Ulf Stolterfoht: Zu Oskar Pastiors Gedicht „Abendlied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Oskar Pastiors Gedicht „Abendlied“ aus Oskar Pastior: Wechselbalg

 

 

 

 

OSKAR PASTIOR

Abendlied

Der Tag legt sein Verhalten an den Flauschhund.
Ein Kleeblatt bringt den Stadtverkehr zum Schäu-
men. Kein Schlußkapitel fällt vom Baum der Ener-

gie. Fast langsam wird die Schleife sanft magne-
tisch – die Induktion schließt Daten ein, nicht
aus. Verhalten knickt der Nachbar ins Papierbett.

Kein Lüftchen legt sich an, es geht mit Dingen
zu. Leicht unhygienisch liegt ein Arm im Schließ-
fach. Auch das Paniermehl schlingert aktenkun-

dig; Sachzwänge bringen etliches zum Tragen, ach
wann? Die Gurkenblüte schließt ihr Machtverhält-
nis aus. Es kehrt das heiße Fett sich nicht an

Kind und Kragen – den Phänomenen wächst die Spu-
le an den Kern. Postalisch wird ein schlankes
Haar gebogen; auf kleinem Fuße köchelt die Ver-

bene. Schon naht, was sich ins Stil-Empfinden
schickt, auf leisen Katalogen. Am Kühlturm geht
Dianas Schwester außen in die Knie. Verhalten

steigt die Induktion in Scheuerleisten – kein Irr-
tum legt den Mund ans Ohr. Der Tag schließt seine
Gurken an den Drehstrom. Steinzeit – gute Nacht.

 

Es war vor 34 Jahren.

Das Buch, das ich mir gerade in Wendelin Niedlichs Buchhandlung gekauft hatte, hieß Wechselbalg und der Autor Oskar Pastior. Ich lag im Stuttgarter Westen am Rand des Feuersees im Gras, es war um die Mittagszeit, aber schon sehr heiß – und ich hatte so etwas tatsächlich noch nie gelesen:
Was war das denn, um Gottes Willen? Und wie konnte es sein, dass ich kein Wort, keinen Satz verstand, und doch genau wusste, dass ich genau das immer hatte lesen wollen, und dass ich es jetzt gefunden hatte, und dass ich nie mehr etwas anderes würde lesen wollen. Das Gefühl, eine Mauer durchbrochen zu haben, einfach so, ganz leicht, ohne jede Anstrengung, und hinter dieser Mauer tat sich etwas auf, ein Raum, ein wirklicher Raum, in dem man würde leben können. Andere erleben so etwas mit der Bibel.
Ich schwänzte jedenfalls das samstägliche Mittagessen und verkroch mich mit den Wechselbälgern in die Gaststätte Stadtbad, um sie dort noch zweimal komplett zu lesen. Die Euphorie hielt an, auch durch einige Biere befeuert, und ich, der ich mich an diesen endlos langen Nachmittag tatsächlich noch ganz genau erinnern kann, begann allmählich zu begreifen, was es mit diesen Gedichten auf sich hatte. Die Sensation dieser Texte, ihre unerhörte Freiheit, lag natürlich in ihrer Unverständlichkeit. Denn Unverständlichkeit ist etwas ganz anderes als Schwerverständlichkeit: Das schwer verständliche, hermetische Gedicht fordert mich als Leser zu hermeneutischen Bestleistungen auf, es ist klüger als ich und hält etwas vor mir verborgen, aber ich, wenn ich nur intelligent genug, belesen genug und dazu noch beharrlich bin, kann mir Einlass verschaffen in die geheimen Kammern der Schwerverständlichkeit. Wenn das schwer verständliche Gedicht das aristokratische, elitäre und hierarchische Gedicht ist, denn genau so hatte ich diese Gedichte im Deutschunterricht erlebt – der nebenbei ein sehr guter war –, dann waren diese Gedichte demokratisch und unhierarchisch. Dass ich sie tatsächlich auch für nicht elitär halte, genau darum geht es ja in dieser Rede.
Wie auch immer: Das Unverständliche dieser Gedichte war also eher ein Nicht-verstehen-müssen als ein Nicht-verstanden-werden-können oder -wollen. Und das auch nur auf der semantischen Ebene. Denn auf der syntaktischen oder besser: strukturellen Ebene gab es ja Angebote fürs Erkennen, Erfahren und Verstehen in Hülle und Fülle – mehr als in allen anderen Texten, die ich bis dahin gelesen hatte. Von der Großstruktur des Abendlieds in der Tradition von Paul Gerhardt und Matthias Claudius muss man zum Beispiel gar nichts wissen, da man sie sowohl rhythmisch als auch, na ja, schwundsemantisch vorgeführt bekommt: „Der Tag legt sein Verhalten an den Flauschhund“ am Anfang, und am Ende: „Der Tag schließt seine / Gurken an den Drehstrom. Steinzeit – gute Nacht“ (ein kleiner Exkurs: Können Sie sich noch an die Autoaufkleber der Atomkraft-Befürworter Anfang der Achtziger erinnern: „Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“ und „Steinzeit – nein danke!“? Oskar Pastiors Gedichte sind fast immer auch sehr, sehr lustige Gedichte!), aber noch viel interessanter scheint mir, was im Inneren des Gedichts passiert. Dort nämlich ist jeder Satz, jede dieser rhythmisierten Perioden ein strukturelles Zitat, wobei die Bandbreite von „minimal bearbeitet“, etwa: „die Induktion schließt Daten ein, nicht aus“ bis „vollständig neu befüllt“ reicht, etwa bei „Auch das Paniermehl schlingert aktenkundig“.
Jeden dieser Sätze hat es, in dieser rhythmischen Struktur, aber in einer anderen semantischen Realisierung, irgendwann einmal gegeben, wir aber müssen uns nun, um Oskar Pastiors Gedicht richtig zu verstehen, nicht auf die Reise begeben und die ursprünglichen Sätze zu finden versuchen – es reicht völlig, die der rhythmischen Struktur eingeschriebene Geste zu identifizieren: konstatierend, belehrend, romantisierend, bedauernd, verordnend, entschuldigend usw., und man hat schon sehr viel begriffen.
Nun wendet Oskar Pastior darüber hinaus noch ein weiteres strukturelles Verfahren an, das mich damals, obwohl ich nichts wusste von Roman Jakobson und seinen Überlegungen zu Symmetrie und Parallelität, wirklich umgehauen hat. Über das Gedicht ist nämlich ein repetitives Gitter aus internen Verweisen gelegt, ein symmetrisches Raster von Bezüglichkeiten, also etwa von Tag zu Tag und von Induktion zu Induktion, von der Gurkenblüte zur Gurke, vom Verhalten (Substantiv) zu verhalten (Adjektiv), vom Arm zum Fuß zum Knie usw. usf. – wenn Sie an Paranoia interessiert sein sollten, der dunklen Schwester der Euphorie, dann untersuchen Sie das Gedicht auf solche Phänomene – Sie werden kein Ende finden! Aber das Schönste: Sie müssen das gar nicht tun, diese Strukturen haben es sich längst gemütlich gemacht in Ihnen, irgendwo in Ihrem Symmetriezentrum, und irgendwann, am Tresen oder beim Einkaufen, ohne dass Sie es wollten, werden Sie sie benutzen, und dann ist es passiert: Sie haben das Gedicht verstanden.

Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015

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