– Zu Helmut Heissenbüttels Gedicht „Gedicht über Phantasie“. –
HELMUT HEISSENBÜTTEL
Gedicht über Phantasie
Öl Schweiß Gerüche Schweißkolben Treppengeruch
Bettgeruch da muß man die Hand die anfaßt umfaßt
um Hartes um Weiches Metall Zebedäi reinschicken
sich hin und her gerollt Kastanien Kopf ganz wie sagt
man voll von schmutzigen schmutzige Phantasie ge-
steigert zu dem Bedürfnis zu sagen von mannigfaltig
Verwicklung in der sich konkret durch die Umstände
auseinandergebogener Schenkel verrenkt Geschmack
der Pulpa Klitorides Anastatica Hierochuntica Dös-
chen zu bürsten es tun Nummer schieben Stoßgeschäft
verkrampfte Vagina aus Angst Kinder zu kriegen die
Sacknaht zu lecken die immer die gleiche Figur kopf-
über verzerrt kürzer sich außer von unten geschraubter
Hintern stumm sich verschiebende Phase verbraucht
unverbraucht schlapp ausgehöhlt ausgearbeitet
schwach besetzt und kräftig ausgebildet schwach aus-
gebildet und kräftig besetzt sperrbeinig sperrfleischig
Spalt spalten glatt weich kalt heiß Rückbezug
Rückenzug besonders ermüdend Ausschweifungen
vor dem Spiegel Damenbesuch nur an Nachmittagen
Schlüpferjagd als Ventil and the question as to how
many times a night a man can do it is a favorite
topic of grau still des Juli morgens Wand lila sperr-
beinig auseinandergebogen talsohlenflach naß erschöpft
was ist der des Sexuellen Tropfenglanz Zauber warum
so großen ersten Blicks dans des cas pareils
sperrbeinig sperrbildrig fenstersturzläutend c’est
toujours unbedacht blindlings die gleiche sache
dass es in seiner ganzen quälenden Peinlichkeit völlig unpeinlich ist. Der, der hier spricht, womöglich über sich selbst spricht, hat ganz offensichtlich seine Wahl getroffen: gegen Rücksichtnahme, für Schamlosigkeit. Und ich, der ich begeistert bin von diesem Gedicht, immer wieder aufs Neue, weiß nicht einmal, ob Helmut Heißenbüttels „Gedicht über Phantasie“ ein gutes Gedicht ist, zumindest könnte ich Ihnen nicht erklären, warum und weshalb. Aber wenn ich es lese, spüre ich, dass seine Freiheit auch meine sein könnte – und dass sich die Gefühle von Freiheit und die von Euphorie wahrscheinlich gar nicht trennen lassen. Das Glücksversprechen, eingelöst von einem zweifelhaften Gedicht!
„Von Pop-Musik als Kunst zu sprechen“, schreibt Diedrich Diederichsen, „heißt nicht, von besonders guter Pop-Musik zu sprechen, sondern von solcher, die ihren spezifischen, medial und disziplinär unreinen und auch unfreiwilligen, ungeplanten Charakter zum Gegenstand von künstlerischen Überlegungen macht, mithin bewusst mit der Pop-Musik und ihren historischen Bedingungen arbeitet und nicht wie die meiste Pop-Musik aus der Illusion heraus, etwas anderes zu machen, z.B. Musik-Musik, Jazz, Politik, Religion etc. Man könnte aber sagen, dass es eine, wenn nicht die Qualität von Pop-Musik ist, dass sie im Schatten solcher für sie spezifischen und typischen Irrtümer, Produktionen zulässt, die gerade wegen ihres unfreiwilligen Charakters einen Einspruch gegen kulturindustrielle und hochkulturelle Produktionslogiken ermöglichen (…).“
Die Lyrik jedoch, könnte man in Abwandlung des bekannten Wittgenstein-Zitats aus dem Tractatus sagen, die Lyrik muss für sich selber sorgen.
Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015
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