1: BOXWOOD
Der Vogel auf dem Gatter und die grasende Ziege darunter sind eine hübsche kleine Bruchzahl, denkt der Zentaur. Er fragt sich, ist dieser Gedanke mehr Mensch oder Vieh, mehr Prosa oder Poesie. Manchmal fällt es schwer, das ganze Theater – an der Theke stehen, Steak und Erbsen artig mit Messer und Gabel essen – nicht einfach aufzugeben und hinauszugehen, Kopf ins Gras. Doch was sein Magen will, rührt die Zunge nicht an; was sein Mund will, stößt den Magen ab. Durchs Restaurantfenster sieht er Schimmer von Silber und Rosa im Fluss. Der ist so voller Meerjungfrauen und -männern, dass kein Platz für Fische bleibt. Unter der Brücke, eine Gruppe extremistischer Greifen, konzentriert auf ihr Graffiti – Lang lebe die Berliner … Die Farbe ist alle, und während sie die nächste Dose in ihren verkrampften Krallen schütteln, buchstabiert der Zentaur Mauer auf seine Serviette, setzt daneben ein Paillettenmädchen, das man in zwei Hälften sägt.
(The bird on the gate and the goat nosing the grass below make a funny little fraction, thinks the centaur. He wonders if this thought is more human than horse, more poetry than prose. Sometimes it’s hard not to abandon the whole rigmarole of standing at the counter – using a knife and fork to politely eat his steak and peas – to go outside and put his head in the grass. But what his stomach wants, his tongue won’t touch; what his mouth wants, his stomach recoils from. Through the restaurant window he sees flashes of silver and pink in the river. It’s so clogged with mermaids and mermen, there’s no room for fish. And under the bridge, a group of extremist griffins, intent on their graffiti – Long Live the Berlin … The spray paint runs out and while they’re shaking the next can in their clenched claws, the centaur spells outWall on his napkin, and sketches next to it a girl in sequins getting sawed in half.)
Meine sehr verehrten Damen und Herren – „You Know This Too“, Sie kennen das auch, behauptet der Titel von Matthea Harveys Text, und was ist das denn, was kennen wir da. Bruchzahlen, klar, dazu die Grenzen, die scheinbar zwischen allem anderen verlaufen: oben und unten, Tier und Mensch, Mann und Frau, Kopf und Bauch, Prosa und Vers, Erbsen und Steaks. Worin wir uns vielleicht nicht auf Anhieb als Kenner ausweisen würden, ist das Denken und Fühlen von Zwitterwesen. Meerjungfrauen. Zentauren. Wir wollen hier auch Maulwürfe, Kurzschlüsse oder giraffenhafte Affen darunter fassen. Aber davon später. Zunächst fällt uns etwas anderes an diesem Text auf. Er ist ja selbst ein Zwitterwesen. Verhält sich wie ein Gedicht, hat rhythmische Sentenzen, genau gearbeitete Lautstrukturen, Alliterationen, sogar Reime. Doch fehlt ihm etwas Entscheidendes, Scheidendes, nämlich Verse, oder sagen wir umgebrochene Zeilen. Statt dessen finden wir ungebrochene Zeilen, einen kompakten Textblock, Absatz, eine Box – ein Prosagedicht.
Das gibt es nicht.
Wenn das ,Prosagedicht‘ tatsächlich in Prosa geschrieben ist, kann es kein Gedicht im definierten Sinne sein; wenn es aber ein Gedicht, also in Versen geschrieben ist, kann es keine Prosa sein. (Dieter Lamping: „Das lyrische Gedicht“)
Eine Rede also will ich machen über nichts. Über Abwesenheiten. Etwas, das nicht der Rede wert, wehrte es sich nicht gegen eine besondere Art der Rede, die gebundene „im definierten Sinne“, wie man sagt (noch einmal: „in poetischer Form, das heißt in Versen“, Meyers Großes Konversationslexikon, 1907), und wie man zu guter Zeit auch hörte, später vielleicht noch beschwor, im Zählen der Silben zum Umschlag in Zauber. Es geht um einen bunten Hund, a monkey who goes like a donkey. Um Gebunden-Ungebundenes, Ungebärdiges in einer Box. Den fehlenden Vers, eine fehlende Fest-Stelle. Um Bewegung, Gegenrede.
Mein lieber Freund, ich schicke Ihnen eine kleine Arbeit, von der man nicht sagen sollte, sie besitze weder Kopf noch Schwanz. Das wäre ungerecht, da doch, im Gegenteil, alles an ihr zugleich Kopf und Schwanz ist, und zwar abwechselnd und jeweils aufeinander bezogen.
So Baudelaire an seinen Freund und Verleger Arsène Houssaye in einem Brief, der später das Vorwort zu seiner 1869 veröffentlichten Sammlung Spleen de Paris wurde, oder auch: „Petit Poèmes en Prose“. Baudelaires Sammlung greift zurück auf die siebenundzwanzig Jahre zuvor erschienenen Gedichte Gaspard de la Nuit von Aloysius Bertrand, zu denen ich mich mehr hingezogen fühle als zu Baudelaires Texten, welche dennoch als Beginn dessen angesehen werden, was sich mit dem Erscheinen von Rimbauds, Mallarmés oder Ponges Prosagedichten, um nur einige Beispiele zu nennen, zumindest in Frankreich als Gattung etabliert hat. Von dort aus reiste die Box um die Welt, fand fast überall Nischen, auch hier – etwa bei Michael Donhauser, Farhad Showghi oder Monika Rinck – und fand in der amerikanischen Lyrik ganze Regale, wo ich sie für mich entdeckte.
Und auch nicht entdeckte. Wenn entdecken entschlüsseln, enträtseln, lichten heißt.
Das erste Gedicht in der Anthologie Great American Prose Poems, die mir aus einem solchen Regal in die Hand fiel, ist von Ralph Waldo Emerson. Es heißt „Woods, A Prose Sonnet“, und seine ersten Sätze lauten:
Wise are ye, O ancient woods! wiser than man. Whoso goeth in your paths or into your thickets where not paths are, readeth the same cheerful lesson whether he be a young child or a hundred years old.
(Weise seid ihr, O uralte Wälder! weiser als der Mensch. Wer auf euren Pfaden wandelt oder tritt in euer Dickicht, wo es keine Pfade gibt, er liest dieselbe frohe Botschaft, sei er ein Kind oder hundert Jahre alt.)
Daran blieb ich hängen. An den Dickichten, die keine Pfade haben. Wo Wald nicht Stamm für Stamm – Zeile für Zeile – lesbar ist, sondern undurchdringlicher wird, scheinbar grenzenlos, oben und unten, Kopf und Schwanz unbestimmbar. Und dennoch: da. Und: lesbar.
This I would ask of you, o sacred Woods, when ye shall next give me somewhat to say, give me also the tune wherein to say it.
(Dies erbitt ich von euch, o heilige Wälder, wenn ihr mir nächstens etwas zu sagen gebt, so gebt mir zum Sagen auch eine Weise.)
So bittet Emerson die Wälder in einem Prosasonett darum, ihm die richtige Sprache – Weise, Stimmung, Ton – der Dickichte zu geben, und hat sie vielleicht schon gefunden, in seiner Box. Der Buchsbaum, der in Emersons Wäldern wahrscheinlich nicht wuchs, wird nicht nur von Instrumentenbauern geschätzt, sondern auch von Drechslern. Aus seinem Holz werden Kästchen gemacht, weshalb sein englischer Name Boxwood ist. Ich hatte gehofft, mit Emersons Spur, seinen Wäldern, der Bitte um den richtigen Ton, einen Pfad zu finden, um über das Prosagedicht zu sprechen. Doch der Vergleich bringt mich zunächst zurück zum Versgedicht.
Die Eigenart des Waldes besteht darin, zu gleicher Zeit geschlossen und allseitig geöffnet zu sein.
Das zitierte ich einmal aus Gaston Bachelards Poetik des Raumes, es ist dort wiederum ein Zitat, ich weiß nicht mehr, von wem, ob Bachelard den Dichter nannte. Damals setze ich hinzu: Ich glaube, ein gutes Gedicht hat eben jenen Charakter. Heute will ich sagen: Ein Prosagedicht ist so. Ein in sich offener, untopografierter Raum, nicht wie das Gedicht in Verse vorstrukturiert, Wege oder Wuchshöhen vielleicht, sondern dickicht, pfadlos. Paul Valéry, via Rosmarie Waldrop:
When the poets enter the forest of language it is with the express purpose of getting lost. (Wenn Dichter den Wald der Sprache betreten, dann mit dem ausdrücklichen Vorsatz, verloren zu gehen.)
Und doch ist das Prosagedicht nicht haltlos, sondern streng eingerahmt, enthalten, in Boxwood, seiner Waldgrenze. Wer darin als Dichter verloren geht, er tut es mit dem Bewusstsein, sich anders zu verlieren als in einem Versgedicht. Was aber ist dieses andere, das sich so offensichtlich versteckt in der Abwesenheit des Zeilenbruchs? Was können uns diese Abwesenheiten – denn es sind, glaube ich, mehrere – über den Umgang des Prosagedichts mit der Sprache sagen, sein ästhetisches Potenzial?
Bei poetenladen.de finden Sie Walter Fabian Schmids kurze Ausführungen zu Uljana Wolfs Münchner Poesierede und die Veranstaltung vom 11.11.2009 im Lyrik Kabinett München zum nachhören.
zwischen Lyrik und Prosa, das seit der wegweisenden Dichtung von Charles Baudelaire als ,Poème en Prose‘ figuriert? Metrum und Reim können ihm zu eigen sein wie in einem Gedicht – aber ihm fehlt der Zeilenbruch.
Was versteckt sich in dieser Abwesenheit und was bedeutet uns das über den Umgang mit Sprache, fragt deshalb die Lyrikerin Uljana Wolf in ihren Erkundungen, die sie in der Reihe Münchner Reden zur Poesie vorstellt: Box Office.
Uljana Wolf erhellt anhand der Unterscheidung von „Arten der Abwesenheit“, wie im prosapoetischen Sprechen der Schritt aus der „Geborgenheit der Genrekonventionen in die Bedrängnis eines brüchig gewordenen Verhältnisses zwischen Repräsentation und Wirklichkeit“ gewagt wird.
„Vielleicht“, so endet diese achte ,Poesierede‘, „ist ein Räusper die kleinste Variante des Prosagedichts, die wir kennen.“
Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2009
Vor drei Jahren erschien der erste Gedichtband von Uljana Wolf, kochanie ich habe brot gekauft. Für dieses Debüt erhielt die Autorin gleich zwei Preise. Gemeinsam mit der Dichterin Viola Fischerova bekam Uljana Wolf den Dresdner Lyrikpreis zugesprochen und im gleichen Jahr erhielt sie – als bislang jüngste Dichterin – den renommierten Peter-Huchel-Preis.
Die Kritiker schrieben zu Uljana Wolfs erstaunlichem Debütband:
Der polnische Ausdruck „kochanie“ bedeutet übersetzt „Liebling“. In den Gedichten erforscht Uljana Wolf die Möglichkeiten und Voraussetzungen von Sprache und Kommunikation, sei sie interkultureller, internationaler oder zwischenmenschlicher Art.
Die kaum merkliche Verschiebung der vertrauten Dinge, der zu erwartenden Tatsachen, der bekannten Worte, der üblichen Perspektive um nur ein, zwei Grad scheint es zu sein, mit der Uljana Wolf es schafft, uns beim Lesen etwas überraschend Neues zu zeigen. Dabei arbeitet sie mit keineswegs ungewöhnlichen Mitteln. Uljana Wolfs Sprache ist sparsam und genau. Das ist alles. Und das ist viel.
Sie selbst sagt über den Entstehungsprozess ihrer Gedichte:
Auf die Frage nach den Ursprüngen seiner Gedichte, dem Woher der Worte, antwortete Peter Huchel einmal: Ich weiß oft nicht, woher die Worte kommen. Es steckt viel Unbewußtes in der Arbeit.
Auch für mich, meint die Dichterin,
liegen die Anfänge eines Gedichts im Zwielicht, in einer Art verdämmerndem Raum… Ein Raum, in dem ich die Zeit lese, und durch die Zeit… die einzelnen Dinge verlieren ihre scharfen Konturen und lösen sich auf in einem alles durchflutenden Medium. In diesen Raum also fällt ein, was im Gedicht zum Fall wird: Autor, lyrisches Ich, Sprecher, Bilder, Erfahrungen, Figuren. Am Gedicht zu arbeiten, heißt, in dieses Fluidum zu treten, eine Auflösung zuzulassen… Anstelle von Fernsicht und vertrauter Sehweisen tritt zunächst eine Undurchdringlichkeit. Das meint keinen Nebel, sondern Bäume, Spinnweben, Sträucher, also Elemente einer Wirklichkeit, die plötzlich ungeordnet, dicht und eigenwillig nah ist. Hier wird zur Bedingung, dass, wer schreibt, den Wald nicht sieht vor lauter Bäumen: Denn aus den Einzelheiten wird das Gedicht verfertigt, wenn, in einem nächsten Schritt, Feinsicht einsetzt, und Neuordnung des Materials aus der in dickichter Bewegung befindlichen Wirklichkeit heraus.
Gedichte von Uljana Wolf wurden bislang ins Polnische, Belorussische, Dänische, Ungarische, Schwedische und Irische übersetzt. Andererseits trug sie selbst zum internationalen Lyriktransfer bei, indem sie Christian Hawkey aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übertrug. Gemeinsam mit Christoph Buchwald gab sie das diesjährige Jahrbuch der Lyrik 2009 heraus.
1979 geboren, studierte Uljana Wolf Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft in Krakau und in Berlin, wo sie auch heute lebt.
Cornelia Jentzsch, aus: Gegenstrophe Nr. 1. Blätter zur Lyrik, Werhahn Verlag, 2009
Stefan Hölscher im Gespräch mit Uljana Wolf am 6.7.2021 bei TEN-4-POETRTY
Uljana Wolf und Hans Thill – Das Gedicht in seinem Jahrzehnt am 19.10.2021 im Haus für Poesie
Uljana Wolf liest drei bögen: böbrach und andere Gedichte.
Schreibe einen Kommentar