Ulf Stolterfoht: Zu Reinhard Priessnitz’ Gedicht „zitronen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Reinhard Priessnitz’ Gedicht „zitronen“ aus Reinhard Priessnitz: vierundvierzig gedichte

 

 

 

 

REINHARD PRIESSNITZ

zitronen

die abgeretteten; bei den aufgebäuden
beitrauern sie auf den nachfeldern
nach überbildern; da hinterquadern sie
durch umhaltung vorsterne; einquellen
zuschatten, die durchkreisten; unterhoffen
dafürwärts aus querzielen ausluft her,
hinträufeln, unter nebenzungen, dafür
aus missgetauchten hergruppen ihr unbier,
die sogekrümmten zwischentrümmer;
hinter aussersprung und forttaste
und dem entwaschenen rücktraum immerein,
wegtrommeln sie innerbleibend den nähersog:

die quergruppen; aufgebildet vortauchen sie
hinter eingehofftem nach missgetrauertem;
hinkrümmen neben übertrommeln unkreise;
bei innergetrümmertem näherhalten umsterne,
die von durchbieren untersogenen; sie
ausserschatten zwischen dafürquadern
durch sogezielte abgeträufel rückbleiben;
aus zuwaschung nachträume; hintertasten
über fortfelder herquellen; die immerwärtsen;
dafür enttauchen sie, nebengezüngelt,
den beigebäuden, die zwischengelüfteten,
dem aussprung; wegretten sie sich da.

 

Dieses Gedicht,

aus Reinhard Priessnitz’ einzigem zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband vierundvierzig gedichte von 1978, habe ich viel zu spät gelesen, 1985 nämlich, dem Jahr, in dem Reinhard Priessnitz mit gerade einmal vierzig Jahren gestorben ist – und trotzdem kam dieses Gedicht für mich genau zur rechten Zeit. Ich studierte mittlerweile in Bochum, zumindest tat ich so, und das Schreiben war immer wichtiger geworden und nahm auch immer mehr Zeit in Anspruch. Aber ich hatte mich mittlerweile selbst in eine Sackgasse manövriert. Schon vor der exzessiven Lektüre von Oskar Pastiors Gedichten, mehr aber noch danach, hatte ich ein immer strenger regelgeleitetes Schreiben verfolgt: Anagramme, Lipogramme, Permutationen aller Art usw. – der ganze Oulipo-Katalog eben, einfach deshalb, weil es mir so schien, als gäbe es unhintergehbare erkenntniskritische Grundeinsichten, die es verbieten, in Gedichten ,über‘ oder ,von‘ etwas zu schreiben, etwas ,zum Ausdruck zu bringen‘, womöglich auch noch ,aus sich selbst zu schöpfen‘. Dieses Problem, buchstäblich nichts zu sagen zu haben und tatsächlich auch nichts sagen zu wollen, ließ sich mit strengen Regeln sehr elegant lösen: Sollte nun nämlich doch etwas zur Sprache kommen, dann hat es die Regel so gewollt – ich habe sie ja nur befolgt. Nun hänge ich diesen erkenntniskritischen, hyperskeptizistischen Haltungen bis heute an und halte sie nach wie vor für richtig, nur machte irgendwann das Gedichteschreiben keinen so richtigen Spaß mehr. Und die Euphorie, die ich nicht mehr nur beim Lesen, sondern eben auch beim Schreiben erlebt hatte, und um die sich bis heute alles dreht (warum macht man es denn sonst?), die war auf einmal weg. Und dann kam dieses Gedicht. Wo aber Langeweile droht, wächst das Rettende auch.
Nun wirken die „zitronen“, zumindest auf den ersten Blick, ziemlich streng gefügt und der Bauplan scheint leicht nachvollziehbar – tatsächlich hat sich Reinhard Priessnitz in einem Brief an Chris Bezzel sehr ausführlich über das Schreiben gerade dieses Gedichts geäußert. Ich mache es deshalb ganz kurz: Man bilde einen Pool von – wenn ich richtig gezählt habe – 82 sprachlichen Versatzstücken, bilde daraus 30 Komposita und fülle mit den Resten auf. Fertig ist die erste Strophe. Man wiederhole diesen Vorgang ein zweites Mal und achte darauf, Doppelungen zu vermeiden. Fertig ist die zweite Strophe. Und damit das Gedicht.
Das wirkt überaus konsequent und strikt, ist es aber ganz und gar nicht! Es fängt damit an, dass den 82 Partikeln der ersten Strophe 84 in der zweiten gegenüberstehen, was der unterschiedlichen Anzahl von Artikeln und Personalpronomina geschuldet sein mag, und vielleicht sogar von der ursprünglichen Regel gedeckt wurde – Konsequenz stelle ich mir dennoch anders vor. Die zweite Inkonsequenz scheint mir darin zu liegen, dass die Versuchsanordnung nur zweimal durchgespielt wurde. Warum nicht, der Anzahl der Komposita entsprechend, dreißigmal, so dass jede mögliche Zusammensetzung auch realisiert wäre. Oder, gemäß der Versanzahl der einzelnen Strophe, zwölfmal? Oder, von mir aus, auch nur viermal, einfach um dem Ganzen den Anschein der Überprüfbarkeit zu geben und den Verdacht zu entkräften, man hätte alle Möglichkeiten durchgespielt, aber nur zwei, vom Autor mit Bedacht ausgewählte Versionen hätten vor dessen Augen Gnade finden können – die Kardinalsünde beim regelgeleiteten Schreiben. Die dritte Inkonsequenz besteht für mich darin, dass die Versatzstücke für die Komposita-Bildung ganz offensichtlich nicht zufällig ausgewählt wurden, sondern sehr wohl hinsichtlich ihrer Poesiefähigkeit: retten, trauern, sterne, quellen, schatten, hoffen, traum bzw. unter dem Gesichtspunkt ihrer Nicht- oder Kaum-Poesiefähigkeit: quader, gruppe, bier, trümmer, taste, trommel usw. Ich bin mir sicher, dass alle drei Inkonsequenzen dieselbe Ursache haben: Es darf nicht langweilig werden! Es darf auf gar keinen Fall langweilig werden!
Und mir, als ich dieses Gedicht zum ersten Mal gelesen habe, wurde es nicht langweilig. Ganz und gar nicht. Und was ich gehört habe, war nicht nur das Gedicht, sondern auch das Kratzen von Fingernägeln an der Zellenwand. Vor allem wusste ich, dass der, der da kratzt, für mich mitkratzt. Und dieses Mitkratzen werde ich den Gedichten von Reinhard Priessnitz niemals vergessen.

Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015

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