Dichter“ angeblich kenntlich wird. Stolterfohts Dichtung ist immer auch zitatologisches Spiel und erlaubt sich in den einzelnen Versen, die hier mit einer gewissen Willkür zu Vierzeilern organisiert worden sind, das diskursive Register abrupt zu wechseln und vom Hegel-Schüler Vischer zum überstrapazierten Goethe-Poem „Wanderers Nachtlied“ zu springen, aus dem die hingehauchte „spürest du“-Fügung noch nachzittert. Stolterfoht schmuggelt keine emphatischen Gegenmodelle in sein ironisches Recycling von Lyrik-Definitionen ein, sondern beschränkt sich auf die Demontage der Überlieferung. Zum Konzept der lyrischen De-Montage und De-Komposition gehört es auch, dass das eitle Auftrumpfen mit Reim und Metrum ironisch konterkariert wird. Nur auf den ersten Blick dominiert hier ein lässig inszenierter Redegestus, denn im Binnenraum des Textes hat Stolterfoht auch Strategien gebundener Rede versteckt: es kommt zur reizvollen Opposition von prosaischen Sequenzen einerseits und rhythmisch geschlossenen Einheiten und Binnenreimen andererseits, die dem Gedicht seine Festigkeit geben.
Was immer an internen Bestimmungen des Dichterischen von Stolterfoht herbeizitiert wird, es verfallt der parodierenden Kritik. Auch die Prätention auf lyrische Subjektivität bleibt dem heiteren Dekonstruktivisten verdächtig; das Ich-Sagen im Gedicht ist für den Fachsprachen-Forscher offenbar der Sündenfall der modernen Poesie. Bei aller Lust an der lyrischen Demontage laboriert der Text an einer gewissen ironischen Überanstrengung, ja an Redundanzen-Überschwemmung. So gehört z.B. die Rede vom „heiseren wegkauen der sätze“ bei Dichterlesungen oder dem „Autismus“ der Zunft mittlerweile zum ironischen Standardprogramm der Lyrik-Kritik. Auch der boshafte Fingerzeig auf den unbedarften Zeitgenossen, dem die Erkenntnis zuteil wird, „lyrik jahrelang mit einem / unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben“, verdankt sich einem Lustigkeits-Überschwang, der unfreiwillig ins Kabarettistische kippt.
Michael Braun, aus Ortstermine. Wolfenbütteler Lehrstücke zum Zweiten Buch II. Herausgegeben von Hugo Dittberner in Zusammenarbeit mit Linda Anne Engelhardt und Andrea Ehlert, Wallstein Verlag, 2004
– Einführung zur Veranstaltung Die Gedichtbände des Jahres 2004 im Literaturhaus Berlin am 17. Dezember 2004. –
Jeder kann heute (12. Februar 2004) Dichter werden, schreibt der Dichter Stolterfoht, und jeder kann heute abend, am 17. Dezember 2004, hören, wie das geht oder geschieht, ringt oder klingt, ob im Lufthansahemd oder Literaturhaus, er kann Zeuge werden der konfrontativen Bedrohung: Grauhudel ante Schwalminger, und zumindest heute Abend, am 17. Dezember 2004, darf vom Dichter nicht behauptet werden: und keine Sau kümmert sich drum.
Der Dichter des Gedichts: „Journal einer Reise ins Innere der Kuh“, Ulf Stolterfoht ist: gelehrter Sophist, Seziest, Rabulist, Pastiorist, vielleicht auch Autist, bestimmt jedenfalls Autor, Erreger und Direktor heimtückischer Fachsprachen, u.a. zur Anwendung gebracht für das Besingen „der Zerstörung der Fische durch das Wasser.“
Da Stolterfoht schreibt, ist er, seiner eigenen Schlussfolgerung folgend, verleibt, was zum Glück nicht heißt, verlebt, aber dennoch so etwas wie ein fleischgewordenes Hoppla bedeutet für den Hybridgenerator.
Was soll das heißen, fragen Sie sich vielleicht: Die Schnatter, das Abspiel, der Spul. Das heißt erst einmal gar nichts anderes als das was es heißt, was dasteht, ohne Wallungswert, ohne innere Resonanz, ohne Sicht auf eine Seelenlandschaft und vielleicht sogar ohne einen Anflug von Kunst.
Stolterfoht ist ein Antielegiker…
Der Text, abgesteckt mit poetischen Eckdaten wie: optisch geschlossener Vers, querschlägiger Binnenreim, Assonanzen en masse etc. ist mehr oder weniger ein Durchgangslager für emigrierende und immigrierende Sprachen, oft mit rasantem Humor verhört, in schnellen Schnitten bewegt und insgesamt mit „etwas weniger schrunst“ als das vermeintliche Edelgedicht.
Während die gepfählten Köpfe der deutschen Geistesgeschichte, HamannHartknochHerder u.v.a. über den Textspiegel hinausragen, als hielten sie Ausschau nach einem rettenden Ufer, verrichten im Textinneren Schmalzhexen mithilfe von Terminologien unterschiedlichster Provenienz ihr sinistres Spiel der Verkettungen, Entkettungen, Aushebelungen, Zerstückelungen, Fachsprachen oder Verlachsprachen und werfen ihre Vorgriffsreime und Rückgriffsreime gegen die hermetische Bresche.
Die Schachzüge von kristallinen Vorzeigegedanken geschehen inmitten eines Bestiariums geschmeidiger Füchse, zierlicher Bienen, wehrhafter Pferde, didaktischer Bieber, jaulender Eulen und kurzweiligen Hinweisen auf Hölderlins Lyrikprogramm.
Obwohl man Stolterfoht bei Gott nicht nachsagen kann, er sei ein Naturlyriker, hat er verglichen mit den anderen Lyrikern heute abend, die alle drei jedenfalls viel eher in diese Richtung tendieren, das bei weitem höchste Tieraufkommen.
Die „masse schmeichelt sich bis hoch ins tier“ heißt das in seinem eigenen Satz. Und wer nicht weiß, was ein milchender Olm ist, dem ist eben nicht zu helfen.
Gerhard Falkner, Park, Heft 63, Juni 2009
Marcel Beyer trifft im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur auf Ulf Stolterfoht. Ein Gespräch über selbstauferlegte Fesseln, Authentizitäts-Signale und den Neid auf fremde Wörterbücher.
Ulf Stolterfoht – Fachsprachen oder die universale Sprache der Poesie im Rahmen der Frankfurter HausGespräche 2014: Nach Babel – Sprache und Sprachen.
Ulf Stolterfoht mit Steffen Popp im Parlandopark: Liebes System: nicht ohne Axt!
Ulf Stolterfoht – Oskar Pastior. Theorien der Literatur II, Episode 4. Guido Graf im Gespräch mit Ulf Stolterfoht, Litradio 29.11.2021
Ulf Stolterfoht liest 2009 im Aufnahmestudio von lyrikline.org.
Schreibe einen Kommentar