Ulf Stolterfoht: Zu Ernst Jandls Gedicht „franz hochedlinger-gasse“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „franz hochedlinger-gasse“ aus Ernst Jandl: die bearbeitung der mütze.

 

 

 

 

ERNST JANDL

franz hochedlinger-gasse

wo gehen ich
liegen spucken
wursten von hunden
saufenkotz

ich denken müssen
in mund nehmen
aufschlecken schlucken
denken müssen nicht wollen

 

„Es gibt heute merkwürdige Klischees des Urteils“,

schreibt Helmut Heißenbüttel in seinem Nachwort zu Ernst Jandls Laut und Luise und fährt fort:

wer etwa für moderne Literatur ist, gilt von vornherein als Gegner der Tradition; aber auch umgekehrt, wer Vergangenes kennt und liebt, wird für einen Verächter der Moderne gehalten. Daß erst im Risiko der Progression, im Ausprobieren und ersten Benennen dessen, was eben nie vorher gesagt oder gezeigt worden ist, die Tradition sinnvoll eingelöst und ihr Erbe weitergetragen werden kann, dieser Gedanke widerspricht offenbar der Übereinkunft, auf die sich unsere Zeit eingelassen zu haben scheint.
Wenn ich sage: die in diesem Band vereinten Gedichte von Ernst Jandl sind Gedichte wie eh und je (soweit es je Gedichte wie eh und je gegeben hat), so dürfte ich das nach dieser Übereinkunft nur sagen als ein modernistischer Snob des Paradoxons oder aber mit der Ignoranz des Avantgardisten, der alles ignoriert, was vor 1911 geschrieben worden ist. Ich habe jedoch weder ein Paradoxon im Sinn, noch meine ich ein Ignorant zu sein. Ich sage in voller Überzeugung, daß dies Gedichte sind.

Nun stammt Ernst Jandls Gedicht „franz hochedlinger-gasse“ nicht aus Laut und Luise, sondern aus dem fünfzehn Jahre später erschienenen Band die bearbeitung der mütze von 1981, und ist geschrieben in einer Sprache, die Ernst Jandl „heruntergekommen“ genannt hat – und doch bin ich mir sicher, dass Helmut Heißenbüttel auch dieses Gedicht als ein „Gedicht wie eh und je“ beschrieben hätte.Was wir in Jandls Gedicht erleben können, ist ja nicht nur Sprache in einem unwahrscheinlichen, sondern eben auch in einem hoch organisierten, ungeheuer komplexen Zustand, und um das zu demonstrieren, reicht es völlig, sich den letzten Vers in seinem vielfachen Schrittsinn genauer anzuschauen:

denken müssen nicht wollen

Hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, meine Lesarten – ein Sonett:

denken [Komma] müssen nicht wollen
denken müssen [Komma] nicht wollen
denken müssen nicht [Komma) wollen
denken müssen nicht wollen [Komma]

Ich muss es denken, aber ich will es nicht tun.
Ich muss es denken, aber ich will es nicht denken.
Ich muss es nicht denken, aber ich will es tun.
Ich muss es nicht denken, aber ich will es denken.

Ich denke, dass ich es tun muss, aber ich will es nicht tun.
Ich denke, dass ich es tun muss, aber ich will es nicht denken.
Ich denke, dass ich es nicht tun muss, aber ich will es tun.
Ich denke, dass ich es nicht tun muss, aber ich will es denken.

Ich denke an das Wort „müssen“, nicht an das Wort „wollen“.
Ich denke nicht an das Wort „müssen“, sondern an das Wort „wollen“.

Und so weiter, und so fort – ad libitum. Was für ein verzwickter letzter Vers, was für ein unfassbar gutes Gedicht. Was nun aber nicht allein der Komplexität geschuldet ist, sondern vor allem der Differenz zwischen elaborierter Form und restringierter, zertrümmerter Sprache.

Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015

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