Ulf Stolterfoht: Zu Ulf Stolterfohts Gedicht „immer stärkere lesergehirne…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulf Stolterfohts Gedicht „immer stärkere lesergehirne…“ aus Ulf Stolterfoht: fachsprachen XIX–XXVII.

 

 

 

 

ULF STOLTERFOHT

immer stärkere lesergehirne bedrohen die wirkmacht der dichtung.
während früher ein gedicht nur einige wenige informationen enthielt
vermittelt heute das laden von großen dateien ein völlig neues lyrik-
gefühl. neben strophen mit komplexen erkenntniseffekten harren
brettharte verse des schmieds. das gedicht das ich nun für uns ausge-

sucht habe heißt „tastaturereignisse“ und läßt sich leicht im baukasten-
prinzip zusammenstecken. auf gehts. wenn du TEXT startest öffnet
sich automatisch ein feld: krumig schollig glänzend fett. folgeeindruck:
frappant! abnorm hoher fruchtstand. am bildrand weitet sich das fenster
„erntehelfer“ bereits zum veritablen pflücker. in rascher folge rauschen

zeichen übers blatt: icon-gewitter / morphischer bums. TEXT schiebt
beharrlich klone nach: rübe wurzel strunk. schote scheint aus der mode.
schade. am siloausgang wählt man die farbe. „schlamm“ bietet sich an.
gestocktes ocker. weiß. überraschend erscheint: „hostie! du hast bereits
x verse geschrieben. dein ziel ist denkbar nah!“ oder in code: <y – u hat

z rationen sinn gespeichelt – kühl!> zieh die kadenz um acht werte ran.
dann: halte die knöpfe zärtlich gedrückt. stilles glück. schreibt man nun
wie in unserm falle bruch braucht man sich nicht zu wundern – ein lyrik-
freund steht auf und klagt: „im wirklichen leben fallen zeilen aber nicht
so gradlinig nach unten“. gütiger gott! nimm einen zünftigen sinus und

du erhältst authentische welle bzw. zeilenfall real. was folgt ist reine
fleißarbeit: metrum takten / reime schichten/ dann alles schön herbst-
lich einrichten. fehlt nur noch das signal für POEM OVER. ich habe
mich für einen sound von schlingmeister entschieden: „stein der in
trübe brühe fällt“. das quintett ist komplett. vorhut hat ruh. jetzt du.

 

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lyrische gegenstände revisited

was es nicht gibt: eine stabile außenwelt. was es sehr wohl gibt: unsere vorstellung davon (und irgendetwas unbestimmtes, auf das wir uns beziehen). maßstab für das alltägliche sprechen ist deshalb ausschließlich der erfolg, nie aber solche phantome wie abbildungstreue oder wahrhaftigkeit. man könnte vielleicht sagen, daß der gegenstand der alltagsrede in erster linie die kontrolle ihres eigenen funktionierens ist, etwa: war das verständlich? oder: dazu später mehr. diese form einer alltagsrhetorik geht aber viel, viel weiter: kennen wir uns denn? vielleicht sollte man sich das genauer ansehen. und: doch lesen sie selbst! einmal auf diese schiene gesetzt läßt sich so jeder geäußerte satz als eine umstandserkundung verstehen. „welt“ kommt nur noch in gänsefüßchen vor. wenn man nun in der literatur, in der lyrik im speziellen, nach wie vor am gegenstandsbegriff festhält, dann scheint mir das zumindest naiv zu sein. die gegenstände eines gedichts, also das von wörtern bezeichnete, aber auch der lyrische gegenstand im übertragenen sinne: die liebe etwa, der herbst oder der aufruf zum politischen Widerstand, können auch und gerade im metaphorischen sinne natürlich niemals gegenstände sein. oder einfacher: bei gegenständen der vorstellung ist (wenn überhaupt) nur der prozeß der vorstellung ein gegenstand, der gegenstand selbst (das dargestellte) selbstverständlich nicht. gegenstände im herkömmlichen sinne spielen in der lyrik überhaupt keine rolle. so wie sie im leben keine rolle spielen. wenn man nun also sagen kann, daß das, was in der lyrik verhandelt wird, alles mögliche sein kann, nur eben kein gegenstand, so bleibt als letzter zufluchtsort das gedicht selbst als gegenstand bzw. und das ist vielleicht der Witz des ganzen, nicht einmal mehr das gedicht selbst, sondern seine konstruktion und unsere vorstellung davon. an dieser stelle schüttelt der leser erfahrungsgemäß den kopf und murmelt: „postmoderne“ oder „de man“ – wir aber brüllen vorauseilend und mit dem gleichen recht zurück: „gorgias!“, „berkeley!“ und besonders schneidend: „pastior!“. oskar pastior hat es nämlich in seinen gedichtgedichten schon 1973 exemplarisch vorgeführt, wie eine solche meta-dichtung aussehen könnte – leider waren die ergebnisse seiner bemühungen so sensationell, daß dieser königspfad zum gegenstand eigentlich nur noch für ihn selbst begehbar war. was mir nun vorschwebt wäre: den meta-charakter der pastior’schen gedichtgedichte zu öffnen in richtung einer noch zu schreibenden para-dichtung, durchaus im sinne der paratexte gérard genettes. also etwa: handlungsanweisung statt handlung, bauplan statt haus, klappentext statt text. „es würde mich freuen, wenn meine argumentationslinie einigermaßen nachvollziehbar wäre“ – auch so ein satz!
das von mir benutzte material ist heft 174 der computerzeitschrift knowware mit dem titel spiele in flash. ab flash 5 – für einsteiger. für mich, der ich noch nicht einmal das einsteiger in anspruch nehmen möchte, übt die dort verwendete, wahrscheinlich stark simplifizierte programmiersprache einen eigenartigen reiz aus. mir ist es jedenfalls unmöglich, die sorgsam beschriebenen schritte dieser spielprogrammierung anders zu lesen als auf eine poetologisch-präskriptive weise: genau so mußt du es machen, wenn du ein einigermaßen vernünftiges gedicht schreiben willst! bis dahin – so sagt man dann – ist es freilich noch ein weiter weg.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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