Ulf Stolterfoht: Neu-Jerusalem

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulf Stolterfoht: Neu-Jerusalem

Stolterfoht-Neu-Jerusalem

PREDIGT DES BETRUNKENEN WAGENBLAST
AN DIE MOHIKANER;
CASINO DES STOCKBRIDGE-RESERVATS,
NAHE RED SPRINGS/WISCONSIN
(DER DACHS-STAAT; AMERIKAS MOLKEREI;
DER BLEIB-EIN-BISSCHEN-LÄNGER-STAAT)

(4)

über rock’n’roll wusste ich schon alles, als ihr noch in den windeln lagt.
gut. aber wisst ihr auch bescheid über das ende aller tage? ich frag ja
nur. ich weiß, ihr kennt euch aus mit rock’n’roll, aber was wisst ihr vom
jüngsten gericht? [publikum: bullshit!] bullshit? kann es sein, dass ein
paar von euch da draußen den herrn gar nicht mögen? den herrn gar

nicht kennen? also was jetzt? nicht mögen oder nicht kennen? wie sieht
es aus? wie viele von euch da draußen sind erlöst durch das blut des
lamms? wie viele? wie viele von euch sind noch suchende? eines tages
suchten die bäume im wald nach einem könig. also gingen sie zur eiche
und fragten: „willst du unser könig sein? über uns herrschen? magst du?“

die eiche sagte: „nein!“, da sagten die bäume: „in ordnung!“ und gingen
zum…, ich glaube, sie gingen zum feigenbaum. der feigenbaum sagte:
„nein!“, und sie fragten noch eine ganze menge anderer bäume – und alle
sagten sie: „nein!“, da kamen sie zu einem dornbusch und fragten: „willst
du unser könig sein?“ der dornbusch sagte: „klar! ein dornbusch ist doch

sonst zu nichts gut als zum brennen.“ (…) weiß jemand, wie viel uhr es ist?
weiß das zufällig jemand? [publikum: acht uhr] (…) ich habe in der zei-
tung gelesen, dass the who in – ich glaube – gotha gespielt haben, gestern
nacht, und pete townshend hat sich bei den fans entschuldigt. „wir lassen
euch nie wieder allein!“ hat er gesagt – denkt doch da mal einen moment

drüber nach! es gibt nämlich einen, der lässt euch wirklich nie allein! nur
glaub ich nicht, dass das pete townshend ist. har, har! (…) als jesus nach
jerusalem kam, jubelten die menschen. aber wisst ihr: das sind dieselben
leute, die ihn kurz darauf gekreuzigt sehen wollten! okay? okay! macht
euch bereit – ihr werdet starken glauben brauchen! sehr starken glauben!

 

Ulf Stolterfoht in Lesung und Gespräch u.a. zu Neu-Jerusalem am 20.5.2015 im Literarischen Colloquium Berlin. Moderation Monika Rinck.

Lesung I
Ulf Stolterfoht liest aus neu-jerusalem

 

Gespräch I
Gespräch über Ulf Stolterfohts Werk, Pietismus und Freiheit

 

Gespräch II
Gespräch über Stolterfohts Schreibstil und religiöse Inspirationsquellen

 

Lesung II
Ulf Stolterfoht und Monika Rinck lesen Gedichte.

 

 

Im Himmelreich der Renitenz

– Ulf Stolterfohts Langgedicht neu-jerusalem erzählt in neun Kapiteln über die Auswanderungsbewegung radikaler Pietisten im 18. und 19. Jahrhundert. –

Wenn ein ironischer Verskünstler wie der Dichter Ulf Stolterfoht seitenweise die Lutherbibel zitiert, ist nicht unbedingt ein ehrfürchtiger Bericht über ein religiöses Erweckungserlebnis zu erwarten. Und doch gerät man ins Staunen, wenn der derzeit bekannteste deutsche Exponent der experimentellen Poesie sein neues Gedichtbuch mit Reminiszenzen an die Offenbarung des Johannes eröffnet, das bizarrste Buch des Neuen Testaments. Stolterfohts in neun Kapitel gegliedertes langes Poem neu-jerusalem behandelt ein grosses Thema – nämlich die Auswanderungsbewegung radikaler Pietisten im 18. und 19. Jahrhundert nach Amerika und in den Kaukasus, wo sie ihr neues Himmelreich errichten wollten. Wie es Stolterfohts Art ist, hat er sich den historischen Stoff in sprachanarchistischer Manier angeeignet und ihn in eine Geschichte religiöser, politischer und ästhetischer Dissidenz umgewandelt.
Seine gottesfürchtigen Pilger nach „neu-jerusalem“, die Wagenblast, Mutter Johanna, Herr Sebulon oder auch Mösenfinger-Ludwig heissen, wollen ihr frommes Utopia in Berlin-Schöneberg errichten. Sie hängen einer naturmystischen und libertinistischen Spielart des Pietismus an, die sich offenbar am historischen Vorbild der sogenannten Buttlarschen Rotte orientiert, die um 1700 durch eine frühe Form der Libertinage und Sexbesessenheit öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Bereits in seinem ethnologischen Gedicht holzrauch über heslach (2008) hatte der Schwabe und Wahlberliner Stolterfoht die ausgefallenen nonkonformistischen Rituale einer antibürgerlichen Subkultur vergegenwärtigt. In seinem neuen Werk gilt seine Aufmerksamkeit einigen pietistischen Freigeistern, die in einem Kapitel sogar mit dem deutschen Bundeskriminalamt in Konflikt geraten.
Wenn Stolterfoht vom grossen Aufbruch der Erweckten ins neue Utopia berichtet, dann mobilisiert er die für ihn typische Sprachkomik, die er aus der Erforschung der regionalen Wurzeln der frommen Pilger ableitet. Hier zeigt er seine sprachakrobatische Meisterschaft:

sie alle waren damals gleichfalls auf der strasse… speckschweizer erweckte;…
laupheimer mucker; ledige mütter; sodomiten; böhme-versöhnte;
radikale marien und freie susannen (zum teil mit gliedpfannen);
versprengte gerenkte; die gelinden bringer von singen; klempe-
rer; schweinfurter künder der durft…

Es gehört indes zu den grossen Reizen dieses Buches, dass es auch so manche Prämisse der experimentellen Lyrik ins Wanken bringt. Bisher galt als ausgemacht, dass sich der Lyriker Stolterfoht vorwiegend für die instabilen Verhältnisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen interessiert und beharrlich an einer „Entsemantisierung der Kunst“ arbeitet. Solche Überlegungen passen aber nicht so recht zu neu-jerusalem. Denn hier entfaltet der Autor seine Geschichte pietistischer Renitenz in weiten erzählerischen Bögen, ohne diese narrativen Elemente sprachkritisch zu relativieren. „Dieser text ist ein biest“, heisst es am Ende des langen Gedichts. Und tatsächlich entfalten darin die ekstatischen Monologe der pietistischen „Mutter Johanna“ eine eigene religiöse und zugleich poetische Energie, die durch keine ironische Konterbande auflösbar ist. „Religionen sind Gedichte“, hat der australische Weltpoet Les Murray einmal gesagt. Das gilt auch für Ulf Stolterfohts neu-jerusalem.

Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 11.6.2015
auch Badische Zeitung, 16.5.2015

Die Laienprediger von Neu-Berlin

– Hier kreisen die Geier über dem Fluss der Wortfusseln: Ulf Stolterfoht brütet in fremden Nestern sehr eigenartige Lyrik aus. –

Würde man Dichtern nach ihren poetischen Eigenarten politische Posten zuteilen, der Lyriker Ulf Stolterfoht wäre Minister für Integration. Seine Gedichte entstehen nämlich nicht dadurch, dass er sich in sein tiefstes Innerstes versenkt. Vielmehr holt er sich den Anstoß für seine Dichtung von außen. Er begibt sich in fremde Textwelten und nimmt deren sprachliches Material, Figuren, Melodien und Stimmungen in seine Arbeiten auf. Seine Poesie entfaltet sich, indem seine Sprache mit den Fremdkörpern kollidiert, sich an ihnen reibt, sich an sie anschmiegt oder sie umgarnt. „Ich rastere jegliche abseitigkeit durch meine eigenart“, betont Stolterfoht, der sich selbst als „Brueterich“, seinen poetischen Kosmos als „System-Brueterich“ und seine Lyrik mitunter als „Art Bruet“ bezeichnet. Selbstironie liegt dem Lyriker Stolterfoht nicht fern.
Gemessen an der Produktivität, muss das vergangene halbe Jahr besonders nestwarm gewesen sein. Jüngst sind die ersten drei Bände seines neu gegründeten Verlags Brueterich-Press erschienen. Mit Franz Josef Czernin, Oswald Egger und Hans Thill versammelt das erste Programm die Arbeiten von drei Brüdern im Geiste experimenteller Lyrik. Zudem hat Stolterfoht zwei eigene Gedichtbände publiziert – und zwar zuerst seinen nunmehr vierten Dolmetscherstreich mit dem Titel was branko sagt, kurz darauf dann ein Buch namens Neu-Jerusalem. Zusammengenommen geben die beiden Werke Aufschluss darüber, zwischen welchen Polen sich die poetische Welt dieses Dichters aufspannt, der zu den wichtigsten Stimmen des derzeit vielbeschworenen Lyrik-Booms zählt.
(…)
Seinen Prinzipien bleibt Stolterfoht auch in Neu-Jerusalem treu. Auch in diesem Fall lässt er sich von Fremdmaterial inspirieren. Zum einen widmet er sich der Offenbarung des Johannes. Deren abschließende Vision von einem „Neu-Jerusalem“, das nach der Apokalypse entstehe, zitiert der Gedichtband ausführlich. Stolterfoht bleibt aber auch im religiösen Register ein Zitatrowdy. Vom biblischen Original fehlt ausgerechnet das Verbot, Kürzungen oder Ergänzungen an dem Text vorzunehmen. Verstöße dieser Art kommentiert Stolterfoht mit einem lässigen „Yeah“.
Die zweite Inspirationsquelle ist die Geschichte der pietistischen Bewegungen, die im achtzehnten Jahrhundert nach Berlin überschwappt. Die Offenbarungserfahrungen wurden damals quasi demokratisiert. Statt weniger Auserwählter konnte sie jetzt jeder haben. Es kommt zu einer Schwemme von Laienpredigern, die ihre selbstgestrickten Theologien und Privatapokalypsen verbreiten. Eine davon ist die Vision, ein irdisches „Neu-Jerusalem“ zu gründen.
Den Fundus pietistischer Absonderlichkeiten faltet Stolterfoht zur Erzählung aus. Seine poetische Kraft bezieht der Band aus der Erfindung skurriler Figuren und einer überbordenden Fabulierlust. Das Prosagedicht lässt sich als zugespitzte Mentalitätsgeschichte des heutigen Berlins lesen, die bis ins Jahr 1704 zurückreicht. Da predigt ein hochempfindsamer Gemeindeguru namens Wagenblast den heiligen Rock ’n’ Roll und erforscht in seinem Institut für Sinnestäuschung „gaukelei und trügerische schlüsse“, während eine Frau namens Johanna die „säuberung von sündhafter lust durch ungehemmt gelebte sexualität“ anstrebt – Berlin halt. Am Ende jedoch begeht ihre radikalisierte Sekte Massenselbstmord. Trotzdem ist diese brueterische Integrationspoesie ein Heidenspaß.

Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.7.2015

Wir brauchen uns!

– Dichter Ulf Stolterfoht will Autoren eine Heimat geben. Deshalb hat er seinen eigenen Verlag gegründet und unterläuft damit alle Marktgewohnheiten. Gedruckt wird, solange das Geld reicht. Ob das Konzept aufgeht? –

„hört mir hier überhaupt noch jemand zu?“ ruft das Lyrische Ich in Ulf Stolterfohts soeben erschienenem Lyrik-Band Neu-Jerusalem. Das Ich, das in diesem Langgedicht redet, imitiert einen Wanderprediger, der die Massen in diesen dekadenten Zeiten („die menschen beginnen, sich selbst zu lieben“) zu Umkehr und rechtem glauben mahnt. Ausgehend von der biblischen Offenbarung, wird mit allerlei sprachlichen Registern der Untergang der Welt und das Nahen eines göttlichen Reiches heraufbeschworen.
Ulf Stolterfoht, der Autor, ist in Stuttgart geboren, lebt seit Langem in Berlin und schreibt in eigenwilliger Nachfolge von Jandl, Pastior und anderen Sprachkünstlern. Neu-Jerusalem ist wie seine früheren Lyrik-Bände, die „Fachsprachen“, formstreng gebaut; sperrige, doch höchst vergnügliche Kost, melodisch-leicht dargeboten, von großer rhythmischer Schönheit. Schon immer arbeitet Stolterfoht in seiner Lyrik mit Fragmenten aus verschiedenen Wissensbereichen und Sprachschichten des Deutschen, um jenseits von „Inhaltismus“ die Sprache selbst zum Instrument zu machen, nicht um zu verstehen, sondern „um das Verstehen ein bisschen besser zu verstehen“, wie er sagt.
In Neu-Jerusalem nun, das kürzlich im Verlag kookbooks erschien und den Werdegang einer Sekte beschreibt, versammelt und verhandelt der Autor auf knapp 90 Seiten Glaube, Hoffnung und Verheißung – vom Pietismus des ausgehenden 16. Jahrhunderts bis heute. Die charismatischen Hauptfiguren heißen Wagenblast, Mutter Johanna und Blutjesus. Gestalten wie die Hopfenzwerge Trastevere, Mösenfinger-Ludwig, die willigen Weiber von Wien und Heini vom BKA ergänzen das Bild. Mit großer Suggestionskraft („Ich bau mir in Lyrik das Ding, das mir taugt“) lässt Stolterfoht Stimmen, Visionen, Wunderheilungen und Erweckungserlebnisse aufeinanderprallen. Die Figur des Wagenblast erinnert dabei an Nicolaus Ludwig von Zinzendorf, den Begründer des Herrnhuter Ordens, der Anfang des 17. Jahrhunderts in seiner Missionstätigkeit bis nach Amerika gelangte. „macht euch bereit, ihr werdet starken glauben brauchen, sehr starken glauben!“ heißt es. Auch der Sektenselbstmord in Jonestown und säkulare Heilsbewegungen wie die Chicago Boys schwingen hinein; zudem gibt es Anklänge an Rockkonzerte und Hausbesetzerszenen. Das „Neu Jerusalem“ des schwäbischen Predigers liegt hier in Berlin, dem Sehnsuchtsort so vieler Jugendlicher aus Pietistenland.
Alltagssprachliches sorgt in Stolterfohts Lyrik für den besonderen Sound. Gedichte sind schließlich nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten gemacht, und diese finden sich in Büchern, in TV-Sendungen, auf der Straße und auf Waldbühnen. Seine Arbeitsweise – Montage, Kompilation und Persiflage – hat Stolterfoht in Neu-Jerusalem weiter verfeinert. „so wahr ich hier schreibe“, schwört das Ich. Und schon weiß der Leser: Alles ist erfunden und doch aufs Köstlichste wahr. Hat man die Idee von der Aussage eines Gedichtes und von der Lesbarkeit der Welt erst hinter sich gelassen, beginnt ein Hören, in das man einfach eintauchen kann.
Bereits seit vielen Jahren betreibt Ulf Stolterfoht neben seiner Poesie intensiv den öffentlichen Dichter-Austausch: Er bringt zusammen, was sich zuhören und inspirieren könnte. Zur „sittlich-moralischen Unterstützung von Dichtern und deren Arbeit im Wortbergwerk“ schuf er gemeinsam mit anderen Ende der 1990er Jahre die Lyrikknappschaft Schöneberg, die allein durch ihr sprachliches Vorhandensein so manchem Poeten Schutz und Schirm gewährt. 2003 veröffentlichte er den Band Elf Widerstandsnester, darin u.a. Wort- und Bild-Beiträge von Paulus Böhmer, Oswald Egger, Bert Papenfuss und Hans Thill. 2008 edierte er mit Christoph Buchwald das Jahrbuch der Lyrik. Und 2010 rief er TIMBER ins Leben, ein „Forum für kollektive Poetologie“ samt zweitägigem Poetentreffen im Berliner Literaturhaus.
In diesem Frühjahr nun hat Stolterfoht den Verlag Brüterich Press gegründet, um versprengt arbeitenden Kollegen auch in diesen verlegerisch schwierigen Zeiten eine Heimat zu bieten, wie es ehedem der Verlag Urs Engeler für ihn gewesen ist. „Es gilt, denen eine Chance zu geben, die sonst keine haben auf dem Markt“, sagt er. Denn:

Wir brauchen uns.

Gedruckt wird alles, womit er sich gerne verbinden möchte. Und: Gedruckt wird, solange das Geld reicht. In seinem ersten Programm findet sich Poetologisches von Franz Josef Czernin, ferner surreal beeinflusste Verse von Hans Thill sowie der Band Amben und Gnomen von Oswald Egger – ein lyrischer Versuch, über antike Formtradition und mathematische Kombinatorik. Angekündigt ist ein Essay von Monika Rinck sowie Gedichte des US-amerikanischen Lyrikers Cyrus Console.
Dabei unterläuft Stolterfoht mit Brüterich Press alle Marktgewohnheiten. Er liefert selber aus, jedes Buch kostet 20 Euro und man kann die Bücher als Serie auf der Verlags-Homepage abonnieren. „Schwierige Bücher zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brüterich Press“, heißt es dort lakonisch. Auf den weißgrundigen, fein gestalteten Umschlägen finden sich weder Ladenpreis, Autoren-Vita noch Pressezitat. Die Worte sollen für sich sprechen. Ob das Konzept aufgeht? Ob sich genügend Abonnenten finden, damit das Startkapital nicht versiegt? „Wir brauchen uns“, kommentiert Stolterfoht auch diese Frage.

Marie Luise Knott, Der Tagesspiegel, 20.5.2015

„Können Sie mich verstehen?“

– Die eine schwärmt von seiner Sprache, den anderen interessiert seine Lesung nicht: Ulf Stolterfoht, der vor 30 Zuhörern auftritt, ist speziell. Literatur live im Haller Kunstverein: Lesung mit dem Lyriker Ulf Stolterfoht. –

„Nun hören wir mal den speziellen Stolterfoht-Sound“, kündigt Ute Christine Berger an. Der Sound ist angenehm. Mit sanfter, ruhiger Stimme liest der Autor aus seinem Buch neu-jerusalem. Hemdsärmelig, ein Mann zum Biertrinken und Anfassen, den Kopf stets leicht gesenkt, der Blick kommt bescheiden und mild von unten.
Er erzählt von pietistischen Sekten, die um 1700 von Fürstentum zu Fürstentum ziehen und schließlich in Berlin-Schöneberg ihr frommes Utopia errichten wollen („Das ist praktisch, denn da wohne ich auch“, so Stolterfoht, gebürtiger Stuttgarter).
Er zitiert dabei die Lutherbibel und die Offenbarungen des Johannes. Natürlich in seiner eigenen Sprache. Seine gottesfürchtigen Pilger, die Wagenblast, Mutter Johanna, Herr Sebulon, Blutjesus oder auch Mösenfinger-Ludwig heißen, sind nur teilweise ausgedacht („Ich bin nicht sehr phantasiebegabt.“)
Er liest beispielsweise über „speckschweizer erweckte“, „predigtscheue von beuthen“, „laupheimer mucker“, „radikale marien und freie susannen“, „versprengte gerenkte“. Er blickt auf. „Können Sie mich hören? Verstehen?“ Dann:

Naja, verstehen…

Er liest noch ein wenig von  „qualessern aus bingen“ und „treuen karthäusern“, bis er erneut eine Pause macht und ein Zuhörer fragt:

Wie kommen Sie darauf, dass das jemand interessiert?

Der Mann, kein Haller, kam nur zufällig herein, hatte Lust auf Kultur, mit dem „Stolterfoht-Sound“ hat er wohl nicht gerechnet. Der antwortet gar nicht beleidigt, sondern sehr freundlich, dass das Thema durchaus auch Bezüge zur heutigen Welt habe. Einer anderen Zuhörerin geht es jetzt viel zu sehr ums Inhaltliche, sie möchte viel lieber seine Sprache loben. Magisch, nennt sie sie und möchte mehr hören.

Später unterhalten sich Ute Christine Berger und Marcus Neufanger mit dem Gast. Neufanger ist schon lange begeistert und bereut, dass ihm als Kind keine Stolterfoht-Gedichte vorgelesen worden sind. „Ich wäre angefixt gewesen“, sagt er. „Meine Kinder nicht“, entgegnet Stolterfoht trocken. „Was hat ihn zu dem Sprachstil inspiriert?“ möchte Berger wissen. Seine Quellen waren die Geschichten aus Büchern des radikalen Pietismus. Aber die waren sehr teuer. Er wünschte sich zu jedem Geburtstag und Weihnachten eines. Nun besitze er einen Meter dieser Lektüre.
Er liest noch drei Gedichte aus Holzrauch über Heslach. Engelstrompete, Muskat und Tollkirsche – es geht um Drogen und Rausch, der text lautet genau so:

und nie, wirklich nie, hat uns die pflanze um bilder betrogen. informationsästhetische bilder, bilder der entropie, geschaute edv usw.

Autobiografisch? Er grinst und nickt, Erinnerungen an eine schöne, rebellische Jugend.

Sonja Alexa Schmitz, Haller Tagblatt, 17.5.2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Michael Braun: Das Schöneberger Himmelreich
signaturen-magazin.de

 

Weltbekannt, doch ungelesen? Biblisch-hebräische Poesie zwischen Kunst und Wahrheit – Mit Arnold Stadler und Ulf Stolterfoht, Moderation Gundula Schiffer virtuell im  Kölner Literaturhaus am 21.1.2021.

 

Marcel Beyer trifft im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur auf Ulf Stolterfoht. Ein Gespräch über selbstauferlegte Fesseln, Authentizitäts-Signale und den Neid auf fremde Wörterbücher.

Ulf Stolterfoht mit Steffen Popp im Parlandopark: Liebes System: nicht ohne Axt!

Ulf Stolterfoht – Oskar Pastior. Theorien der Literatur II, Episode 4. Guido Graf im Gespräch mit Ulf Stolterfoht, Litradio 29.11.2021

 

 

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Porträtgalerie: Galerie Foto Gezett + Dirk Skiba Autorenporträts +
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Ulf Stolterfoht liest 2009 im Aufnahmestudio von lyrikline.org.

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