Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach

Stolterfoht-holzrauch über heslach

neun schienen sind uns gegeben. neun schienen.
aaaaaneun. die summen wie
bienen. wie hummeln. uns zu erfreun. neun schienen.
aaaaaneun. ein – sie la-
ben grade ihre augen dran: unglaublicher zwei-
aaaaaminuten-öffner, läßt jede
letter halbfett erscheinen, die hebungen aleatorisch
aaaaaverstreut, ungequält
ausgezählt, feister late beat mit noise-gate und stau.
aaaaagehalt in weiter ferne.
trotzdem fünf sterne. fünf. zwei: blaupause mit zweifelsfrei trauerstruktur.

vor allem diesem teil verdankt die schrift ihren ruf im bereich. man fand
sich. glücksgriff ohn abstrich. drei: jemand schlurft durch einen haufen
laub. da sind schon leute ertaubt. oder büßten ihr licht und verstanden es
nicht. im original auf kraftpapier. vier: hebt mit pfostenlinie psychedelisch
an, dann brüllender mann, zeit verstreicht „gleich steve reich“, heuler beult
und bleibt sich treu. fünf: führt uns ins tiefe geläuf, an den rand. du wirst

den kaulbarsch kennenlernen, eine fröschin mit laich. wem das nicht reicht,
winkt isenbart. dann – hoffentlich sitzt ihr bequem? lehnt euch zurück! naht
unter sechs: die rünstigste lyrik der schrift. automatische schreibe zeitigt wie
üblich kritik. du aber weißt, was eingefleischt heißt. analytische dichtung
gibt weiterhin die richtung an. doch wirst du sie ewiglich lieben? sag dann:
ich will! sieben: ist irgendwo zwischen vaudeville und minstrel steckenge-

blieben. so afro-angelegenheiten. eugene chadbourne hält sie für anders-
humorig. wir wissen zuwenig darüber. acht: schalldichte zelle. richtig gut
gemacht. hat uns die lage nahe gebracht. wenn das „polit“ ist – gerne! vier-
einhalb sterne. neun: apollo-programm für zwanzig. hier hat man (rückwärts
gelesen) die ganze misere in nuce: nimm eine schere, öffne und folge dem
drang. vielen kams darauf auch nicht mehr an. sie gingen den manischen gang.

 

 

 

holzrauch über heslach ist ein langes, ethnologisches Gedicht

In neun Teilen berichtet es von einem Bezirk im Süden Stuttgarts, wesentlich sprachlich errichtet, seiner Gründung und Besiedlung durch einen Stamm von Katzenartigen, ihren Kämpfen und Ritualen, ihrer Sprache, ihren Drogen und ihrer Musik, bis hin zum Untergang dieser autochthonen Population im Jahre 1979. Es ist daneben, ganz im Sinne Helmut Heißenbüttels, dessen Gedicht über die Übung zu sterben es nicht nur seinen Titel verdankt, ein „quasi-autobiographisches“ Gedicht über die gesellschaftlichen und politischen Träume, die fast zur gleichen Zeit in einem anderen Stadtteil Stuttgarts zerplatzten. Vor allem aber, schrecklich zu sagen, ist holzrauch über heslach ein Text über andere Texte – Texte von eben Helmut Heißenbüttel und Oskar Pastior, Jeremy Prynne und Emily Dickinson; Klaus Hoffer, Peter Kurzeck, Manfred Esser u.v.a.m. – dies alles „vor einem mittleren indoeuropäischen Ohr“ und unterlegt mit einer Tonspur aus John Fahey, Derek Bailey und Captain Beefheart.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2007

 

Heslach oder die ganze Welt aus Sprache

Wer sich, wie seit Jahrzehnten schon Paul Wühr, auf Johann Georg Hamann beruft, auf einen der vorgoetheschen Dichter und Dichtungstheoretiker des Sturm und Drang, der noch dicht an der Theologie gesiedelt hat, dem sollte man nachsehen, dass seine Gedichte oft auch davon sprechen, wie Gedichte zum Sprechen zu bringen sind. Selbstreferentiell nennt man das dann, und das ist beinahe ein Vorwurf wie Onanie. Doch nie spricht der Dichter Ulf Stolterfoht von seinen privaten Befindlichkeiten, aber immer – dichtend, verdichtend – als eine eigenständige Stimme aus dem Kanon seiner Großfamilie, zu der H. C. Artmann, Konrad Bayer, Otto Nebel, August Stramm, Kurt Schwitters, Cy Twombly, Dieter Roth, Helmut Heißenbüttel und natürlich der verehrte Oskar Pastior zählen, wohl auch Emily Dickinson, Gertrude Stein, der Engländer Jeremy Halvard Prynne und gewiss ein paar Musiker.
Der „erwerbslyriker und engeler-artist“ arbeitet seit elf Jahren an einem sehr variationsreichen, aber prinzipiell einheitlichen, ja ganzheitlichen Gedichtwerk, das seit 1998 im Verlag Urs Engeler Editor mit nur spärlichen Hinweisen auf den Verfasser erscheint: „fachsprachen I – IX“, „fachsprachen X – XVIII“ und „fachsprachen XIX – XXVII“ hießen lakonisch die ersten drei eng mit meist 5 bis 6- zeiligen Strophen bedruckten Bände. Der Autor wurde 1963 in Stuttgart geboren und lebt in Berlin. Er hat ein paar Preise erhalten und ist in diesem Jahr Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Mehr soll man gar nicht erfahren; Interpretationshilfen, wie man sie auf Klappentexten findet, haben Autor und Editor lange verweigert. Wer Ulf Stolterfoht kennt, weiß, dass er selbst eine Familie gegründet hat, und gelegentlich sieht man den großen, gelassenen Mann hinter einem hohen Glas Bier sitzen. Seine Augen verraten, dass er viel weiß, aber gütig, voll Nachsicht mit seinem Wissen umgeht. „Wörter“, das ist ihm klar, „fallen nicht vom himmel“, und „selbst wort werden“ – das ging nicht. Also ist dem Dichter „die erfassung der welt in ihrer gliederung zum triebziel geworden“. Fachsprachen sind das Kondensat dieser Gliederung. Stolterfohts Wörterwelt liegt ihm in der Bücherhalle der Schöneberger Hauptstraße in Berlin zu Füßen. Vermutlich fahndet er dort nach den Quellen, die er in den Nachbemerkungen zu seinen Büchern angibt. Die Quellen werden „gefleddert“, sie werden „eingearbeitet“ oder dienen als „Ausgangsmaterial“ für Erfindungen oder Neubildungen aus den der Vorsilben entkleideten Wortstämmen. Es gibt „sanfte Bezüge“ neben totalen Übernahmen.
Die genutzten Texte kommen von Hölderlin in der Edition Dieter E. Sattlers oder von Beckett, oder sie heißen schlicht: Vera Balser-Eberle, „Sprechtechnisches Übungsbuch“ und Georg Möller, „Warum formuliert man so?“ Oder sie stammen aus dem Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens und der Zeitschrift „muttersprache“, die sich der deutschen Sprachpflege verschrieben hat. So tat es Ulf Stolterfoht auf seine Weise.
Seine Montage der Fachsprachen führt zu Satzformen, die in Zeilen und Strophen rhythmisch aufgebaut werden. Damit entsteht etwas Neues, ganz und gar Poetisches, das auch dort, wo es komisch, ironisch oder satirisch klingt, immer ein Surplus bildet gegenüber schlichter Verspottung. Elegante, klingende Binnenreime verleihen vielen Zeilen den Drive. Stolterfohts Verbarien heben ab von der bloß horizontal, linear verlaufenden Versuchsanordnung der Wortfolgen. Sie gewinnen Klang und Klangraum, sie schwingen, erreichen Höhen und Tiefen, Amplituden eben, die Reihungen Raum geben.
Machen wir uns nichts vor: Diese Gestaltungskraft zeigt sich seit Jahren schon in den Understatement-Titeln der „fachsprachen“ und nicht erst in dem neuen großen Zyklus „holzrauch über heslach“, der im ersten Halbjahr 2007 in Rom entstanden ist. Dennoch tut es wohl, von Ulf Stolterfoht jetzt in eine überschaubarere, sich gleichwohl allen Zeitphänomenen öffnende Welt geführt zu werden, die man fühlen und schmecken kann, deren Drogen Muskat und Bier heißen und deren Fachsprache oder Soziolekt man zu dechiffrieren lernt. Die Sprache gewinnt nun eine freundlich-heimatliche Heslacher und Botnanger Familiarität im südlichen Stuttgart, der heutigen Südstadt. Auf der Böblinger Straße wird noch „Manisch“ oder „Katze“ gesprochen, nicht Hochdeutsch, nicht einmal Schwäbisch. Der Gegenstand des neunteiligen (durchaus hochdeutschen) Langgedichts „holzrauch über heslach“ sind die zum Sprechen erregten Kindheits- und Jugenderfahrungen des Dichters. Mit hohem Anspruch an sich selbst, aber auch nicht ohne Ironie blickt er über die Grenzen seines Milieus und postuliert im Sinne einer neuen Dichterschule: „wir jungen schwäbischen künstler dürfen jetzt nicht nach- / lassen was das verfassen ungegenständlicher lyrik betrifft“, doch fordert er nicht selbst in seinem „traktat vom widergang“ (Verlag Peter Engstler, 2005) „die rhetorik soll die schnauze halten“?
In seinem neuesten Buch hat Ulf Stolterfoht ganz gewiss ohne Verstoß gegen seine eigene Methode eine sinnliche Qualität hinzugewonnen, die ich – Ungegenständlichkeit hin oder her – eine wärmende, Empathie weckende, jedoch nie schwärmerisch werbende Konkretheit nennen möchte. Heimatdichtung ist das nicht oder etwa doch eine ironische Variante? Eher wohl ein ethnologisches Gedicht oder gar ein „autoethnographisches Gedicht“, dem der Leser verfällt, bis er irgendwo rausfliegt, weil er nichts mehr versteht. Jeder kann überall wieder neu einsteigen an den Grenzen von Heslach; die Kausalketten der Verstehensforderung gelten hier nicht. Das Heslacher Milieu, dieser Stolterfohtsche Kiez ist ein offenes System. Der Eintritt ist frei, das Buch kostet 19 Euro, sein Titel stammt nicht einmal von Stolterfoht, sondern aus Helmut Heißenbüttels „Textbuch 3“. Der lebte damals in Botnang und schrieb 1961/62 (lange vor den Erfahrungen von Stammheim) sein „Gedicht über die Übung zu sterben“. Im Heslacher Holzrauch aber ist Leben zu schnuppern, in den Wörtern hat es seine Abdrücke hinterlassen, und alles kann aufgerufen werden, auch das Apollo-Programm der NASA, das Celler Loch von 1978, die RAF und der „unterstützersumpf“. Das Leben ist enzyklopädisch.

Herbert Wiesner, Die Welt, 10.11.2007

Elaborierte Anarchie

− holzrauch über heslach: Der Lyriker Ulf Stolterfoht als Ethnograph. −

Die alteingesessenen Bewohner des Stuttgarter Stadtteils Heslach müssen wir uns als glückliche Menschen vorstellen. In Ihrer Neigung zur Renitenz lassen sich diese Helden des Eigensinns kaum von jemandem übertreffen. Zumindest in den 1970er Jahren, so suggeriert uns das neue Gedichtbuch des Ex-Heslachers und Wahl-Berliners Ulf Stolterfoht, muss sich dort eine antibürgerliche Subkultur mit ausgefallenen nonkonformistischen Ritualen gebildet haben. Der junge Heslacher nährte sich damals offenbar von revolutionären Schriften anarchosyndikalistischen Ursprungs, darüber hinaus von Free Jazz, Stechäpfeln, Tollkirschen und anderen bewusstseinserweiternden Substanzen – und nicht zuletzt von Weizenbier und experimenteller Lyrik. Was der passionierte Sprachspieler und Satz-Dekonstruktivist Stolterfoht jetzt als langes „ethnologisches Gedicht“ über eine besondere schwäbische Population vorlegt, ist weit mehr als eine poetische Liebeserklärung an seine Kindheitslandschaft. Es ist die hinreißende Inszenierung einer ästhetischen Utopie – nämlich des trotzigen Glaubens an eine Poetik des Widerstands, die sich im freien, anti-semantischen Sprechen realisiert.
In neun Kapiteln, die oftmals sehr skurrilitätsverliebt den „Clan“ der Heslacher, einen Stamm von „Katzenartigen“ umkreisen, entwirft Stolterfoht eine phantastische Geschichte der Subversion. Jedem der neun Kapitel ist als motivische Matrix ein Buch eines literarischen Modernisten oder die Tonspur eines bestimmten Jazz- oder Rock-Albums unterlegt, von denen sich die ironische Verskunst des Autors antreiben lässt. Den Grundeinfall seines sprachnärrischen Stadtteil-Porträts verdankt Stolterfoht dem Schriftsteller Manfred Esser, der 1974 den experimentell ambitionierten Roman „Ostend“ geschrieben hat, eine sprachmächtige Einkreisung des Stuttgarter Arbeiterstadtteils Ostheim.
Mit seinem semi-autobiografischen Stoff wagt Stolterfoht einen literarischen Neuanfang, der ihn über seine binnenlinguistisch inspirierten „fachsprachen“-Gedichtbücher weit hinausträgt. In diesen drei „fachsprachen“-Bänden, die von 1998 bis 2004 erschienen, ging es primär darum, durch kleine semantische Wendungen und Verschiebungen die Sprache zu entfunktionalisieren und vorwiegend als selbstreferentielles Reflexionssystem zu nutzen. In einem an abgelegener Stelle veröffentlichten Essay verwies der Autor 2006 auf die „Entsemantisierung der Kunst“ als „letztes uneingelöstes Versprechen der Moderne“. Ein autochthones lyrisches Ich, fundiert auf biografischen Daten des Autors, war in den „fachsprachen“ nicht vorstellbar.

Nun taucht aber überraschend in milder selbstironischer Zeugenschaft ein „erwerbslyriker“ auf, ausgewiesen als „engeler-artist“, dem Ende der 1970er Jahre die folgenreiche Einsicht dämmert: „für junge weiße schulverweigerer / blieben allein lyrik und improvisierte musik, um dem ghetto / zu entkommen“. Solche autobiografischen Blitzlichter werden mit einem Feuerwerk antisemantischer Satz-Kombinationen konterkariert. Zwar werden die Akteure des schwäbischen Undergrounds mit ihren Namen aufgerufen und vor allem in ihrem Kneipen-Milieu topografisch exakt verordnet. Aber sie werden in ein so dichtes Netz an intertextuellen Sprachspielen und leichthändig hingeworfenen Binnenreimen und Kalauern eingewoben, dass es eines Kryptologen bedürfte, um all die biografischen Signale zu entschlüsseln. Für seinen Heslacher Clan erfindet Stolterfoht sogar eine eigene Geheimsprache, „das Manische“, hier als ein Rotwelsch-Dialekt charakterisiert, in dem die „bilder des glücks“ ausgebrütet werden.
Nur in einem einzigen Kapitel, in dem Stolterfoht in die gastronomischen Sehnsuchtsorte der Heslacher Subversions-Community abtaucht, gerät das ethnografische Spiel arg nostalgisch. Zwischen dem „Arminstüble“, dem „Cafe Schurr“ oder der „Gaststätte Notter“ hat man offenbar viel antibürgerliches Sitzfleisch bewiesen, aber die Stolterfohtsche Sprachartistik wird bei der Rekonstruktion dieser biergestützten Meetings nicht immer beflügelt. Grandios sind jedoch die Kapitel, in denen der Autor die unglücklichen Lebensläufe von Aktivisten des bewaffneten Kampfes mit katholischen Märtyrer-Legenden überblendet und sich am Ende in die Position eines suizidalen Sprach-Gefangenen hinein imaginiert. In diesen Sequenzen führt Stolterfoht auf überwältigende Weise vor, was Lyrik als entfesselte Sprachtheorie leisten kann: „kopfhals ins ungesicherte hinein“. Wer experimentelle Lyrik bisher nur als Vorstufe zur literarischen Verkrampfung kannte, wird von der „elaborierten Anarchie“ dieses Gedichtbuchs eines Besseren belehrt.

Michael Braun, Stuttgarter Zeitung, 14.11.2007 / Badische Zeitung, 1.12.2007

Von Muskat und wackeligen Plattformen

Heslach, ein kleiner Bezirk im Süden Stuttgarts, eine einstige Arbeitervorstadt mit billigen und schlechten Wohnquartieren, ist Dreh- und Angelpunkt des neunteiligen Gedichtes Ulf Stolterfohts „holzrauch über heslach“. Der Dichter, selbst in Stuttgart geboren, zeichnet in diesem amüsanten Lang-Gedicht, angelehnt an Helmut Heissenbüttels berühmtes „Gedicht über die Übung zu sterben“, allerdings ein ganz persönliches Bild dieses Ortes.
Eingebettet im poetologischen Raum ist Stolterfohts Heslach ein Nirgendwo und Überall, eine wackelige Plattform für eine unsichere Jugend. „sozial und brach“, heißt es, „lag heslach da“ – und doch scheint genau hier ein guter Nährboden für künftige Poeten zu sein: „die jungen begannen, auf manisch zu schreiben. lyrik wie vom anderen stern.“ Stolterfoht lässt sein lyrisches Ich in einem eigenen Soziolekt über die Jugend der 70er Jahre reflektieren, über gescheiterte politische Ideale und die Krise der Literatur: „unsere sozialreformer waren damals ein / trauriger haufen, viel zu bedient, um noch als schwächelnd / durchzugehen…schlimmer die dichter: sie hatten ihre werke hochgenormt und harten des künftigen lohns. die axt lag zerhackt unterm tisch.“ Zusammen mit seinem „Clan“ sammelt das lyrische Ich Drogenerfahrungen à la Connie Kramer („wir aber lagen zuckend im gras, die dreads voll abraum und teer“), erfreut sich an den eigentümlichen Auswirkungen natürlicher Rauschmittel wie Muskat, Stechapfel oder Fliegenpilz auf das Sprachvermögen und Verhalten und erkennt zuletzt doch: „die beste droge ist ein weißes blatt.“
„Holzrauch über Heslach“ ist ein amüsantes, zugleich nostalgisches Gedicht über die eindrucksstärkste Zeit des Lebens – die Jugend. So absurd und verfremdet allerdings das unbedarfte Erleben des fiktiven „Clans“ Stolterfohts auch auf den ersten Blick erscheint, so eng ist es doch letztendlich an die Wirklichkeit gekoppelt. Denn die zahlreichen inhaltlichen Parallelen des Textes zum Leben des Dichters selbst sind nicht zufällig. Bewusst spielt Stolterfoht hier mit seiner eigenen Biografie, verpackt er in seinem durchaus als ethnologisch zu bezeichnenden Lang-Gedicht augenzwinkernd seine eigenen Jugenderfahrungen. Denn wie das lyrische Ich und dessen „Clan“, hat auch Stolterfoht seine Jugend und Selbstfindungsphase im schwäbischen Stuttgart verlebt, hat auch er in den späten 70er Jahren in jugendlichem Idealismus für Lebens- und Gesellschaftsmodelle gekämpft, die sich alsbald als Utopien entlarvten. Doch – und das zeigt Stolterfoht auf vergnüglichste Weise – egal wie banal, wie vergessen oder belächelt die Musik, die Lektüren, die Erfahrungen und Begegnungen der Jugendzeit rückblickend auch sein mögen, sie sind es, die den Dichter, exemplarisch für jeden von uns für das Leben feilen.
Stolterfohts Dichtung ist ein so absurdes wie geniales Konglomerat an Verweisen, Neologismen und Sprachartistik. In Tradition der Urväter der experimentellen Literatur fließen sprachliche wie inhaltliche Allusionen auf Texte von Samuel Beckett, Oskar Pastior, Helmut Heißenbüttel oder Peter Kurzeck ebenso in seine Dichtung ein, wie Terminologien aus einschlägigen Fachliteraturen oder Versatzstücke aus der Umgangssprache bzw. dem Jugendjargon. Ein beeindruckendes Werk und Beispiel für die lyrische Möglichkeit der spielerischen Verbindung von erstaunender Leichtigkeit und poetischer Tiefe.

Karolin Hingerle, Kulturküche Nürnberg, 16.11.2007

Zwischen Ribiselbusch und Stehbierhalle

− Ulf Stolterfohts Gedichte auf einer Achterbahnfahrt durch den schwäbischen Herbst. −

Diese Gedichte vereinen alles, was Traditionalisten moderner Lyrik gerne vorwerfen: sie scheinen formlos, ihr Inhalt wirkt auf den ersten Blick absurd unverständlich. Und auf den zweiten Blick. Auf den dritten auch. Ja, diese Gedichte sind ein Affront. Der aufrechte Kunde, der eine ganze Stange Geld dafür auf den Ladentisch legt, bekommt scheinbar nichts zurück. Nur einen riesigen chaotischen Wortsalat: „oberkünftig herles in der grand- / iche ruchekitt schefft ein nille. der hauret link.“ Wer soll da durchsteigen! Da hilft es kaum, dass der Dichter eine Übersetzung gleich nachliefert: „hier oben, / in dem großen bauernhaus, lebt ein geistesgestörter mensch. / der ist sehr böse.“ Das klingt nun wahrlich nicht nach schöner Literatur. Geistesgestört, ja, das schon eher.
Die moderne Lyrik ist vielen so verdächtig wie Zigeuner und anderes fahrendes Volk. Dabei ist dieses von jeher die natürliche Gesellschaft des Dichters, des von Ort zu Ort ziehenden, Geschichten und Sprachen sammelnden Sängers. Ulf Stolterfoht, einer der witzigsten und gewitztesten Dichter dieses jungen Jahrhunderts, hat sich nun dieser Tradition besonnen. Nach seinen drei furiosen „Fachsprachen“-Bänden ist er vom Jargon der Philosophie und Literaturtheorie zum Slang der Straße gewechselt. Mit Mitte Vierzig wagt er einen Rückblick auf die Sprache seiner Herkunft: „holzrauch über heslach“ heißt sein neuer Gedichtband.
In Heslach, seinem Herkunftsort, ein Stadtteil Stuttgarts, scheint es Ende der 70er Jahre weit aufregender zugegangen zu sein als im Berlin von heute, dem aktuellen Wohnort Stolterfohts. Auf jeden Fall kracht und scheppert, jubelt, lacht und knattert es in diesen Erinnerungs-Gedichten an allen Ecken und Enden. Vielleicht liegt es daran, dass in der Jugend alles aufregender erscheint, eher aber doch, weil in Stolterfohts Heslach in so vielen aufregenden Zungen gesprochen wird: dem Manischen, Jenischen oder Matzenbacherischen. Regionale Dialekte dies alles, und auf ihre Art auch Geheimsprachen. Ganz anders als etwa das platte Berlinerisch.
„ich will mich daran reiben. selbst anfangen zu schreiben“ heißt es am Ende von „holzrauch über heslach“, und tatsächlich begegnet man in diesem Band einem Schreiben vor dem Schreiben. Es wird in diesen Gedichten nichts „gesagt“. Und auch wenn immer wieder Umstände des Lebens im bundesrepublikanischen Schwabenland anklingen, so könnte man doch nie sagen, es ginge um LSD-Trips, um politisches Engagement, die RAF oder den Free Jazz. Man könnte nicht einmal behaupten, was sonst die letzte Rettung ist, es ginge in diesen Gedichten „um Sprache“. Eher lässt sich sagen: hier geht die Sprache. Außerdem rennt sie, stolpert und tanzt, macht erste und letzte Schritte.
„kluft löte mit luft“: häufig fungieren Reime bei Stolterfoht als Textgenerator, wie in Rap-Songs befeuert ein Reimwort das nächste. Formlos sind die sechszeiligen Strophen aus denen sich der neunteilige Gedichtzyklus zusammensetzt keineswegs, ganz im Gegenteil, sie strotzen vor Formen, probieren verschwenderisch alles aus, quellen über vor Tradition: Gleich fällt einem Oskar Pastior ein, wenn Stolterfoht Palindrome bildet: „amok/koma“. Einem Gedicht Helmut Heißenbüttels entstammt der Titel des ganzen Bandes. Ezra Pound, Johann Fischart und Johann Michael Moscherosch werden angerufen, Gertrude Stein und J.H. Prynne, die Stolterfoht kürzlich übersetzt hat, wird gedankt. Und immer wieder begegnet man Thomas Kling in diesen Versen. Auch Inger Christensen, deren „Alfabet“ sich Stolterfoht kalauernd anverwandelt: „okay, okay, die stachelbeersträucher gibt es, mag es geben, und auch den ribiselstrauch – nichts aber darüber hinaus!“
Jemand anders hätte einen Bildungsroman geschrieben. Ulf Stolterfoht setzt dem Leser dagegen die brodelnde Ursuppe seiner Jugend vor. Kein abgeklärter Rückblick, sondern ein radikaler Versuch, die damals frei werdenden Kräfte noch einmal herauf zu beschwören. Soviel immerhin lässt sich sagen: Unverkennbar spricht hier ein Mann, genauer: einer von diesen Männern, die dazu neigen, sich in Absonderliches zu verbeißen, die fast autistenhaft ihre Steckenpferde reiten. Bei Stolterfoht und seinen Heslacher Kumpanen sind die Steckenpferde Lyrik, Drogen und improvisierte Musik.
Und auch die „büdchen, kaschemmen, schwemmen, stehbierhallen“ in denen man Gleichgesinnte trifft: „zarteste lesbenge- / schwader, behauptete prager; linke glatzen, frisch konvertierte katzen, total- / versager; das gesamte manische lager, vaihinger massai und – was uns ganz / besonders freut: auch ein paar matzenbacher leut.“
Durchgeknallte Freaks eben, die high und berauscht ihre Verse schmieden und hinterher vor ihnen stehen wie der überraschte Leser vor „holzrauch über heslach“: „oft ließ das scheinbar mühe- / los erreichte den schaffer sprachlos zurück: er verstand / die eigne lyrik nicht.“ Zu verstehen, auszulegen gibt es in „holzrauch über heslach“ tatsächlich nichts. Diese Gedichte bergen kein Geheimnis. Vielmehr konfrontieren sie den Leser mit einer Überfülle: Hier schäumt die Sprache und schlägt blasen, spuckt die Erinnerungsmaschine wie ein verrückt gewordener Spielautomat unermüdlich Gedächtnismarken aus. Viel zu viel ist da, und wenn jeder sich was nimmt, bleibt immer noch was übrig. Also kräftig zugelangt!

Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung, 15.12.2007

Manische Ortserkundung

− Der Fiaker, Da Paolo und die Rebenreute: Ulf Stolterfohts Holzrauch über Heslach. −

Soll die Kunst die Wirklichkeit nachahmen? Kann man mit Sprache Wirklichkeit überhaupt abbilden? Solche Sachen. Fragen, die jahrtausendelang mal so, mal so beantwortet wurden. Ulf Stolterfoht, Jahrgang 1963, ist fast schon ängstlich darauf bedacht, dies nicht zu tun: nachahmen, nacherzählen. Sein Denken kreist um die Form, um Klänge, Rhythmen, Satzstrukturen. Er wird nicht müde, immer wieder zu sagen, dass ihn ein „antisemantischer Grundimpuls“ treibe und dazu führe, „dass die Struktur des Satzes tatsächlich zum Bedeutungsträger“ werde. Nachzulesen in den drei Bänden „fachsprachen“, die zwischen 1998 und 2004 im Verlag Urs Engeler erschienen sind, Literatur, Philosophie, Reflexionen übers Schreiben.
Und nun das. Seemannsklause, der Fiaker, Da Paolo, die Bäckerei Metzger, Rebenreute, Böblinger Straße, Schimmelhüttenweg: Heslach. Kleine Kneipen, Straßen, Läden, lauter Signaturen des Stuttgarter Südens. Es gibt welche, die sagen ethnologische Bohrungen dazu. Unternommen hat sie der in Berlin lebende Stuttgarter Dichter aus weiter Ferne. Stolterfoht lebt und arbeitet zurzeit als Stipendiat in Rom in der Villa Massimo.

Trotz all der Realvokabeln, trotz des Ich, das manchmal mitmarschiert und Selbstauskunft gibt („dichtung änderte alles, was ich als angenommen wußte“), hat Stolterfoht mit „Holzrauch über Heslach“ kein autobiografisches Gedicht geschrieben. Schon der Titel ist ein Zitat von Helmut Heißenbüttel. Und dann schleichen sich auch diese sonderbaren Wesen ein, Leguane, Blutwachteln, plötzlich befindet man sich „unter luchs. zapfen und zeder“. Es wird „manisch“ geredet (man lauscht „bunsengesumm“, erblickt „phiolen voll klaffstoff“). Es ist „eine Art Räubersprache“, wie der Dichter sagt, als er für einen kurzen Besuch in der Heimat ist und im Literaturhaus zu Gast ist und befragt von Helmut Böttiger laut über sein Schreiben nachdenkt und vorliest. Bedächtig, manchmal lauernd, manchmal im verwunderten Frageton, ironisch irritiert.
Er lässt in seinem Ton anklingen, wie fragwürdig ihm der Glaube an eine unverstellte Wahrnehmung der Welt erscheint. Man hört sein Misstrauen gegenüber einer Literatur, die vorgibt, es gäbe dieses Unbehagen nicht, man hört: er würde am liebsten jeden Satz widerrufen. Woher all dieses Autobiografische? „Ich wollte“, ruft er in heiterer Verzweiflung, „das Experimentelle nicht verraten!“ Sein Text korrigiert und entkräftet die Sorge („lass ab von zeitgenossenschaft, von eitel avantgarde“). Die strenge Form des Textes – konsequente Kleinschreibung, vier Blöcke mit je sechs Zeilen – ist ein blindes Spiel, willkürlich und, wie Stolterfoht behauptet, allein der Ästhetik geschuldet.
Es blinkt in seinem Text Reales auf, doch selbst Ortskundigen gelingt die Entschlüsselung nicht. Alle müssen sich schon an die Sprache und an Stolterfohts Rhythmusgefühl halten, den Musiker im Dichter lieben, rätseln, Zitate erkennen wollen, die er sampelt, verändert, kommentiert. Die Ingeborg-Bachmann-Zeile „In diesem Sommer blieb der Honig aus“ hat sich beim Schreiben in Rom, bei der Erinnerung an Gelesenes, unverändert hineingeschlichen. „Ja, die Bachmann. Wie mir das passieren konnte, weiß ich auch nicht mehr.“ Stolterfoht klingt, als sei ihm das peinlich, er lächelt dazu; Böttiger nickt, intoniert mit einem tiefen Lachen. Ja nun, also Bachmann, wohl eher nicht so geschätzt. Und die Wiener Gruppe, bedenkliche Miene. „Ranzig“, sagt der Moderator. Der Dichter widerspricht nicht. Dafür Helmut Heißenbüttel, Rolf Dieter Brinkmann, Max Bense: Helden.
Ein bisschen wurmt es Stolterfoht, dass er fürs Miterleben der großen Zeit der Stuttgarter Schule zu spät geboren wurde. Der Satz von der Wunschbiografie fällt; in der Literatur hat er sie verwirklicht.
Ein Wiedergänger, der ins Offene dichtet und der mit diesen konkreten Vokabeln reale Blitze in einen irritierend schönen manischen Text schleudert.

Nicole Golombek, Stuttgarter Nachrichten, 31.12.2007

Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach. Gedicht

Der Dichter Ulf Stolterfoht hat sich sein eigenes Metrum erschaffen, konsequent seit seiner ersten Veröffentlichung sieht es so aus: ein langer, in wilden, unberechenbaren Rhythmen voranschreitender Sechszeiler, der eine ungeahnte Sogwirkung entfalten kann. Jede Zeile meist mit einem Break in der Mitte, markiert durch einen Punkt. „Break“ muss man hier tatsächlich sagen, denn dieser Begriff stammt aus der Musikersprache, in die der 1963 geborene Stolterfoht hineingewachsen ist: die Sprache des Jazz, der freien Improvisation, der ihre engeren Grenzen sprengenden Rock- und Popmusik natürlich auch.
„holzrauch über heslach“ heißt sein neuester Band, er wurde jetzt mit dem Peter Huchel-Preis ausgezeichnet. Heslach ist ein Teil von Stuttgart, der sich dem bürgerlich-soignierten Ambiente dieser Stadt schon immer so weit wie möglich entzogen hat: eine Arbeitersiedlung, die regelmäßig von den Geruchsschwaden der „Stuttgarter Hofbräu“ heimgesucht wird. In „holzrauch über heslach“ tauchen immer wieder Fragmente aus früheren Epochen auf, über das achtzehnte Jahrhundert bis ins Mittelalter, autobiografischen Zuordnungen konsequent entrückt. Und dennoch schmuggelt sich dann und wann ein charakteristisches Zeitgefühl hinein, wie unversehens: für „weiße schulverweigerer“ gab es „nur lyrik und improvisierte musik, um dem ghetto zu entkommen“.
Stolterfoht hat sich früh in verschiedene Fachsprachen eingearbeitet, in Psychiatrie oder Geologie etwa, er versenkte sich in Schriften wie „Der kleine Radiotechniker“ oder Anweisungen zur Schweinezucht aus volkseigenen Betrieben der DDR. Also deklarierte er seine Lyrik ebenfalls als Fachsprache. Seine ersten Gedichtbände tragen alle den Titel „fachsprachen“ – 27 Abschnitte, unterteilt in drei Bücher. Durchdrungen von Sprachtheorie thematisiert sich die Sprache immer wieder selbst, einmal gibt sich der Text den Imperativ: „arbeit am wortschatz. Liebevolles eindringen in den sprachleib“. „holzrauch über heslach“ überrascht daher durch den unverkennbar autobiografischen Stoff. „reste von biographie: da find man dich nie“ verkündet er gleich anfangs programmatisch. Das Geschehen rings um den Ochsenplatz verdichtet sich allerdings immer wieder. Da gibt es etwa den Gegensatz zu den unerreichbaren Vaihingern oben auf dem Berg: diesseits wirbt „radio-sattler“ noch selbstbewusst mit dem Spruch „alles außer soul“, den „zentralen dogmata geschuldet: weiß, schwäbisch, pietistisch, hetero“. Jenseits jedoch, nicht zuletzt wegen der amerikanischen Kasernen, „standen illinois-massai, gurkha-regimenter“.
Allein die Namen der Wirtshäuser! Vor allem der „Gaststätte Notter“ schenkt Stolterfoht eine frenetisch anmutende Hymne. Dennoch besteht dieser Text vor allem aus anderen Texten, von der titelgebenden Heißenbüttel-Zeile bis zu einer rhythmischen Verneigung vor dem legendären „Ostend-Roman“ von Manfred Esser aus den siebziger Jahren. Stolterfoht hat die damalige „Stuttgarter Schule“ von Max Bense nun endlich literarisch nobilitiert.

Helmut Böttiger, Deutschlandradio Kultur, Buchkritik, 23.1.2008

Break und Zufall

− Ulf Stolterfoht, Lyriker des Free-Jazz und der Arbeitervororte, bekommt den Peter-Huchel-Preis.
Ort der Inspiration: Der Bihlplatz in Stuttgart-Heslach, im schwäbischen Volksmund Ochsenplatz genannt. −

„Ganz ähnlich sieht es gertrude stein. also kopfhals ins ungesicherte hinein“. Wenn Ulf Stolterfoht eine Auskunft über sein Schreiben gibt, dann diese. Und in seinem neuen Buch feiert er denn auch hemmungslos, ganz wie in alten Hymnen, die Engelstrompete und das Binsenkraut, Stechapfel, Fliegenpilz und Winden: In diesen wunderbar pflanzlichen Erscheinungsformen der Natur spürt er schwindelerregende Substanzen auf, psychedelisch stimulierende Stoffe, die das Bewusstsein auf ganz neuartig lyrische Weise erweitern. Selbst der Krokus hat es in sich: „notburga deutet den krokus als himmlischen kuß. genossen in maßen verschafft er dir apostolische phasen“.
Stolterfoht kommt es nicht unbedingt auf den Reim an. Aber er nimmt ihn gerne mal mit, eher im Vorübergehen. Er hat sich sein eigenes Metrum erschaffen, konsequent seit seiner ersten Veröffentlichung sieht es so aus: der Hexa-, Penta- und Stolterfoht-Meter, ein langer, in wilden, unberechenbaren Rhythmen voranschreitender Sechszeiler, der eine ungeahnte Sogwirkung entfalten kann. Jede Zeile meist mit einem Break in der Mitte, markiert durch einen Punkt. „Break“ muss man hier tatsächlich sagen, denn dieser Begriff stammt aus der Musikersprache, in die der 1963 geborene Stolterfoht hineingewachsen ist: die Sprache des Jazz, der freien Improvisation, der ihre engeren Grenzen sprengenden Rock- und Popmusik natürlich auch. Das Schriftbild von Stolterfohts Texten ist durch jene Sechszeiler geprägt. Wenn man ihn nach der Idee fragt, die dieser Form zugrunde liegt, lächelt er milde. „Das ist eher Zufall“, sagt er. „Irgendwie musste ich den Text ja gliedern.“
In einer kurzen Nachbemerkung zu seinem letzten Band dankt er „den gaststätten rund um die piazza bologna“ in Rom. Im Gespräch hebt er besonders die Casina Fiorita hervor: Umtost vom vierspurigen Verkehr von allen Seiten, bildet sie eine kleine unscheinbare Insel. Die Hölle dieses Lärms wird durch unvermutete Schwankungen erzeugt – plötzlich einsetzende Hup-Böen stören das Gleichmaß. „Das ist für das Schreiben am besten“, sagt der Dichter. Wenn der äußere Widerstand groß genug ist, steigt auch die Chance, sich auf einen Punkt zu konzentrieren.
Durch das Jahresstipendium der römischen Villa Massimo hat sich Stolterfoht seinen schwäbischen Ursprüngen so angenähert wie nirgendwo sonst. holzrauch über heslach heißt sein Band, er wurde jetzt mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Heslach ist ein Teil von Stuttgart, der sich dem bürgerlich-soignierten Ambiente dieser Stadt schon immer so weit wie möglich entzogen hat: eine Arbeitersiedlung, die regelmäßig von den Geruchsschwaden der Stuttgarter Hofbräu heimgesucht wird, intensiv nachschwelenden Zerfallsprodukten von Hopfen und Malz. Wenn man Ulf Stolterfoht zuhört, ist diese Herkunft unverkennbar. Eine ruhige, nahezu unantastbar scheinende Standhaftigkeit geht von ihm aus, geprägt von einer weichen, dunkel getönten Stimme. Doch die äußere Erscheinung lässt nicht unbedingt auf die Texte schließen, die dieser Mann schreibt.

In holzrauch über heslach tauchen immer wieder Fragmente aus früheren Epochen auf, über das achtzehnte Jahrhundert bis ins Mittelalter, autobiografischen Zuordnungen konsequent entrückt. Und dennoch schmuggelt sich dann und wann ein charakteristisches Zeitgefühl hinein, wie unversehens. Anfang der achtziger Jahre ist Stolterfoht, wie er erzählt, zum ersten Mal zum New-Jazz-Festival nach Moers gefahren. Im Text findet sich eine Erklärung: für „weiße schulverweigerer“ gab es „nur lyrik und improvisierte musik, um dem ghetto zu entkommen“. Die Texte, die der junge Stolterfoht schrieb, müssen so einem Geist entsprochen haben. Als er sie den Freunden zeigte, sagten die zwar etwas von einem gewissen Sound, gaben ansonsten aber an, überhaupt nichts zu verstehen. Stolterfoht, der sich einem radikalen Antisubjektivitätsprogramm verschrieben hatte, eine ästhetische Notwendigkeit angesichts des damaligen Bekenntniskults, beschloss, dies offensiv zu wenden.
Er hatte sich für seine Texte in verschiedene Fachsprachen eingearbeitet, in Psychiatrie oder Geologie etwa, er versenkte sich in Schriften wie Der kleine Radiotechniker oder Anweisungen zur Schweinezucht aus volkseigenen Betrieben der DDR. Also deklarierte er seine Lyrik ebenfalls als Fachsprache. Seine ersten Gedichtbände tragen alle den Titel fachsprachen – 27 Abschnitte, unterteilt in drei Bücher. Durchdrungen von Sprachtheorie, thematisiert sich die Sprache immer wieder selbst, einmal gibt sich der Text den Imperativ: „arbeit am wortschatz. Liebevolles eindringen in den sprachleib“.
holzrauch über heslach überrascht daher durch den unverkennbar autobiografischen Stoff. Stolterfoht will zwar keineswegs von seinen Prämissen abrücken, die Virtuosität seiner Stolterfoht-Meter übertrifft die der fachsprachen eher noch. Aber er ist selbst verblüfft über die Eigendynamik, die das Heslacher Thema entwickelte. In die komplexen Satzstrukturen, in den assoziativen Rhythmus aus Wörtern und Motiven schieben sich konkrete Erinnerungen: „reste von biographie: da find man dich nie“ verkündet er gleich anfangs programmatisch. Das Geschehen rings um den Ochsenplatz verdichtet sich allerdings immer wieder. Da gibt es etwa den Gegensatz zu den unerreichbaren Vaihingern oben auf dem Berg: Diesseits wirbt „radiosattler“ noch selbstbewusst mit dem Spruch „alles außer soul“, den „zentralen dogmata geschuldet: weiß, schwäbisch, pietistisch, hetero“. Jenseits jedoch, nicht zuletzt wegen der amerikanischen Kasernen, „standen illinois-massai, gurkha-regimenter“.
Stolterfoht brach auf, nach einer zwischenzeitlichen Durststrecke in Tübingen bis nach Berlin. Heute zaubert er selbstironisch aus dem Heslacher Lokalkolorit einen Sprachteppich, der rauschhaft durch alle Zeiten und Räume schwebt. Dabei ernährt sich dieser Text vorwiegend durch andere Texte, von der titelgebenden Heißenbüttel-Zeile über einschlägige Wirtshausnamen wie dem Arminstüble, der Weinstube Heeb und der frenetisch gefeierten Gaststätte Notter bis hin zu rhythmischen Verneigungen vor dem legendären Ostend-Roman von Manfred Esser. Dieses furiose, anarchisch-sprachkünstlerische Buch aus den siebziger Jahren war noch ein bisschen geprägt von der „Stuttgarter Schule“ Max Benses, und Stolterfoht spricht bedauernd von den paar wenigen Jahren, die ihn davon trennten, die Heroen dieser Zeit noch persönlich zu erleben. Aber dafür erscheint dieser Geist in holzrauch über heslach nun umso reiner, fast ins Zeitlose destilliert.

Helmut Böttiger, Die Zeit, 24.1.2008

Über die Herkunft

− Ulf Stolterfohts ethnografisches Gedicht holzrauch über heslach. −

Man misstraue der Idylle. Wenn die Lyriker ihre Richtungskämpfe austragen, dann ist der Dichter dem Dichter ein Wolf. Wie in der Literaturzeitschrift „Bella triste“ im letzten Sommer zu lesen war, kann das wechselseitige Unverständnis, mit dem etwa die Experimentellen den lyrischen Wirklichkeitsbeschwörern gegenüberstehen, auf schönste Weise polemisch sein. Erst der Graben zwischen den ästhetischen Überzeugungen macht diese richtig wahr. „Eines aber biege dem possum bei, wovon du abweichst, das ist / der weg“, schreibt der Lyriker Ulf Stolterfoht nicht ohne Grund in seinem jüngsten Gedichtband, „holzrauch über heslach“. Das Werk ist ein schlagender Beweis dafür, dass das lyrisch-diskursive Nachdenken über Sprache den zupackenden Realismus nicht ausschliesst.
Ulf Stolterfoht, geboren 1963 in Stuttgart, hat mit seiner bisher auf drei Bände angewachsenen Sammlung von „fachsprachen“ Furore gemacht. „Fachsprachen“ naturgemäss, unter denen nicht die Idiome der Mediziner, Juristen oder Klempner zu verstehen sind, gemeint ist die menschliche Rede als genuines Werkzeug der Weltaneignung. In diesem Sinn handelt auch sein jüngstes Buch, „holzrauch über heslach“, von Fachsprachen. Es geht um den Soziolekt einer speziellen Stuttgarter Szene und um den Stadtteil Heslach, in dem der Autor aufgewachsen ist. Das Loblied auf ein urbanes Biotop kann ironisch durch die Zeilen schallen: „oh mein heslach, mit radiofreiheit gegen null, aber / so vogelfroh, lärmend gleich lerchen und wie die staren so toll“. Oder es kommt programmatisch daher: „manxmensch betrachtet insekten. in heslach aber / sah ich es zünden aus offenem storch.“ Am Stuttgarter Stadtrand bildet das Künstlerproletariat einen Clan von sportlicher Vergnügungsfreude und hoher kreativer Intelligenz.

Blick zurück auf die siebziger Jahre
Wenn Ulf Stolterfoht zu seinen Wurzeln zurückkehrt, dann ist das eine Rückkehr in goldene siebziger Jahre. RAF, Stammheim und Deutscher Herbst? Ja schon, aber das nur am Rande. In Heslach wird politisiert und getrunken, man ist Philosoph und kennt sich aus bei Pop und Jazz. Der Heslacher als solcher ist „der muskulären tätigkeit abhold“, dafür aber gilt: „er kann / tagelang feiern, ohne es drüssig zu werden“. Schön und auch ein wenig lächerlich war die Zeit mit ihren Codes der Freiheit und den „zentralen dogmata“ verschworener Gemeinschaften: „alles ausser soul“, hiess es da, überdies neigte man „zu psalter und trünn“. Man spricht das Manische und das Matzenbacherische, die wohl eine Art regionaler Dialekte sind, und probiert schon einmal die eine oder andere Droge aus: „anschubvergiftung“ nennt Stolterfoht die Anwendung bewusstseinsverändernder Mittel wie Bilsenkraut, Brechnuss, Engelstrompete oder Krokus („genossen in massen / verschafft er dir apostolische phasen, immer am rand der absence“). So ist das unter angehenden Künstlern. „Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch, sondern durch Alkaloide“, wusste schon Gottfried Benn.
Der Holzrauch liegt über Heslach wie der Geist der Vorbilder über Stolterfohts Dichten. Der Titel des Lyrikbandes stammt von Helmut Heissenbüttel, genaugenommen aus seinem „Gedicht über die Übung zu sterben“. Klaus Hoffers Roman „Bei den Bieresch“ verdankt das Buch nicht ohne Grund sein Motto. Die von Hoffer erfundenen Monotomoi sind ein durch geheime Riten verbundener Stamm, wie er auch in Stolterfohts Buche stehen könnte.

Milieuskizze
In Stolterfohts siebziger Jahren hört man in Stuttgart auch das Echo des transatlantischen „Howl“, die Beat-Poeten vom Schlage eines Allen Ginsberg oder Jack Kerouac. Die Linien der Lyrik zieht das Buch herauf bis in die Gegenwart. Weil dieses Werk autobiografisch ist, zeigt es auch den Weg des Dichters, der ihn nicht nur durch die Gassen, Rhythmen und Riten Heslachs führt, sondern auch aus diesen heraus. Ulf Stolterfoht skizziert in den neun thematisch gegliederten Kapiteln seines Buches auf subtile Weise ein Milieu, und er spielt mit der Sprache anderer Dichter, von Oskar Pastior über Inger Christensen bis zu Emily Dickinson. Auf sie macht er sich seinen eigenen Reim. Am liebsten einen Binnenreim. Stolterfohts Zeilen lassen sich treiben zwischen schnoddrigem Slang, Bildungspartikeln und literarischem Zitat, sie finden Synkopen, die an Rap erinnern oder an Jazz.
Das ist es wohl, was auf Seite 55 steht: „blutsyntax mit eigenimpuls“. Wer der experimentellen Literatur gerne vorwirft, sie liefere eine anämische Variante der Welt, der kann sich durch Ulf Stolterfohts neuen Gedichtband vom handgreiflichen Gegenteil überzeugen lassen. „holzrauch über heslach“ ist ein grosses ethnografisches, aber auch autobiografisches Gedicht. Es überwölbt die eigene Herkunft mit einem utopischen und am Ende glücklich erreichten Ziel: dass lyrisch werde, was prosaische Vergangenheit war. Stolterfohts Heslach ist Gegenstand und Sprache zugleich.

Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 30.1.2008

Ein Wunder ist geschehen

− holzrauch über heslach kann man lesen als eine sehr private wie auch umfassend gesellschaftliche Sozialisierungslehre, als ethnologische Grabungsarbeit, als eine von Slapstick gesprenkelte Materialschlacht. Man kann es natürlich auch ganz anders lesen. Hauptsache, man liest es. −

Im Grunde ist alles gesagt. Ulf Stolterfoht erhält den diesjährigen Peter-Huchel-Preis, die höchste Auszeichnung, die einem Lyriker hierzulande zuteil werden kann, für seinen holzrauch über heslach. Was soll man da noch schreiben? Es wurde ja auch schon so viel geschrieben. Liest man sich durch die Besprechungen, Aufsätze und Meditationen, die es zu diesem Band gibt, fällt einem vor allem auf, dass Stolterfoht als der letzte lebende (und echte!) Dichtungsavantgardist aufgefasst wird. Was natürlich im gleichen Atemzug bedeutet, dass ihm Hermetik und eine unheilbare Liebe fürs Sprachspiel zugeschrieben werden. Beides nicht ganz falsch. Aber auch nur halb richtig. Oft wird die Richtung, die der Autor mit seinem neuen Buch eingeschlagen hat, fast unter den Teppich gekehrt. Das mag an einer Art Gewohnheit liegen, die sich in dem Blick eingerichtet hat, mit dem man Stolterfoht-Bücher betrachtet. Seine Fachsprachen nämlich waren durchaus als ein letztes Rütteln an jenen Pforten zu verstehen, die die Wiener (respektive die Stuttgarter) Schule und ihre Ausläufer fest hinter sich verschlossen glaubten. Nun aber liegt die Sache ein wenig anders. Und sie liegt schon im Titel anders (der sich zwar explizit Heißenbüttel verdankt, aber sei’s drum).
Mit und durch Heslach – ein Stadtbezirk Stuttgarts, zwischen Stuttgart-Mitte und Degerloch gelegen – kommt ganz ausdrücklich die Welt in Stolterfohts Gedichte, und zwar von außen, als nicht-sprachlicher Ausgangspunkt sprachlicher Arbeit. Das war zuvor nicht so. Die Fachsprachen bedeuteten geradezu paradigmatisch die Errichtung einer solipsistischen Welt in einer ganz auf sich selbst reduzierten Sprach-Sphäre (so weit eine solche Reduzierung eben möglich ist).
Nun aber ist das Wunder geschehen. Stolterfoht ist zum Erzähler geworden. Spielerisches Sprechen, sicher, das ist immer noch vorhanden, im Überfluss sogar, allerdings macht es Spaß, in dieses Sprechen hineinzulauschen, weil es sich nicht im Selbstgenuss erschöpft, sondern immer ausgreift in eine geerdete Wahrnehmung der Dinge. Die Reim- und Stablust und alles andere (man könnte ja Breuers Deutsche Metrik und Versgeschichte durchwälzen und alles haarklein nachvollziehen, was Stolterfoht da treibt) sind dem Autor also keinesfalls abhanden gekommen. Sie haben sich bloß verfeinert, indem sie sich in den Dienst einer, tja, Geschichte stellen.
Was genau in dieser Geschichte erzählt wird, steht wiederum auf einem anderen Blatt und ist – wie bei jeder guten Geschichte – nicht so leicht zu paraphrasieren. Die beobachtende und reflektierende Instanz der Gedichte – die ich einmal ganz unverwandt als Autoren-Ich bezeichnen möchte – setzt sich in einen Strom der Bilder, Erzählungen, Anekdoten und Berichte, der von Beginn an gefangen nimmt und bis zum Schluss nicht mehr loslässt. Wie ein großer Rausch gehen die Verse durch einen hindurch. Und es ist erst einmal sekundär, woher die Zitate und Anspielungen stammen, mit denen der Text so reich verziert ist (und aus denen er seine anarchische Kraft schöpft). Im Nachgang freilich, kann es geradezu zur Lust werden, die Quellen zu befragen und so den Text beinahe bis ins Unendliche hinein zu verlängern. Auch verbietet es sich, einzelne Teile herauszulösen und an dieser Stelle zu zitieren – man käme in einen Teufelskreis und aus dem Zitieren nicht mehr heraus. Man muss dieses Gedicht als das lesen, was es ist. Als ein Ganzes. Als eine sehr private wie auch umfassend gesellschaftliche Sozialisierungslehre, als ethnologische Grabungsarbeit, als eine von Slapstick gesprenkelte Materialschlacht. Man kann es natürlich auch ganz anders lesen. Hauptsache, man liest es.

Lars Reyer, titel-magazin.de, Februar 2008

Kopfhals ins Ungesicherte

− Der Lyriker Ulf Stolterfoht erhielt den Peter-Huchel-Preis. −

Die Heslacher dürften überrascht sein, und all die anderen, die im „holrauch über heslach“ das Fluidum moderner Heimatlyrik wittern. Der Buchtitel ist ein Zitat von Helmut Heißenbüttel, was allein schon ausreichte, der Erwartung biographischer Authentizität eine deutliche Absage zu erteilen. Die einstige Arbeitervorstadt im Stuttgarter Süden – für den ebendort aufgewachsenen Dichter Ulf Stolterfoht ist sie kaum mehr als der imaginäre Bezugsrahmen für eine aberwitzige Reise durch Idiome, Zeiten und Räume, einen gezügelten Sprachstrudel, aus dem die Erlebnissplitter der erinnerten Jugend wie Schiffsplanken ragen. Halt gewähren sie keinen. Nach seinen drei Bänden mit dem Titel „fachsprachen“ – gleichfalls erschienen in Urs Engelers renommierter Lyrik-Edition – war ein Bekenntnis zum biographisch fixierbaren Subjekt auch keineswegs zu erwarten. Das Ambiente der Jugend und der Zeitgeist der späten Siebziger harrten gleichwohl der Literarisierung. Erst in der räumlichen Ferne, nicht in Berlin, wo er jetzt lebt, sondern in der römischen Stipendiaten-Villa Massimo und den Kneipen rund um die Piazza Bologna, rückte ihm das Heslacher Lokalkolorit wieder zu Leibe: das Arminstüble und die Weinstube Heeb, nicht zu vergessen die „heilig heilige Gaststätte Notter“, wo eine Jazz-und-Dopeberauschte Generation „weißer Schulverweigerer“ ihren Hass aufs Spießer-Establishement (weiß, schwäbisch, pietistisch, hetero) ausssaß; wo nur Lyrik und improvisierte Musik die Chance bot, dem Ghetto zu entkommen. Bildeten solche selbstironisch aufbereiteten Erinnerungsfragmente das Zentrum seiner sieben Langgedichte – Ulf Stolterfoht jüngster Gedichtband hätte wohl kaum Aussicht gehabt auf den Peter-Huchel-Preis.
Tatsächlich beschreibt der Band eine literarische Utopie, die mit der zitierten Subkultur durchaus korrespondiert: durch ein freies, antisemantisches Sprechen jeder Erwartung von Botschaft und Hintersinn Paroli zu bieten. Poetische Rede als vielstimmiges anarchisches Lebenszeichen, grundiert nicht nur von der wohlfeilen Skepsis gegen das Wort, sondern gegen die Wirklichkeit als solcher. Deshalb Solterfohts Liebe zum Rotwelsch, zu jener widerborstigen, frei erfundenen Geheim- und Räubersprache „Manisch“, die er mit frecher Selbstverständlichkeit den „katzenartigen“ Heslachern andichtet. Deshalb seine Liebe zum engmaschigen Dickicht aus Kalauern, intellektuellen Sentenzen, Erinnerungen und blind verspieltem Wortnonsens, in das der launige Zuhörer mitunter schneller Einlaß findet als der verbissene Leser. Dass sein genußvolles Sinnverweigerungskonzept („das große deutsche Verschrobenheitsgedicht“, das sich bestenfalls selber schreibt) noch genügend Identifikationsraum bietet, davon konnte sich der Besucher der diesjährigen Huchel-Preisvergabe im Staufener Subenhaus überzeugen. Zum 25. Mal wurde der von Südwestfunk und vom Land Baden-Württembergs gestiftete, auf 10 000 Euro dotierte Preis gestern Morgen vergeben – und abermals fasste der Saal kaum das Publikum.
Die naturlyrische Lautmalerei von Solterfohts „Preis-Vorgänger“ Oswald Egger bot eine klangvolle Ouvertüre, der Geehrte selbst schlug darauf eine reflektierte, ironisch-gebrochene Tonart an. Festredner Thomas Poiss schlug in seiner exzellenten Hommage den Bogen zum Sprachskeptiker Ludwig Wittgenstein, der so gern dichtend philosophiert hätte, und auch die „drei Hausgötter“ des Dichters Ulf Solterfoht blieben nicht unerwähnt: Wortjongleure wie Gertrude Stein („ganz ähnlich sieht es gertrude stein, also kopfhals ins ungesicherte hinein“), Helmut Heißenbüttel und Oskar Pastior.
Mit dem Namensgeber des Preises allerdings, dem großen Naturlyriker Peter Huchel, hat der 44-jährige Preisträger durchaus seine Schwierigkeiten. Das mit der Sprache ringende, an der Sprache verzweifelnde Subjekt, das die Dichtung als spezifische Form der Welterkenntnis und Sinnstiftung begreift, läuft seinem Verständnis von Literatur entgegen: „Fordert man von einem Gedicht eine Aussage ab, begeht man einen kategorialen Fehler. Es ist keine Büchse, die es zu öffnen gilt, sondern der Büchsenöffner. Darin verbirgt sich nicht, außer einer komplexen Mechanik“. Eine derart programmatische Abgrenzung vom Namensgeber hat man in Staufen lange nicht gehört.

Stefan Tolksdorf, Badische Zeitung, 4.4.2008

Ulf Stolterfoht: holzrauch über heslach

Da Ulf Stolterfoht hier schon benannt wurde, putzen wir ihn gleich mit weg. Er hat mit holzrauch über heslach das Entedeckungs- und Abenteuerbuch der Saison herausgeschleudert, wofür er auch den Huchel-Preis 2008 bekommen hat. Holzrauch über Heslach ist eine ethnologische Kehrwoche unter den Leutchen in Stuttgart/Süd, ihren Helden, ihrer Sprache „Manisch“ und ihrem urigen Herkommen aus Katzenartigen und Maunzenenden bis zum Ende ihrer Aufstandszeiten um AKW und RAF herum. Dazwischen Moni & Froni, Dinkelacker und Drogen, Bubenspätzle und die heilige Notburga, die Friedensklampfen und Negermusik.
Stolterfoht spinnt weite Netze aus Geschichte und Folklore, aus Gedichten und Gerechten um die Welt und verknotet sie da im Ländle mit dem reichen Insurgenten-Anteil durch die Jahrhunderte.
Alles im wogend ausflatternden Stil seiner „Fachsprachen“ schon (Kommune 2/05), sauber geordnet zu sichtlichen Sechszeilern, manchmal mit leichten Reimen angeschupft. Auch re ist ein Worterfinder, auch er macht gewagte Assoziationssprünge, in deren Klüften wir abstürzen können.
Aber er bietet uns immer wieder die helfende Hand. Ein wundervolles Heimatbuch ist das geworden, in dem uns nicht banal gesagt wird, dass Heslach überall sei, wohl aber, dass in Heslach alles drin ist (grad wie in Africola). Und so ist es ja heutzutage auch. Der Beginn des achten Kapitels:
Die manische Handschrift. Wer von ihr spricht, darf nicht zu freygang schwei-/ gen:
letternbesessen, schwelger im stäblichen sinn, doktor der kartographie. / schloß sich sehr früh schon der bewegung an. führte verbotene bücher nach/ rumänien ein, darunter die werke carl einsteins, behren’s und stramms. Man / wurde auf ihn aufmerksam. abtauchen dann. zwanzig jahre zwischenwelt. Den / cannstatter hafen erreichte er mittellos, macht seine lesebrille zu geld. ein // hopfenhändler lädt ihn auf, wirft ihn ab – wir sehen ihn erschöpft, verwahr- / lost vor dem ochsen liegen. doch schon am nächsten morgen vollständig auf / dem damm, schnappt er sich einen packen ‚kleine axt – nachrichten aus dem widerstand‘, verkauft sie an gesinnte, im simmendinger horcht man auf und / überträgt ihm die abteilung ‚erbauung‘. er setzt auf schneider-bücher, auf / karl may und radikale traktate – der erfolg gibt ihm recht. eröffnet bald sein // erstes eignes antiquariat. Worauf die schicksalsstunde naht…
Stolterfoht schießt bei all dem vielleicht ein bisschen viel Referenzkarten in den schwäbischen Himmel. Gleich wie die Pop-Literatur den Ihren (Fans) Leben einhauchen, mit den Namen all der richtig separierten Musiker, Autoren, Medienmedusen. Ich darf dazugehören! Natürlich bei Stolterfoht auf Artschool-Niveau. Sein neuntes Kapitel stellt er unter den Segen von Captain Beefheart, insbesondere dessen „trout mask replika“, von 1970, produziert von Frank Zappa, und mit dem legendären „Dakau Bluuus“ drauf, das passt schon, das kann man nachvollziehen. Aber genauso gut könnte man behaupten, Beefhearts weißer, entbeinter Knochenrumpelblues, wie Negerblues rückwärts gespielt, grundiere das ganze Werk. Beefheart hat sich vor Jahren schon wegen all der Zustände auf der Welt = Heimat samt dem Distinktionsgezappel, in die amerikanische Wüste zurückgezogen und malt dort unter seinem bürgerlichen Namen Don Van Vliet den Sand ab. Also obachtpassen!
Wäre Egger allen zu raten, denen Verdrängung mit handelsüblichen Mitteln nicht gelingt, und die um eine ruhig gestellte Birne flehen, ist Stolterfoht das gefundene Fressen für die, die bisher dachten, sie wüssten schon über alles Bescheid.

Wilhelm Pauli, Kommune, 3/2008

holzrauch über heslach

− Unterwegs auf den Spuren des Huchel-Preisträgers Ulf Stolterfoth im Stuttgarter Süden. −

holzrauch über heslach, so heißt das Buch, für das der Berliner Dichter Ulf Stolterfoth (Jahrgang 1963) in diesem Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wird. Auch wenn er nie so prosanah geschrieben hat wie in diesem Buch, so handelt es sich um ein Gedicht. Der Text ist stark rhythmisiert und in Verse und Strophen gefasst. Ausgehend von dem Stuttgarter Stadtteil Heslach, wo er groß geworden ist, macht sich Stolterfoth in dem Gedicht auch auf die Spuren seiner Jugend und der politischen Ideale der 1970er Jahre. Und natürlich geht es ihm wie schon in früheren Werken auch diesmal um die Sprache. Dabei bezieht er sich auch Texte anderer Autoren. Geschrieben hat er das Gedicht übrigens in Rom als Stipendiat der Villa Massimo. Susanne Kaufmann hat mit Ulf Stolterfoth gesprochen und sich in Heslach auf Spurensuche begeben:

Atmo Wannenstraße (kurz stehen lassen, dann unterlegen)
Stuttgart-Heslach, Wannenstraße: ein altes Haus, am Hang gebaut. Hier wurde Ulf Stolterfoth geboren.

Bedeutung Heslach (0’11)
„Ich denke, für jeden ist dieser Bezirk, in dem er groß wird, schon von enormer Bedeutung. Der Bezirk, wo man in die Schule gegangen ist, ja, die ganzen Sachen zum ersten Mal gemacht hat womöglich.“

In den Gärten stehen alte Bäume, an den Laternenmasten spannt sich hoch oben eine Stromleitung entlang. Schaut man hinunter in den Kessel, dann blickt man über Heslach und sieht ein Gewirr von Häusern mit Ziegeldächern in allen erdenklichen Rottönen. Eine Anwohnerin räumt in der Wannenstraße gerade ihr Auto aus.

Stolterfoth / Nachbarin (0’15)
„Also wenn man runtergeht nach Heslach, ist es wirklich wie im Mittelalter zum Teil, diese kleinen engen Gässchen, es gibt ja auch noch einen Pferdestall unten in Heslach von der Möbelspedition Auacher, die auch immer hier bei uns in der Wannenstraße mit ihrem Gespann vorbeifahren. Also so ein richtig netter kleiner Stadtteil für sich in Stuttgart, wo’s alles gibt.“ „holzrauch über heslach“, den Titel seines jüngsten Lyrikbandes hat Stolterfoth von Helmut Heißenbüttel ausgeliehen, der mit diesen Worten einen Text begann. Stolterfoth verfasste ein ethnologisches, ein völkerkundliches Gedicht. In neun Teilen berichtet er von

Atmo Ochsenplatz (ab hier unterlegen)
Heslach, seiner Geschichte, den Straßen, Läden und Bewohnern. Die Böblinger Straße erwache morgens um halb 8. Am Kiosk gegenüber der Bäckerei Metzger werde das Bier im Freien serviert. Heute befindet sich dort eine Brache, in die ein Mehrfamilienhaus hineingepresst werden soll: die „Wohnanlage Mühlental“ mit „modernen komfortablen Eigentumswohnungen. Die Bäckerei Metzger gibt es immer noch.

Atmo Bäckerei (0’05 frei stehen lassen, dann unterlegen)
Margit Metzger weiß bereits, dass Stolterfoth die Bäckerei bedichtet hat.

Margit Metzer 1 (0’04, letzte sec nur noch Atmo)
„Ich hab’s gelesen in nem Artikel in den Stuttgarter Nachrichten.“

Margit Metzger 2 (0’05)
„I mein, an sich haben wir uns natürlich schon gefreut, dass er das mit Heslach identifiziert.“ Mit einem Stadtteil, der sich sehr gewandelt hat.

Margit Metzger 3 (0’19)
„Also die Bevölkerungsstruktur, also es isch scho wesentlich dünner geworden, einfach weniger Menschen lebet in Heslach als im Vergleich zu vor 20 Jahren. Und auch die Nationalitäten haben sich natürlich verlagert. Wir haben schon einen sehr hohen Ausländeranteil hier in Heslach.“ Stolterfoth berichtet, dass Heslach ursprünglich von den „Katzenartigen“ besiedelt worden sei, und die sprächen vor allem eine Sprache:

Lesung Das Heslacher Manisch (1’05)
„das heslacher manisch. Bei der suche nach kompetenten sprechern war vorsicht geboten – vielen erschien ihr manisch als stigma. Kleine biere brachen das eis, und so bieten die folgenden seiten einen schlussreichen blick auf den ‚schlägigen wirklichkeitsschnitt’ dieser spezifischen gruppe. Schirmer weist ganz zurecht darauf hin, daß die beschäftigung mit gerade der heslacher varietät ‚die seelischen vorgänge bei der benennung der außenwelt’ zu klären vermag. eine andere erklärung stehe voran: viele heslacher sprechen zwar manisch, würden sich selbst jedoch nicht als manische bezeichnnen. So wie man nur wenige findet, die sich über ihren katzenartigen abstamm definierten. Man muß also nicht manisch sein, um manisch zu sprechen, braucht keinen kätzischen vorlauf, ja, man muß nicht einmal heslacher sein – doch helfen tut es ungemein! […]“

Umfrage (0’27)
„Ich? Sprech nur deutsch! (lacht) – Schwäbisch. – Tikerinian. – Was ist das für eine Sprache? – Eriträa. – Russisch. – Nur deutsch, pfälzisch und un peu de peu francais. – Serbokroatisch, ehemalige jugoslawische Sprache. – Ich sprech kroatisch. – Indisch. – Kroatisch. – Deutsch. – Schwäbisch, deutsch und ein bissle englisch. – Haben Sie schon mal was von manisch gehört? – Romanisch? Ja, romanische Sprache. – Was ist das für ne Sprache? Kennen Sie des? – Manisch? Depressiv oder … ?“

Heslach damals (0’41)
„Das Komische ist, dass Heslach ja ein sehr geteilter Stadtteil ist. Also unten war’s früher wirklich ein Arbeitervorort mit hohem Ausländeranteil, das ist glaube ich heute noch so. Und die Hügel hoch, links und rechts, waren es eigentlich gute bis zum Teil sehr gute Wohngegenden. Und das Haus meiner Eltern stand etwa in der Mitte zwischen den schlechten und den guten Häusern. Ich glaub durch diesen Tunnel hat sich einiges verwandelt. Früher war der Verkehr fürchterlich mit der Möhringer Straße vor allem: zwei vierspurige Straßen, die zwischen diesen Mietshäusern durchführten in die Stadt und aus der Stadt raus, das war glaub ich nicht schön, früher dort zu wohnen.“

Atmo U 14 (0’03 freistehen lassen, dann unterlegen)
Heute ist Heslach durch einen Tunnel und zurückgebaute Straßen relativ verkehrsberuhigt. Laut ist es vor allem dann, wenn die Stadtbahnlinie U 14 durch die Häuserschluchten fährt. Böcklerstraße, Burgstall, Finken-, Tauben-, Frauenstraße: Um sich an all die Namen zu erinnern: Hat Stolterfoth da sehr viel recherchiert?

Recherche (0’27)
„Also recherchiert ist viel, viel zuviel gesagt. Ich hab meine Mutter gefragt: Kannst Du Dich noch erinnern, wie der kleine Lebensmittelladen hieß und wie die Kneipe da an der Ecke hieß? Ich hab mir Listen gemacht mit Kneipennamen und die Namen von Läden und Straßennamen, und das einzige, was ich wirklich benutzt habe, war, ich hab mir in Rom über den Schreibtisch einen Stadtplan von Stuttgart gehängt. Das war aber eigentlich das Einzige.“ Und so hat er auch den Eisenwarenladen Häbich in die Literatur eingeschrieben.

Eisenwarenladen (0’22)
„Da hat es meine Mutter nicht gebraucht. Den hab ich selbst noch gewusst! (lacht) Also das ist ja auch ein Spiel mit der Authentizität. Wie der Laden hieß und wo der war, das spielt ja eigentlich alles überhaupt keine Rolle. Aber trotzdem so zu tun, als wär das Faktische in irgendeiner Form dann doch was Entscheidendes, das ist glaube ich Teil des Spiels.“

Susanne Kaufmann, Südwestrundfunk 2, Aus dem Land: Feature, 29.3.2008

Hier dribbelt die Faktizität

Warum benutzen wir Handbücher und Wörterbücher, wenn wir Gedichte lesen, fragte einmal Thomas Kling und zitierte, wie als Antwort, Hölderlins Klage:

Ach, wir kennen uns wenig!

Stimmt. Der Dichter Ulf Stolterfoht hat sich, mit Handbüchern und Wörterbüchern gewappnet, vor langer Zeit ein eigenes Serienformat erfunden: die „Fachsprachen“. Neun Bände sind vorgesehen; jeder enthält neun Zyklen mit neun Gedichten à vier Strophen à sechs Zeilen. Sie alle arbeiten mit unterschiedlichen Wissensspeichern, sammeln Wörter zwecks Weltbestaunung und bringen die Mechanik der Sprache zum Singen. Als Leser, hat der Autor einmal gesagt, interessiere ihn alles, was er nicht verstehe.

Darum interessieren mich die echten Fachsprachen: da wirklich seitenlang Text zu lesen und kein Wort zu verstehen. Obwohl ich die Wörter alle irgendwie kenne, könnte ich nicht sagen, wovon der Text spricht. So was finde ich ganz, ganz großartig.

Bei Urs Engeler ist nun Stolterfohts „quasi-autobiografisches“ Buch holzrauch über heslach wieder aufgelegt worden, ein langes „ethnologisches“ Gedicht über seinen Herkunfts-Stadtteil in Stuttgart. Für das „Manisch“, das Stolterfoht im Buch einer Gruppe Stuttgarter Jugendlicher aus dem Bezirk Heslach als Umgangssprache in den Mund legt, hat er sich mit Rotwelsch-Varietäten beschäftigt – auch das eine Fachsprache. In seiner Laudatio zur Verleihung des Peter Huchel Preises betonte Thomas Poiss einmal, was Stolterfohts Texte auszeichne sei nicht die Freude, den Jargon von Viehschlächtern, Elektrotechnikern, Sprecherziehern und Linguisten spielerisch zu verfremden; seine treibende Kraft sei sein „wittgensteinscher Zweifel an der Semantik, jenem scheinbar reibungslosen Zusammenspiel von Sprache und Welt“.
Trotz biografischer Kontexte kommt auch in holzrauch über heslach keine Erzählung auf. Fiktion, so liest man dort, verwässere das Gedicht, die Faktizität ihrerseits bleibe „unerreicht“. Und dann wird es so konkret, wie ein „wittgensteinscher Zweifel“ nur konkret sein kann. „Beispiel gefällig?“ fragt der Autor, und schon geht es los:

Nehmen wir an ,dies hier sei amherst‘, dann bienenbehang. dann: hörst du den sang, ist die mechanik des textes komplett. satz ließ die wörter haltig werden. wies allem den richtigen platz: tiefgrüner rasen und ein chemnitzer blau. Zehn farbentragende zerstörer. plus führters bestürzende tricks. nenns praktizierte – oder womöglich besser: elaborierte anarchie. man knabbert noch heute am wie. das hirn nämlich hat gänge, die gehen weit über gebautes hinaus. schmerzhaus. panikraum. mit abgehängtem otterfenster. eingebauten solidaritätsgespenstern.

Die Sätze halten sich, mit Sang und Klang. Nichts folgt aus einander, aber Wahlverwandtschaften gibt es zu Hauf, wir sind schließlich nicht nur Bedingte. Mit den Bienen der Emily Dickinson (amherst) beginnt Stolterfohts Bei-Spiel: „halt“, „platz“, „rasen“, „chemnitzer blau“, „zehn farbentragende zerstörer“. Hier dribbelt die Faktizität drauf los, könnte man sagen, und man hört und spürt förmlich, wie es Richtung Tor immer enger wird („führters bestürzende tricks“). Doch die Sprache baut sich ihren Reim und gelangt so – durch das abgehangene Otterfenster (wo bitte schön befindet sich das?) – zu eingebauten Solidaritätsgespenstern.

Marie Luise Knott, perlentaucher.de, 3.7.2020

„am rand der heslacher wand

bildet ein zeichensystem einen wald“

Simone Homem de Mello: Ulf, dein neu erschienenes Langgedicht holzrauch über heslach wird im Umschlagtext als „ethnologisches“ Gedicht bezeichnet. Darin kommt das so genannte Manische vor, ein Dialekt, der angeblich von einer Gruppe Stuttgarter Jugendlicher aus dem Bezirk Heslach als Umgangs- und Dichtungssprache kultiviert wurde. Woher kommt diese Sprache?

Ulf Stolterfoht: Aus Rotwelsch-Varietäten, die es heute in Württemberg und in Baden noch gibt. Was ich dann tatsächlich benutze, ist der thüringische Teil. Niemand in Heslach, niemand in Schwaben spricht so.

Homem de Mello: Du hast erzählt, dass du nur eine Liste mit Ortsnamen aus deiner Heslacher Jugendzeit und einen Stuttgarter Stadtplan mit dem Bezirk vor dir hattest, als du 2007 in der Villa Massimo in Rom angefangen hast, das Gedicht zu schreiben. Hinten im Buch listest du einige Bücher auf, ohne die „der oftmals stotternde gedichtmotor gänzlich abgestorben wäre“. Was ist Erinnerung, was ist Konstruktion und Zitat?

Stolterfoht: Sich an etwas nur erinnern, das ist auch langweilig. Das war gerade das, was Spaß gemacht hat: Die Erinnerungen mit diesem Unfug aufzufüllen. Es gab keine Wandermusiker, auch keine Bürstenbinder in Heslach, aber sehr wohl in der benachbarten Gemeinde. Peter Weiss sagt zu Die Ästhetik des Widerstands, es sei eine Wunschbiografie für ihn. So hätte ich es gerne gehabt, dass es so gewesen wäre. Andererseits gibt es schon andere Sachen, die sich so genau abgespielt haben: diese Drogen-Sachen sind relativ nah an der Wirklichkeit.

Homem de Mello: Aber es ist nicht immer klar, was da „wahr“ ist und was nicht. Ich mag die Verse:

fiktion verwässert das gedicht. faktizität dagegen unerreicht: sie schleiert, was sie zeigt.

Stolterfoht: Das ist zum Teil Emily Dickinson (lacht). Der Titel holzrauch über heslach kommt aus einem Heissenbüttel-Gedicht, „Gedicht über die Übung zu sterben“ (1962). Ich habe – auch in letzter Zeit – ziemlich viel Heissenbüttel gelesen, und bei dem gab es irgendwann auch so einen Punkt, an dem er auch den Spaß verloren hat, habe ich den Eindruck. Nicht am Experimentellen, aber an einem Skeptizismus, der nicht durch irgendwas abgedeckt ist.
In einem Text, der „quasi-autobiographisch“ heißt, versucht Heissenbüttel mit einer experimentellen Literatur, die irgendwie durch die Person gedeckt wird. Nur geht es bei ihm natürlich weiter, das hat denn auch eine Selbstentblößung zur Folge gehabt, diese ganzen sexuellen Sachen, und dass man ganz ehrlich über alles berichtet. Bei mir wird es natürlich nie darum gehen.
Fake ist das Hauptelement in holzrauch über heslach. Das Autobiographische ist Fake, dieses Ethnographische ist Fake. Auf jeden Fall habe ich gedacht: Wenn man das Authentische praktisch gegen sich selbst in Stellung bringt, so tut als ob, und dann dadurch aber auf gewisse Weise ja doch wieder etwas Quasi-Authentisches produziert, dann kommt man vielleicht aus dem Teufelskreis heraus, immer alles dementieren zu müssen, was man im Satz vorher gesagt hat. Und aus dem Teufelskreis bin ich auch rausgekommen, nur möglicherweise auf Kosten dessen, dass ich die experimentelle Literatur verraten habe (lacht).

Homem de Mello: Vielleicht die Radikalität deiner experimentellen Literatur, aber doch nicht die experimentelle Literatur, das glaube ich nicht.

Stolterfoht: Ich hoffe es nicht.

Homem de Mello: Und woher kommt bei dir dieser „Teufelskreis, alles dementieren zu müssen, was man im Satz vorher gesagt hat“? Oder besser gesagt: Woher kommt diese Radikalität, die poetische Sprache durch eine gewisse Unzugänglichkeit möglichst vom kommunikativen Sprachgebrauch zu unterscheiden – etwas sehr Deutliches in den drei fachsprachen-Bänden?

Stolterfoht: Als ich die fachsprachen-Bücher geschrieben habe, eigentlich schon als ich angefangen habe zu schreiben, habe ich vor allem Philosophie gelesen (das tue ich eigentlich auch heute noch) – und da wieder vor allem sprachanalytische Philosophie und Erkenntnistheorie. Je länger ich mich damit beschäftigt habe, umso klarer wurde mir das Problem mit dieser Referenzidee, die höchst fragwürdig ist, mit dem ganzen Verweisen (da muss man nicht einmal ins Narrative gehen, da wird es noch viel komplizierter).
Wenn man alltagssprachlich so tut, als wäre die Welt so und so beschaffen, in der Art, wie ich mich auf die Welt beziehe, da kann man das natürlich machen, und es spricht auch viel dafür, solange die Kommunikation funktioniert. Wenn man aber in Gedichten so tut, als wäre dieses Referenzverhältnis zwischen Wort und Welt völlig ungebrochen, dann glaube ich, da lügt man sich irgendetwas in die Tasche. Gedichte – als Sprache auf einer anderen Ebene als das alltägliche Sprechen – muss diese Probleme mitreflektieren und mitthematisieren. Gedichte, die heute so tun, als gäbe es dieses Band zwischen Wörtern und Welt so wie im Paradies als adamitische Ursprache – das verstehe ich nicht. Diese Frage ist eigentlich kein Anzeichen der Moderne oder so, die Vorsokratiker haben sich Gedanken darüber gemacht; das ist keine neue Erfindung.
Dieses Problem war eigentlich der Anstoß: Wie geht man damit um, wenn die Naivität weg ist und die Wörter eben nicht dafür benutzt werden, auf vermeintliche Außenwelterscheinungen zu verweisen? Was bleibt dann von den Worten übrig? Mit diesem Faktum umzugehen ist der Versuch dieser drei fachsprachen-Bände, denke ich.
Und dann war es so, dass ich an einen Punkt gekommen bin, wo mir die Verfahren vielleicht nicht ausgereizt erschienen sind, aber wo es mir selbst beim Schreiben langweilig wurde. Das immer wieder durchzuexerzieren, immer wieder ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn nicht alles noch mal durch den Wolf gedreht wird, und immer die Metaebene und die Metametaebene auch noch einbauen zu müssen.
In holzrauch über heslach – habe ich mir eben gedacht – könnte man das ganze Problem durch diese starke Fiktionalisierung ganz elegant aus der Welt schaffen. Wenn ich so tue, als würde ich über meine Jugend berichten und über einen Stadtteil, und nichts von dem, was da so authentisch rüberkommt, stimmt, oder das Wenigste stimmt, oder vielleicht stimmt es auch, aber es stimmt eben auf eine ganz andere Art, dann – habe ich gedacht – löst sich das doch selbst in Wohlgefallen wieder auf. Dann kann doch niemand im Ernst annehmen, dass ich mit dem, was da erzählt wird, auf irgendetwas Reales verweise. Was ich aber völlig übersehen habe, ist natürlich, dass jede Form von fiktionaler Literatur eigentlich auf die Weise arbeitet, dass es keine Lösung des Problems ist.

Homem de Mello: In deinen ersten drei Büchern machst du die Formelhaftigkeit und Unverständlichkeit der Fachsprachen zum Ausgangspunkt einer poetischen Sprache, die sehr radikal ihre Autonomie verteidigt. Im traktat vom widergang (2005) machst du eine Pseudo-Übersetzung von Fragmenten aus Juan Filloys Karcino – einer spanischsprachigen Sammlung von Palindromen – und fertigst daraus eigenständige Texte. Ist der Umgang mit anderen Sprachen etwas, was dein Schreiben antreibt?

Stolterfoht: Ich glaube, es liegt eher daran, dass mich – als Leser – alles interessiert, was ich nicht verstehe. Darum interessieren mich die echten Fachsprachen: da wirklich seitenlang Text zu lesen und kein Wort zu verstehen. Obwohl ich die Wörter alle irgendwie kenne, könnte ich nicht sagen, wovon der Text spricht. So was finde ich ganz, ganz großartig.
Und so war es mit dem Spanischen bei Juan Filloy. Ich hatte zwar eine Ahnung, wegen Lateinunterricht und Italienisch und so was, was da verhandelt wird, aber nur eine Idee. Und was ich dann verstanden habe, war ganz sicher etwas ganz Anderes als das, was er gemeint hat. Da gab es aber einige Wandlungen. Die erste Version war wahrscheinlich viel näher am Sinn des Spanischen. Dann gibt es einfach rhythmische Gründe, die dann völlig aus dem Ruder laufen.
Im zweiten fachsprachen-Buch gibt es auch neun Gedichte, eines auf Dänisch, eines auf Schwedisch… Ich glaube, es geht mehr um das Nicht-Verstehen als um die Arbeit mit Fremdsprachen. Das ist ein Weg, einem selbst die Sprache fremd zu machen.

Homem de Mello: Und das gelingt dir auch beim Übersetzen. Wie kamst du dazu, Gertrude Steins Winning His Way / wie man seine art gewinnt (2005) ins Deutsche zu übertragen?

Stolterfoht: Als die Bibliothek vom Amerika-Haus in Berlin aufgelöst wurde, haben sie ganz viele Bücher der Amerika-Gedenkbibliothek geschenkt. Kurz nachdem die Bücher da im Bestand waren, habe ich ein Buch ausgeliehen und habe dieses Gertrude Stein-Buch aus der Gesammelten Ausgabe gelesen. Ich hatte gedacht, ich kannte schon alles von ihr, hatte aber nie etwas von diesem Gedicht gehört. Und das gab es auch in Amerika nur in dieser Ausgabe, nie mehr danach. Und ich habe gedacht: Was fällt mir da in die Hände? Und ich habe es gelesen und großartig gefunden. Das muss ich machen, dachte ich, das macht sonst sicher niemand.

Humboldt

 

 

Mitschnitt der Preisverleihung des Peter-Huchel-Preises vom 3.4.2008

 

Vom 18.11.2011 bis zum 29.02.2012 findet im Literaturhaus Stuttgart die Ausstellung Ulf Stolterfoht – Handapparat Heslach statt. Dazu erscheint bei roughbooks ein gleichnamiges Buch.

Marcel Beyer trifft im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur auf Ulf Stolterfoht. Ein Gespräch über selbstauferlegte Fesseln, Authentizitäts-Signale und den Neid auf fremde Wörterbücher.

Ulf Stolterfoht mit Steffen Popp im Parlandopark: Liebes System: nicht ohne Axt!

Ulf Stolterfoht – Oskar Pastior. Theorien der Literatur II, Episode 4. Guido Graf im Gespräch mit Ulf Stolterfoht, Litradio 29.11.2021

 

 

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Porträtgalerie: Galerie Foto Gezett + Dirk Skiba Autorenporträts +
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Ulf Stolterfoht liest 2009 im Aufnahmestudio von lyrikline.org.

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