Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte

Stolterfoht-Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte

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(Ernst Jandl)

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich wirklich sehr darüber, heute Abend für Sie die 15. Münchner Rede zur Poesie halten zu dürfen, auch wenn ich fürchte, dass sich die Einladung an mich einem Missverständnis verdankt. Dieses Missverständnis besteht in der Annahme, dass ich als jemand, der ab und zu, also hauptberuflich, Gedichte schreibt, auch in der Lage sein müsste, Erhellendes über Gedichte im Allgemeinen, über die ganze Gattung Lyrik, gar über (großgeschrieben) POESIE zu berichten. Oba i bin’s ned. Und Sie hätten eine erfrischend kurze Rede gehört.
Es ist nun aber so, dass ich zwar wenig über Gedichte weiß, viel weniger als die meisten von Ihnen, die Sie mir, wie es aussieht, weiter zuhören müssen, dass ich aber leider einiges weiß über meine Erfahrungen und Empfindungen beim Lesen von Gedichten, und dass ich mich Ihnen, nach der sympathischen Zurückgenommenheit zu Beginn, jetzt ganz großspurig als Experte für Euphorie andienen möchte. Und wenn ich dabei immer mal wieder darauf angewiesen sein werde, Analogien zur populären Musik zu ziehen, dann nicht, um in der Tradition Dario Fos zu fordern, Lyrik müsse wie Fußball oder gar wie Rockmusik sein, sondern um Ihnen, von denen ich nicht wissen kann, ob Sie meine euphorischen Erfahrungen, gerade mit vermeintlich schwieriger Lyrik, teilen, idealerweise zu demonstrieren, dass Gedichte wie Gedichte sein müssen, um mit ihnen, den Gedichten, dann aber doch Vergleichbares erleben zu können. (Nur am Rande und in Klammern gesprochen, kann ich Ihnen als eingetragenes Mitglied des SV Stuttgarter Kickers e.V. versichern, dass ich mit der Lyrik weitaus mehr Glücksmomente erlebt habe als auf dem Kickers-Platz, wo ja tatsächlich immer nur die Wahrheit lauerte. Bei der Musik hält es sich ungefähr die Waage.)
Dieses Interesse an Euphorie, also an der Einlösung eines Glücksversprechens in seinen ganz verschiedenen lyrischen Exemplifikationen, ist aber nur das eine. Den anderen Anstoß für diese Rede verdanke ich Diedrich Diederichsens ganz und gar großartigem Buch Über Pop-Musik – einem Buch, in dem es, wenn ich es richtig verstehe, gar nicht um Musik geht, sondern um uns, wenn wir Musik hören. Ich möchte dieses Buch jedem und jeder von Ihnen ans Herz legen und bedanke mich für tausend Anregungen, die mir dieses Buch gegeben hat. Wenn es so etwas über die neuere deutschsprachige Lyrik gäbe, ach je, dann wäre viel gewonnen!

Weil Euphorie, wie könnte es anders sein, auch bei Diedrich Diederichsen eine wichtige Rolle spielt, und weil natürlich immer alles mit der Initiation beginnt, hier ein längerer Abschnitt aus Über Pop-Musik:

Es war vor 43 Jahren. Die Vorgruppe hieß Matthews Southern Comfort. Es war die Band von Ian Matthews, der, wenn ich mich nicht irre, durch eine andere Band bekannt geworden ist: War er nicht einmal bei Fairport Convention? Auf jeden Fall hatten die damals einen Hit mit „Woodstock“, der so genannten Generationshymne von Joni Mitchell, gespielt als Country-Rock mit Pedal Steel Guitar. Auf der Bühne stand auch eine Pedal Steel Guitar, die mich sehr faszinierte, aber sonst kann ich mich an nicht viel erinnern. Ich hatte aber schon mal auf einem Schulfest eine Band live spielen sehen (sie hießen The Selection, Motto: „Pop in Action – The Selection“), der bloße Anblick von Menschen auf einer Bühne konnte es also nicht sein, obschon es sich immerhin um die Bühne der Musikhalle handelte.
Ganz anders erlebte ich den Auftritt der Hauptband, sie hieß Johnny Winter And. Es war ein Auf-Tritt. Winter sprang auf die Bühne wie ein wildes Pferd und rannte unruhig hin und her. Dabei stöpselte er seine Gitarre ein und stieß einen seiner Schreie aus. Diese Schreie waren keine expressiven Kitschschreie authentischer Individualität, sondern pure Soundeffekte, ein Erkennungszeichen. Dieses Erkennungszeichen, offensichtlich live und vor meinen Augen produziert, vereinigte sich mit diesem ebenfalls offensichtlich persönlich anwesenden Körper zu einem sehr kurzen, aber unglaublichen Moment von Präsenz, der mich – wie man so sagt, aber wirklich – erschauern ließ. Dieser bislang nur als medialer Effekt gekannte Winter-Sound, der nur von Fotos bekannte hagere Körper dieses strähnig langhaarigen Albinos erstanden plötzlich als miteinander verbundene Attribute eines sehr wirklichen Körpers vor unserer aller überraschter Augen. Ein Geist war herabgestiegen und benahm sich komisch. Mir stockte der Atem. Wenn ich so sagen darf.
(…)
Und nun war das nicht alles, denn Rick Derringer war jetzt auch da und er war genauso schnell. Er stand Winter gegenüber und antwortete. Winter warf den Kopf zurück und wieherte, Derringer prügelte zurück. Stundenlang. Der Rest waren nun Gitarrenschlachten, Gitarrengewichse, Genudel und Gegniedel, aber immer hypernervös, ungesund schnell und vor allem zu zweit. (…)
Nur wenn man ein solches Konzert erwischt, gelingt die Initiation.

 

 

 

Ulf Stolterfoht versucht in seiner Münchner Rede zur Poesie

an verschiedenen Beispielen zu demonstrieren, dass Lyrik nicht wie Fußfall, nicht wie Rockmusik sein muss – dass es ganz im Gegenteil völlig ausreicht, wenn Gedichte wie Gedichte sind, um vergleichbare Gefühle von Euphorie auszulösen. Nichtsdestotrotz finden gelegentliche Ausflüge in den Bereich der populären Musik statt, und die Wurlitzer Jukebox Lyric FL spielt beispielhafte Tracks von u.a. Oskar Pastior, Reinhard Priessnitz, Ernst Herbeck, Friedrich Hölderlin, Friederike Mayröcker, Gunter Falk, Ernst Jandl, Dieter Roth, Helmut Heißenbüttel und Dominik Steiger.

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext 2015

 

Beiträge zu diesem Buch:

Michael Braun: Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand
signaturen-magazin.de

Walter Fabian Schmid: Auf der Suche nach dem Kick
poetenladen.de, 28.11.2015

Marie Luise Knott: Rote Milch
perlentaucher.de, 12.11.2015

 

Marcel Beyer trifft im Rahmen der Liliencron-Poetik-Dozentur auf Ulf Stolterfoht. Ein Gespräch über selbstauferlegte Fesseln, Authentizitäts-Signale und den Neid auf fremde Wörterbücher.

Ulf Stolterfoht mit Steffen Popp im Parlandopark: Liebes System: nicht ohne Axt!

Ulf Stolterfoht – Oskar Pastior. Theorien der Literatur II, Episode 4. Guido Graf im Gespräch mit Ulf Stolterfoht, Litradio 29.11.2021

 

 

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Ulf Stolterfoht liest 2009 im Aufnahmestudio von lyrikline.org.

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