Uljana Wolf: meine schönste lengevitch

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Uljana Wolf: meine schönste lengevitch

Wolf-meine schönste lengevitch

MAPPA

was ist der wohnort? der wohnort ist
eine kreuzzehn. was ist die kreuzung?

in der verkorksten mundart der wälder
ist die kreuzung das wort baum. warum

spielen heimatländer in den lüften karten?
niemand hat die länder je nach hause gehn

sehn. ein baum im wald der nähesprache
ist im kartenspiel die zehn. aus seinem holz

werden auf der karte kreuze gemacht.
die länder tragen ihren wohnort ein

und legen die feder ins mäppchen
zurück. was ist ein mäppchen? zurück.

mit Nelly Sachs

 

 

 

„sist zappenduster im gedicht, welche sprache es wohl spricht?“ – so dringt, aus dem Inneren einer nicht deklarierten Verpackung, die Stimme des Sternmulls, der wie viele Gedichte in Uljana Wolfs neuem Band Fragen nach der wechselseitigen Abhängigkeit von ästhetischer Produktion und herrschender Sprachpolitik aufwirft. Ob mit Grimms vertauschtem Goldesel, „Gerüstniks“ oder Germaricans als Dolmetschern, kolonisierenden Seefahrern, übersetzenden Hysterikerinnen oder festgesetzten Asylbewerber_innen im deutschen Wald – es werden Grenzfälle besichtigt, „verholzene komplotts“, und Konzepte wie Einwanderung oder die Schaffung nationaler Sprachidentitäten hinterfragt. So graben diese Gedichte an den Schnittstellen von Markt, Macht, Märchen und Mehrsprachigkeit und bringen Transfervorgänge ins Ruckeln – oder ruckelten die nicht immer schon, eher Fiktion als Fundament? „diese sprache war mal firn, dann feriendings, die leuchtet jeden heim. und wo soll das sein: ‚schnurz‘.“ Uljana Wolf lotet die politischen Dimensionen des Sprechens so schelmisch elegant und funkelnd abwegig aus, so klangvoll und ohne jede Belehrung, dass wir sie gerne auch im Wahlkampfjahr empfehlen.

kookbooks, Ankündigung

 

Eselszeilen

Zur Generation junger Lyrikerinnen und Lyriker, die heute für eine Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik sorgen, gehört Uljana Wolf. Der neue Gedichtband der 1979 in Berlin geborenen Autorin huldigt dem deutsch-amerikanischen Lyriker Kurt M. Stein, dessen zwischensprachliches Poem Die schönste Lengevitch im Jahr 1925 erschien.
Mit Uljana Wolf erobert der ästhetische Humor die von Frauen geschriebene deutschsprachige Lyrik. Der vierte Zyklus des Bandes, „Spitzen“, bildet die Wunderblock-Struktur des unwillkürlichen Gedächtnisses nach, Schrift und ihre Überschreibung. Zu sehen ist ein spätbürgerliches Tableau mit Frauen, die plaudernd mit ihrer Schiffchenarbeit unter der Lampe sitzen und von den Männern als „schnatternde Gänse“ abgetan werden.
Davor schiebt sich eine spöttische Stimme, die Seemannsknoten knüpfende Männer neben die Stickerinnen rückt und das Patriarchat in Gestalt der Begründer der Psychoanalyse verlacht, deren phallozentrischer Blick auf Frauen eine zutreffende Diagnose weiblicher Neurosen verhinderte. Das weibliche Bewusstsein vertauscht die Tonlage seiner feministischen Kämpfe mit der souveränen Sprache verdoppelter und vervielfachter Reflexion, der des Komischen. Der Unernst tritt in seiner geschichtlichen Qualität zutage.
Die Zweistimmigkeit des Textes verdankt sich einer porösen Schreibweise. Laut- und Letternspiele, eine assoziationsreiche saloppe Sprechsprache pflanzen dem Text eine Selbstläufigkeit ein, die den Eindruck vermittelt, die Wörter riefen sich wie bei einem Kinderspiel wechselseitig auf. Allerdings haben die Lockerung des poetischen Fadens und Entsublimierung der Sprache ihren Preis. Unübersehbar lauert die Gefahr des Umschlags in ästhetische Spannungslosigkeit, etwa wenn die Autorin Reden der deutschen Kanzlerin aufs Korn nimmt. Deren Belanglosigkeit infiziert die Verse.
Das Programm einer weltoffen babylonischen Poesie entwickeln die mittleren der insgesamt sechs Zyklen. Neben die konkreten Gedichte des ersten rücken nun strophisch gebundene Verse, die das Natur-, Heimat- und Jahreszeitengedicht noch einmal aufrufen und verabschieden. Besungen wird die moderne kopernikanische Welt, deren Mitte verwaist ist. Ein Zuhause, Unterkunft existiert allenfalls noch als Spuk aus alter Zeit. „öffne den vorhang“ lautet die innengerichtete Botschaft, zieh in die Welt und vergegenwärtige das Abwesende, Fremde, Andere.
Auf- und Abgesang stellen die Genese und Formwerdung des Gedichts dar, in verschiedenen Ansichten. Auf den magischen Ursprung der Kunst verweist der Esel aus dem „Tischlein deck’ dich“-Märchen. Er eröffnet den Zyklus und beendet ihn, inzwischen „naturmagisch“ beatmet, mit einem Satz, der über den Rand der Schlusszeile hinausgeht. Der Geburt des Gedichts gehen Spaltungs- und explosive Zündungsvorgänge voraus. Unüberhörbar sind an dieser Stelle die Anklänge an Goethes Dornburger Morgengedicht, dessen Motive aber vom eigenen Schreiben aufgesogen werden. Ein Gedichtband voller Leben und Ideen, Witz und Spielgeist, weiträumig, vielsprachig, unterhaltsam.

Sibylle Cramer, Süddeutsche Zeitung, 29.1.2014

Lyrik-Logbuch

– Eintragungen zu Gedichten der Gegenwart. –

DOPPELGEHERREDE

ich   ging   ins   tingeltangel,   lengevitch   angeln.   an   der   garderobe   bekam   jede   eine   zweitsprache   mit   identischen   klamotten,   leicht   gemoppeltes   doppel.   die   spiegel   aber   zeigten   nur   eine   von   uns,   ich   schluckte:   kalte   spucke,   spuk.   hinten   hoppelten   wort kaninchen   aus   asbberys   hut.   zum   ballsaal   dann,   mit   meinem   zwilling   zirkumstanzen,   am   tresen   ein   köpfchen   kaffee   mit   mrs.   stein.   dass   ich   sprechen   seh!,   rief   plötzlich   aus   der   nische,   wo   das   denken   dunkeldeutsch   blieb,   mr:   veilmaker   im   schlafanzug   der   philosophen.   ein   kressekästchen   vor   der   brust,   verblüfft:   wächst   auf   einem   weißen   blatte!   ohne   alle   erde!   wurzellos!       ich   wollte   nach   paar   samen   fragen,   doch   mein   zwilling   sprang,   ging   schwofen   mit   dem   mann.   wer   schatten   hat,   muss   für   die   spots   nicht   sorgen,   sagte   mrs.   stein,   packte   ihre   knöpfe   ein.

Wörter sind unzuverlässige Zeitgenossen, unsichere Kantonisten, sinnflüchtige Wesen. Sie lassen sich ungern domestizieren, entwischen bei erster Gelegenheit der Definition, in die man sie einsperren will. Manche Dichter ziehen daraus die Konsequenz: Sie misstrauen ihrerseits den penetrant sich vordrängenden, den naheliegenden, den instrumentell handhabbaren Wörtern. Statt den „besseren Wörtern“ vertraute zum Beispiel Ilse Aichinger lieber den „schlechten Wörtern“, wie in ihrem 1976 veröffentlichten Band mit Prosagedichten.
Von Ilse Aichinger ist der Weg zu Uljana Wolf nicht weit. Uljana Wolf misstraut ebenfalls den besseren Wörtern. Sie hält sich lieber bei den grammatisch „falschen Freunden“ auf, bei Freudschen Versprechern, bei vokabulären Mehrdeutigkeiten, an multilingualen Knotenpunkten, bei Interferenzen zwischen den Sprachen. Und sie hat gemeinsam mit ihrem Mann Christian Hawkey Aichingers Schlechte Wörter ins Englische übertragen.
„Rede mit aufgepicktem Wort“ heißt eines der Gedichte – und das ist wohl dieses Verfahren dieser sprachhungrigen Texte: Vokabelfunde werden aufgepickt und in poetische Bewegung gesetzt. Uljana Wolf zeigt das Deutsche auf seiner Auswanderung nach Amerika. In der „Doppelgeherrede“ begegnen wir nun John Ashbery, Gertrude Stein und dem „dunkeldeutschen“ Philosophen Friedrich Schleiermacher. Meine schönste lengevitch: Bereits der Titel von Wolfs Gedichtband signalisiert eine Verballhornung, eine vokabuläre Transformation, einen phonetischen Unfall- die Umwandlung der „language“ in die „lengevitch“.
In Wolfs Gedichten sind das Deutsche und das Amerikanische fluide Sphären, in ihren Wörter-Explorationen inszeniert sie die poetische Durchlässigkeit der beiden Sprachen. Es geht also um Wanderungsbewegungen der Wörter, auch um die eminent politischen Fragen der Einwanderung und der Migration.

Michael Braun, Volltext, Heft 1, 2014

Angeln im Tingeltangel

– Uljana Wolf vagabundiert zwischen den Sprachen. –

Sieben Jahre nach ihrem Debüt kochanie ich habe brot gekauft, das ihr den Peter-Huchel-Preis einbrachte, markiert der nunmehr dritte Gedichtband der 1979 in Berlin geborenen Uljana Wolf einen Umbruch. „Schluss mit trutzig“, ruft sie und verknüpft Märchenmotive mit linguistischen Verfahren. Ihre Texte betreiben Sprech- und Sprachspiele, die aus den Klangähnlichkeiten und Bedeutungsunterschieden zwischen dem Deutschen und dem Englischen Funken schlagen. Dabei bewegt sich die Autorin in lockerer Umgebung: „ich ging ins tingeltangel, lengevitch angeln“.
Was sie in ihrem Netz einfängt, sind kuriose Figuren wie Koppelzwillinge, eine „kanzlerin, deren sache es ist, sich in gehauchtes nichts zu verwandeln“ oder der Esel Bricklebrit.
Sein Name ist das Zauberwort, auf das hin er im Tischlein-deck-dich-Märchen der Brüder Grimm Goldstücke von sich gibt. Uljana Wolf verzichtet auf Endreime, Verse und Strophen. Sie entwirft über weite Strecken Prosagedichte in Blockform und definiert im Kapitel „Method Acting mit Anna O“ ihre Texte als „Zottelgedichte“. Das steuert weniger auf Pointen zu als auf sinnerhellende Effekte innerhalb des Sprachflusses.
Das Melos geht dabei nicht verloren. Rhythmen und Binnenreime, Selbst- und Mitlaute fließen in stetem Wort- und Klangwandel mit. Wolf ruft nach dem „alles vertauschenden wirt“, dem Grimm’schen Bösewicht. Wo er Tisch und Esel vertauscht, verschiebt sie Buchstaben und Silben und stößt damit abenteuerliches Denkvergnügen an.
Ihr Witz stellt viele Experimente rein linguistischer Materiallyriker in den Schatten. Wer sonst könnte so unbekümmert an Die schönste Lengevitsch anknüpfen, jenen ulkigen Gedichtband, den Kurt M. Stein 1925 in Chicago veröffentlichte. Das Vermischen des Deutschen mit dem Englischen ist auch dort der wörtlichen Rede entnommen und überrascht mit komischen Effekten nach dem Motto „geschrieben wie gesprochen“: Aus „language“ wird „lengevitch“. Uljana Wolf hat sich Steins Titel geborgt, geht über dessen kabarettistische Situationskomik aber weit hinaus.
Gesellschaftskritisches ist, mehr noch als in Falsche Freunde (2009), in einzelne Wörter eingewandert. Der Zyklus „fibel minds / von den wortarten“ erinnert im politischen Beigeschmack an manches zu DDR-Zeiten. Das Kapitel „mittens“ nähert sich dem Begriff „Heimat“ aus verschiedenen Perspektiven. „kalte küche“ klopft Amtssprache auf verborgenen Fremdenhass hin ab. Dazwischen taucht allerhand Seltsames auf: „schmelzsprech“ etwa und „auslassing“ – nicht immer kriegt Uljana Wolf beim Fantasieren die Kurve zum Fassbaren.
Ist diese „lengevitsch“ nun nichts als ein exaltiertes Kuriosum? Es hat auch seine biografischen Grundlagen. Die zwischen Berlin und New York pendelnde Dichterin, wo sie mit ihrem gleichfalls bei Kookbooks verlegten Mann Christian Hawkey lebt, gehört zu denen, die eine zeitgemäß globalisierte Sprache entwerfen. Die Frage ist nur: Sind wir tatsächlich auf dem Weg zu einer gemeinsamen Welt-Sprache? Wird Dichten mehr und mehr zur Gemeinschaftsarbeit, bei der jeder Text in einer endlosen Folge von Updates von anderen als „Babeltrack“ fortgeschrieben wird? Verlieren ethnische Identität und Urheberschaft ihre Bedeutung? Meine schönste lengevitsch macht Uljana Wolf als Prototyp einer wachsenden Gruppe von linguistischen Dichtern kenntlich, die herkömmliche Vorstellungen von Sprachgrenzen und Autorschaft infrage stellen.

Dorothea von Törne, Der Tagesspiegel, 6.1.2014

Doppellesung in Freiburg

„Sist zappenduster im gedicht, welche sprache es wohl spricht?“ In dieser kleinen Sentenz ist das Drama der modernen Lyrik benannt. Es ist dunkel im Sprachraum des Gedichts, und wir tasten ein wenig hilflos nach orientierenden Lichtpunkten. „Sist zappenduster im gedicht, welche sprache es wohl spricht?“: So beginnt ein Gedicht der 1979 geborenen Uljana Wolf, und je näher wir die Wörter in diesem Gedicht anschauen, desto ferner schauen sie zurück. Das Wort „lengevitch“ zum Beispiel. Oder „koppelzwilling“ oder „Bricklebrit“. All diese Wörter in den Gedichten von Uljana Wolf treiben zunächst unbehaust durch die Verszeilen und wissen nicht, wo sie sich ansiedeln können: im Deutschen oder im Englischen oder in einem Niemandsland zwischen den Sprachen. „Kommen diese worte wunderlich aus meinem mund“, so Wolf weiter, „und haben einen kern aus klang, lautkette, schwappt über sinnkette“. Ausgehend von diesem „Kern aus Klang“ öffnen sich diese Gedichte – mittels einer poetischen Bewegung, die unsere vertrauten Zuordnungen und Grenzen überschreitet.
Uljana Wolf zeigt das Deutsche auf seiner Auswanderung nach Amerika.

(…)

Gemeinsam ist den beiden Dichterinnen die Passion, zwischen den Sprachen herumzuwandern, vor allem zwischen dem Deutschen und dem Englischen. Gemeinsam ist ihnen auch die selbstgewählte temporäre Distanz zum deutschen Sprachraum: Uljana Wolf, die 2006 für ihren Band kochanie ich habe brot gekauft mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet worden ist, lebt seit einigen Jahren mit ihrem Mann, dem Dichter Christian Hawkey, in Berlin und Brooklyn.

(…)

Uljana Wolf wiederum nimmt uns mit auf eine Sprachreise, die immer wieder Zwischenstation macht an rätselhaft anmutenden Vokabeln. Sie führt zunächst zurück zu einem launigen, sehr heiteren Gedicht des Deutsch-Amerikaners Kurt M. Stein aus dem Jahr 1925, das einsetzt mit den hinreißend komischen Zeilen:

Den andern Abend ging mei Frau
Und ich a Walk zu nehme.
Of course, wir könnten a Machine
Auffordern but ich claime
Wer forty Waist hat, wie mei Frau,
Soll exerzeiseln, ennyhow.

Das Deutsche und das Englische beziehungsweise Amerikanische purzeln hier durcheinander. Bei Uljana Wolf sind das Deutsche und das Englische fluide Sphären, in ihren Wörter-Explorationen inszeniert sie in virtuosem Sprachspiel die poetische Durchlässigkeit der beiden Sprachen. Es geht in Meine schönste lengevitch um ein multilinguales Spiel: um die Wanderungsbewegungen der Wörter, und damit auch um die eminent politischen Fragen der Einwanderung und Migration. „Rede mit aufgepicktem Wort“ heißt ein Gedicht – und das darf man als programmatisches Statement verstehen: Vokabelfunde werden aufgepickt und in poetische Bewegung gesetzt. Das Wort „Bricklebrit“, das den Band eröffnet, erinnert an die erlösende Zauberformel aus dem „Tischlein deck dich“-Märchen der Brüder Grimm. Meine schönste lengevitch und Tiere in Architektur: Das sind zwei herrliche poetische Vagabondagen, die einer Devise folgen: „Schluss mit trutzig“!

Michael Braun, Badische Zeitung, 22.1.2014

falscher fährte gefolgt…

habe eine besprechung im deutschlandfunk-kultur im radio gehört. Das hat mich wirklich neugierig gemacht und ich habe mir die gedichtsammlung bestellt. Die radiosendung wird dem buch nicht gerecht – der erwartungshorizont wurde bei mir in richtung aussergewöhnlicher sprachmetaphern verengt. Ich war dann beim lesen enttäuscht – alles, was in dieser richtung in den gedichten zu finden ist, wurde in der sendung bereits erwähnt – mehr davon gabs dann nicht. Ich werde mir die gedichte noch einmal mit etwas zeitlichem abstand zu gemüte führen, um dann ohne vorerwartung den texten gerecht werden zu können. Noch ein kleiner kritikpunkt – die sehr kleine schrift macht die lektüre unnötig beschwerlich. Mein vorläufiges fazit: eingeschränkt empfehlenswert. Wahrscheinlich ein stern mehr, wenn man die radiosendung nicht gehört hat. Ein punkt abzug wegen der zu kleinen punktgrösse im druck.

Kindle-Kunde, amazon.de, 22.3.2014

Uljana Wolf

hat einen berückenden sprachmagischen Band geschaffen, der im Detail und durch die thematische Gesamtkomposition zugleich beeindruckt. Er ist ein großer Anspielungsraum, bevölkert von Anregern, mit denen Wolf zum Beispiel über das Ende der Abgeschiedenheit von Einzelsprachen sinniert. Das wird bei ihr zur Lust am Gewinn der Mehrsprachigkeit, der Sprachvermischung und -verschiebung, am „gemoppelten doppel“. In sechs Zyklen werden poetische Räume entworfen, in denen solche Gewinn- und Verlust-Rechnungen an den Grenzen der Sprachen, an den Grenzen von Sprache und Wirklichkeit aufgemacht werden. Theorie und Lebenswirklichkeit nähren diese Poesie gleichermaßen. Hinter ihr liegen linguistische Abhandlungen, Berichte über Psychoanalyse und Flüchtlingspolitik. Aber: meine schönste lengevitch ist kein trockenes Bedichten von Diskursen, sondern ihre lustvolle eigenständige Begründung in der Literatur, mit nur ihr eigenen Mitteln, der es nicht um die Beherrschung dieser Diskurse geht, sondern um ihre Poetisierung im Sprachspiel.

Holger Pils, Lyrik-Empfehlung 2013

Berliner Lyrik Sprachliches Tingeltangel

Zum Frühlingsanfang gab’s gerade wieder den „Welttag der Poesie“, ihn hat die Unesco zu Beginn dieses Jahrtausends kreiert. Und weil wir so mittenmang in den nervigen Gendersprachdebatten sind, könnte ein unprosaischer Blickwechsel vielleicht entspannen. Im Gedicht nämlich kann der Mond auch weiblich und die Sonne männlich leuchten, es gibt da nie den Eindeutigkeitsschein des poetisch oder politisch Korrekten.
Dichtung heißt Verdichtung. Verwandlung. Verrückung. Aus Orlando, das hat Virginia Woolf längst gewusst und Shakespeare sowieso, kann jederzeit Orlanda werden, und wer mit dem Kopf unbedingt durch die Wand will, darf es ebenso umgekehrt versuchen und mit der Wand einfach gegen den Kopf rennen. Mal sehen, wer oder was dann hohl klingt.
Ja, Poesie und Fantasie zeigen an, wie schnell die Vatermuttersprache über das allzu Selbstverständliche hinaus zur kunstvoll gekonnten Fremdsprache werden kann – weil Worte und Sätze aus allen Literaturen und Kulturen seit babylonischen Zeiten sich mischen, verspinnen, befruchten. Ausdrücklich beweist dies mit ihrem jüngsten, schlanken, dennoch reichhaltigen Gedichtband Uljana Wolf: Meine schönste Lengevitch, erschienen in der auch sonst höchst empfehlenswerten Lyrikreihe des Berliner Verlags Kookbooks (86 Seiten, 19,90 Euro).
Uljana Wolf, die als gebürtige (Ost-)Berlinerin mit zugleich polnischen Wurzeln in dieser Woche 40 wird und soeben in der Gattung Literatur den Berliner Kunstpreis erhalten hat, sie lebt mit ihrem amerikanischen Mann, dem Lyriker Christian Hawkey, abwechselnd in New York und in Berlin, übersetzt selbst vor allem aus dem Englischen und jongliert wie im neuen Titelgedicht gerne mit der „Lengevitch“. Es sind Eigen- und Fremdsprachspiele in der schönen Tradition etwa der „Krimgotik“ eines Oskar Pastior und natürlich aller präsurrealistischen oder postdadaistischen Wortklangtöne von Hölderlin bis Gertrude Stein, von Konrad Bayer bis Paul Wühr.
Schon wieder zu viele Beispielsmänner? Also hören wir die Wolf:

früh begann die biegung unserer geschlechtswörter, gestaltet als kiefern vor küstendüne – geschmeidig, mit flachen wurzeln, androgynem wuchs.

Das ist aus dem wie immer hier in Kleinschrift durchgeschriebenen Poem mit der original versalen Überschrift „Fibel minds (von den Wortarten“. Die Fibelfabel endet so:

alle artikel politisch, becher, kelle, strandhandtuch. was wir zum trocknen zwischen die stämme hängten, die schräg wuchsen, wehte immer erdachsengerade. selbst der wind drängte auf richtung, richtete ab.

Wer mag, kann das auch als Gendersprachkommentar lesen. Oder besser noch gendersprachfrei genießen, weil ja von „androgynem wuchs“. Ein weiteres Exempel, die „Kleine Sternmullrede“:

sist zappenduster im gedicht, welche sprache es wohl spricht? (…) an den rändern liegt so manches, nur wo lieg ich? verweilung, auch am vertrautesten nicht.

Immer wieder spielt Uljana Wolf auf Brüderschwestern im literarisch gewitzten Geiste an, so kommt etwa die große Gertrude vor: auf dem Stein-Way zu ihren lyrischen „Tender Buttons“ („Zarte Knöpfe“) oder zur Sprechoper „Doctor Faustus lights the lights“. Das zugehörige, halb titelgebenden Gedicht heißt „Doppelgeherrede“:

ich ging ins tingeltangel, lengevitch angeln. an der garderobe bekam jede eine zweitsprache mit identischen klamotten, leicht gemoppeltes doppel.

Wolfs Tingeltangel-Sprachlustspiel endet dann mit dem poetischen Kalauer:

wer schatten hat, muss für die spots nicht sorgen, sagte mrs. stein, packte ihre knöpfe ein.

(…)

Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 27.3.2019

 

 

Tiere, Fotos, Lengevitch

Lesung von Sabine Scho und Uljana Wolf, Moderation: Daniela Seel im Literararischen Colloquium Berlin am 21.1.2014

Begrüssung
Einführung von Daniela Seel und Uljana Wolf

 

Lesung I
Uljana Wolf liest aus „meine schönste lengevitch“

 

Gespräch
Gespräch über Recherchen, hybride Formen und Intertextualität in den Werken der Autorinnen

 

Lesung IV
Uljana Wolf liest aus „meine schönste lengevitch“

 

Berlin Polylingual.

Parataxe Symposium IV: meine schönste lengevitch

Multilinguale Lesung am 23.11.2018 im Literarischen Colloquium Berlin.

 

 

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Elke Engelhardt: Die Spinne im Sprachnetz
fixpoetry.com, 12.11.2013

Jan Kuhlbrodt: wortkaninchen aus ashberys hut
signaturen-magazin.de

Literaturgespräch mit Denis Scheck
3sat, 20.12.2013

Laudatio –

Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2015

Man spricht im Deutschen von einem „Wortschatz“. Wörter, die wir kennen und die uns kennen, sind kostbare Schätze. Darunter gibt es Wörter, die schwer im Magen liegen oder ins Herz geschnitzt sind. Die meisten Wörter bewahren wir jedoch im Gehirn auf und obwohl es das Organ des Wissens ist, wissen wir nicht, wie sie dort gelagert sind. Sind sie alphabetisch sortiert oder nach Themen? Sind sie wie in einem Pflanzenlexikon nach Farben sortiert oder nach Jahreszeiten? Auf jeden Fall versuchen wir, für jede neue Sprache eine neue Wortschatzkammer einzurichten. Ich persönlich habe besonders große Angst, die Bedeutungen der englischen Wörter mit denen der deutschen durcheinanderzubringen. Scheinbar muss ich eine wasserdichte Mauer zwischen den beiden Sprachen gebaut haben. Sonst könnte ich nicht erklären, warum ich nie im deutschen Wort „Igel“ das englische Wort „eagle“ gehört hatte, bis ich Uljana Wolf las. Für die Räumlichkeiten im Sprachzentrum hat sie eine neue Ordnung (oder Unordnung) entworfen. Sie ist eine hervorragende Innenarchitektin der mehrsprachigen Dichtung. Wenn sie mit eleganten Linien Wörter miteinander verbindet und damit die Grenzen zwischen Sprachen überschreitet, erscheint ein unerwartetes Gebilde als Poesie. Das ist vergleichbar mit Sternbildern: Zwischen den einzelnen Sternen liegt eine Distanz von Millionen Lichtjahren, aber weil ihre Strahlung gleichzeitig unsere Gegenwart erreicht, können wir ein Bild erkennen.
Wie sucht aber Uljana Wolf die Wörter aus, die sterntauglich sind? Sie ist eine Meisterin der Ähnlichkeit. Wir lernen, gewisse Ähnlichkeiten zu ignorieren, um Verwirrungen zu vermeiden. Das englische Wort „bad“ hat nichts mit dem deutschen Badezimmer zu tun, und der deutsche Brief ist nicht unbedingt kurz (brief). Uljana Wolf hat keine Angst vor Verwirrungen. Im Gegenteil. Sie empfängt jede Verwirrung mit offenen Armen als Anlass für eine neue Freundschaft.
„Weder im guten noch im bad“ (falsche freunde). Als ich diese Stelle im Gedichtband falsche freunde las, erinnerte ich mich an einen japanischen Verleger, der für meine Erzählung „Das Bad“, die damals ausschließlich auf Deutsch erschien, ein großes Interesse zeigte, das ich nicht nachvollziehen konnte. Wie es sich später herausstellte, lag es am Titel: Das Bad. Der Verleger, der des Deutschen nicht mächtig war, dachte, es sei ein Roman über ein böses Mädchen.
Uljana Wolf spielt mit offensichtlichen Ähnlichkeiten, die normalerweise kollektiv verdrängt werden. Hier noch ein anderes Beispiel: „liegt aber eine strähne im brief, gar eine lange“. (falsche freunde). Das englische Wort „brief“ und der deutsche Brief: Sind sie etymologisch verwandt, sei es über viele Ecken? Oder sehen sie nur zufällig ähnlich aus? Das Wissensloch in der Etymologie erweckte in mir eine persönliche, etwas peinliche Erinnerung, in der ich die beiden Wörter durcheinandergebracht hatte.
Wenn wir einmal die Bedeutungen der Wörter „Brief“ und „brief“ gelernt haben, sehen wir keine Ähnlichkeit mehr, obwohl sie offensichtlich ist, oder gerade weil sie offensichtlich ist; genau wie der entwendete Brief von Edgar Allan Poe.
Wir wollen nicht irritiert werden, vor allem keinen Fehler machen. Falsche Freunde führen uns möglicherweise zu sprachlichen Fehlern und es gilt im Allgemeinen als peinlich, Fehler zu machen, besonders in der englischen Sprache. Wer von einem internationalen Erfolg träumt, muss diese Sprache sprechen, aber nicht mit ihr spielen, geschweige denn in ihr peinliche Fehler machen. Hat jemand aber schon mal die englische Sprache gefragt, ob sie mit dieser Rolle glücklich ist oder ob sie viel lieber mit Uljana Wolf ein poetisches Abenteuer erleben will?
Manche glauben, dass eine Dichterin im Unterschied zu einer Übersetzerin kein Wörterbuch braucht, weil die Wörter direkt aus ihrem Herzen springen müssen. In Wirklichkeit verbringen Dichterinnen und Dichter viel Zeit mit Wörterbüchern. Oskar Pastior erzählte mir einmal, wie er Tage und Wochen in Wörterbüchern versunken war, als er Petrarca übersetzend gedichtet hatte.
Unter dem Begriff der „multilingualen Dichtung“ stellt man sich eine Dichterin vor, die am Frühstücksbüffet von verschiedenen Sprach-Platten köstliche Wörter auf den eigenen Teller sammelt. Bei Uljana Wolf stelle ich mir kein Frühstücksbüffet, sondern einen Schreibtisch vor, auf dem viele Wörterbücher dicht nebeneinander stehen. Die Übersetzung ist eine spannende, aber mühsame, gefährliche, undankbare Arbeit. Nicht jede Übersetzerin kann und will jenen offenen Zustand lange aushalten, in dem sich die scheinbar festen Bedeutungen im Originaltext aufzulösen scheinen und noch kein Wort in der Zielsprache zu sehen ist. Wer sich in diesem Zustand befindet, ist unmittelbar konfrontiert mit der Materialität der Sprache. Dort ist die Sprache als Buchstaben anzufassen. Eine fast bedrohliche Intimität ohne jede Sicherheit. Das ist die „Ellis Island“ der Übersetzung. Es ist noch nicht sicher, ob ein Wort oder das, was einst ein Wort war, in der neuen Sprache eine Existenz gründen kann. Die Übersetzerinnen, denen dieser Zustand unheimlich ist, wollen schnell in der Zielsprache ankommen und schnell die bedrohliche Übergangszeit vergessen. Uljana Wolf lässt sich Zeit auf der Schwelle des Übersetzens, auf dem Ellis Island der Sprache. Sie behält die Originalsprache als Bewegung bei und schreitet mimetisch in die Zielsprache hinein. Was dabei entsteht, ist nicht etwa eine Übersetzung als Fertigprodukt, sondern eine Art Körperlichkeit.
„Übersetzen wird für mich immer mehr zu einem solchen Gartengehen, und zwar im zweifachen Sinne. Einerseits kommt es mir darauf an, mit und neben dem Originalgedicht zu spazieren, das heißt sein Laufen, Schreiten, Springen wichtiger zu nehmen als sein Sagen, Rätseln, Rufen. Ich meine damit nicht objektiv zählbare Verse und Füße (aber auch), sondern den rhythmisch-gestischen Abdruck, den eine Zeile mit ihrem Auf und Ab, ihren Kadenzen, in meinem Körper hinterlässt.“ („Isabel Bogdan Übersetzen“, aus dem VdÜ-Pressenewsletter)
Für einen Literaturpreis, der für die „Poesie als Übersetzung“ vergeben wird, ist der Gedanke, dass das Dichten eine Radikalisierung der Übersetzung sei, von besonderem Interesse. Uljana Wolf schreibt davon. „Übersetzung hinter mir zu lassen und stattdessen dort, wo gar nichts mehr und alles geht, mit einer ‚Unreinheit‘ zu spielen, die in meinen Gedichten schon länger um sich greift.“ („Isabel Bogdan Übersetzen“, aus dem VdÜ-Pressenewsletter)
Ich stelle mir eine radikale Übersetzung vor, die keinen anderen Weg kennt, als zur Dichtung hinüberzugehen. Dort müssen nicht alle Wörter des Originaltextes durch Wörter der Zielsprache ersetzt werden. Dort muss man nicht die Leserschaft bedienen, sondern den Prozess der Übersetzung als künstlerischen Akt darstellen. Dort muss man nicht Kompromisse machen, um eine Antwort zu finden, sondern jede offene Stelle offen lassen.
Die Unreinheit ist ein Gegenbild zur Säuberung der Nationalsprache oder der Apartheid im Gehirn. Englische Wörter dürfen in einem deutschen Text gesehen werden und zwar nicht als Leihwörter mit einem Besucherausweis. In diesem Kino gibt es keine feste Rollenaufteilung mehr zwischen dem Originalton und dem Untertitel. Wie absurd klingt dann die Frage: „In welcher Sprache denken Sie?“ Denken wir nicht in allen Sprachen gleichzeitig, die wir kennen und nicht kennen?
Falsche Freunde gibt es häufig zwischen zwei verwandten Sprachen. Deshalb werden sie auch „falsche Brüder“ genannt. Englisch und Deutsch sind enge Verwandtschaften, auch Polnisch und Deutsch gehören zu einer Familie, der der indoeuropäischen Sprachen. Es geht der Dichterin nicht darum, die Entfernung vom Eigenen zu vermessen. Gerade das Konzept der eigenen Sprache, die „Muttersprache“ heißt, aber in Wirklichkeit die des „Vaterlandes“ ist, stellt sie in Frage. In einer Rede an der Humboldt-Universität sprach sie vom „Falschländischen“ als einer Alternative zum „Vaterländischen“: „Nun ist es so, dass ich auf Deutsch schreibe, aber trotz Germanistikstudium durchaus nicht vater-, eher falschländisch.“ (REDE, SELTSAM ANGEZETTELT, Rede zur Absolventinnenfeier der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin am 16. Juli 2014)
Man weiß, dass eine Nähe manchmal komplizierter ist als eine Distanz. Uljana Wolfs Sprache kennt eine Geschmeidigkeit, die mit einer schwierigen Nähe umzugehen weiß.
Die meisten Deutschen schalten ab, wenn sie polnische Wörter sehen. Man könnte Gründe für diese Ignoranz endlos aufzählen. Zu fremd die Sprache, zu langweilig die Städte, nicht geeignet als Urlaubsland, nicht cool der Lebensstil, kein Geld zu holen, kleine Länder sollen große Sprachen lernen und nicht umgekehrt u.s.w. Aber was hindert einen, hinzuschauen, wenn die Wörter schon vor Augen stehen? Warum versucht man nicht einmal, sie abzuschreiben und in sie hineinzudenken? Uljana Wolf schaut hin und arbeitet mit westslawischen Nachbarwörtern. Auch wenn man das polnische Wort „Kochanie“ nicht kennt, kann man den Buchtitel kochanie ich habe brot gekauft sofort verstehen, weil das englische Wort „Honey“ aus „Kochanie“ herausklingt. „Honey ich habe brot gekauft“. Es gibt Koautorin und Koübersetzerin. Es müsste Kogeliebte oder Koliebste, also „Kochanie“ geben. Ein kleines Kind findet keine Sprache unzugänglich. Es nimmt jedes Wort in die Hand, betrachtet es, dreht es um, nimmt es auseinander und isst es auf. Das Kind arbeitet unermüdlich mit der Sprache. Warum geht uns diese Fähigkeit verloren? Warum vermeiden wir Fremdsprachen, außer wenn wir sie als Leistungsbeweis missbrauchen können? Uljana Wolfs Umgang mit Sprachen ist äußerst sympathisch, befreiend und anregend.
Ich persönlich arbeite eher mit zwei weit auseinander liegenden Sprachen: Japanisch und Deutsch. Die Distanz zwischen den beiden Sprachen ist nicht von einer geographischen Natur. Denn in Ostsibirien, nicht weit von Japan, heißt die Nacht „Ночь“. Das polnische Wort „noc“, ist eindeutig verwandt mit der russischen „Ночь“, aber auch mit der deutschen „Nacht“. Die japanische Nacht „yoru“ hat keinerlei gemeinsame Wurzel mit diesen europäischen Wörtern. Für die deutschsprachigen Menschen gibt es also keinen Grund, slawische Sprachen zu exotisieren.
Uljana Wolf arbeitet mit polnischen Wörtern und wagt einen halben Schritt in die Nacht hinein. „Halb“ klingt abschätzig im Deutschen, aber ich meine es positiv. Denn die „Halbnacht“ bedeutet die Mitternacht. Man erreicht die Mitte, aus der der Mond genauso nah steht wie die Sonne.
Im Gedicht „herbstspiel“ (kochanie ich habe brot gekauft) wird das „Herz“ auf den „Scherz“ gereimt. Ein Gedicht voller Emotion, die mich aber keineswegs sentimental macht. Das Herz bleibt ein Schlaginstrument, es spielt lustvoll variationsreiche Rhythmen. Jedoch geht es hier um keine Lautpoesie, denn Uljana Wolf schreibt nicht laut, sondern laut und leise. Bei Ernst Jandl heißt es übrigens „laut und luise“. Ich erinnere mich, wie er einst die Bibel in Lautpoesie verwandelte. „Am Anfang war das Wort“: Ich höre diesen Satz noch mit Jandls Stimme. Bei Uljana Wolf heißt es etwas anders: „am anfang war, oder zu beginn“. Das Wort „beginn“ geht über zum Tanz „beguine“ und tatsächlich beginnen die Füße des Gedichtes, neuartige Tanzschritte zu zeigen. Ich weiß nicht, ob es am Anfang ein Wort gab und wenn ja, welches. Aber wie wäre es, mit der Übersetzung zu beginnen? Denn die Mehrsprachigkeit prägt bereits unsere Gegenwart. Manche sehen sie immer noch als Strafe Gottes, aber im Prozess der radikalen Übersetzung kann jede der vielen Sprachen meine schönste „Lengevitsch“ werden.

Yoko Tawada, Erlangen, 28.8.2015, lyrikzeitung.com

Das Wort ist immer vielfach

– Laudatio auf Uljana Wolf, anlässlich der Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises 2016. – 

Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen. Was ich wissen muss, weiß ich, kalte Küche ist ihr lieber als warme, nicht einmal der Kaffee soll heiß sein. Das beschäftigt einen schon.

Das ist, meine Damen und Herren, das Dokument eines Zerwürfnisses. Die Sprache und das Subjekt, das sich der Sprache soeben noch selbstverständlich zu bedienen glaubte, sie haben sich nichts zu sagen. Schlimmer noch: Das Ich und die Sprache, sie stehen sich misstrauisch gegenüber, sie bleiben auf Distanz. Und das beschäftigt einen schon. Und das beschäftigt einen erst recht im Kontext eines Literaturpreises. Denn diese Entfremdungsprozesse zwischen der Sprache und dem Subjekt, glaubt so mancher, seien im sprachlichen Kunstwerk überwunden. Wie kann es also sein, dass von einer Dichterin ein Misstrauensvotum gegenüber der Sprache formuliert wird? Was weiß man denn hier von der Sprache? Sie bevorzugt „kalte Küche“, und in dieser „kalten Küche“ lagern die Routinen, die vertrauten Floskeln und Stereotypien. „Meine Sprache und ich“, ist ein Text von Ilse Aichinger aus dem Jahr 1968, und Uljana Wolf, unsere Preisträgerin, hat ihn ins zweite Kapitel ihres fabelhaften Buches meine schönste lengevitch eingeschmuggelt. „Kalte Küche“ heißt dieses Kapitel, das mit einem Aichinger-Zitat beginnt und die Fremdheitserfahrung, die dem Ich mit der Sprache widerfährt, zum Ausgangspunkt der Poesie macht.
Denn Gedichte, wie sie Uljana Wolf schreibt, sind keine Gebilde, in denen Sprache selbstverständlich zur Verfügung steht und geschmeidig als Vehikel genutzt und dienstbar gemacht wird. Ihre Gedichte entstehen im Gegenteil aus einer Unsicherheit, aus einer Störung der Sprachgewissheit, aus einem fundamentalen Sprachzweifel. Der Störfall in der Rede, das Stolpern in eine Fremdheit ist die Urszene dieser Dichtung.
Wörter sind unsichere Kantonisten, sinnflüchtige Wesen. Uljana Wolf ist ihnen auf der Spur und stiftet selber Verbindungen zwischen den Wörtern, so sehr ihre Bedeutungen auch auseinanderzustreben scheinen. In ihrem ersten Gedichtbuch kochanie ich habe brot gekauft (2005) bewegt sie sich zwischen dem Deutschen und dem Polnischen, in den darauf folgenden Gedichtbüchern zwischen dem Deutschen und dem Englischen. Und wir entdecken bei ihr eine Dichtung, die es versteht, die für sie konstitutive Sprachfremdheit und den Sprachzweifel produktiv zu machen. In ihrer Übersetzung von Ilse Aichingers Buch Schlechte Wörter hat Uljana Wolf dazu einige schöne Beobachtungen gemacht.
„Ein Wort“, heißt es in ihren Fußnoten zur Übersetzung des Aichinger-Textes „Hemlin“ ins Englische, „ein Wort ist immer vielfach… Aichinger ist willens, zwischen diesen Möglichkeiten (der Sprache) umherzuwandern, ohne notwendigerweise eine zu privilegieren, ohne eine Hierarchie oder eine klare narrative Struktur zu etablieren.“ Und diese Bemerkung zu Ilse Aichinger charakterisiert auch ihr eigenes Werk. Auch bei Uljana Wolf sind die Wörter immer „vielfach“, sie bewegt sich als Dichterin zwischen den Sprachen, ihre Poesie und ihre Wörter sind immer in Bewegung, entziehen sich dem Herrschaftsanspruch der Definitionen und letztgültigen Fixierungen. Ihre Lebensorte sind seit einigen Jahren New York (im Winter) und Berlin (im Sommer) und ihre Beziehung zur Sprache ist von diesen Ortswechseln geprägt. „All die Zeichen einer mehrsprachigen Existenz“, so hat sie in einem Interview erklärt, „all die Zeichen einer mehrsprachigen Existenz, die ich zuerst als Manko empfand (fehlende Wörter, verfremdetes Sprechen, manchmal einen Akzent haben in der eigenen Sprache) versuche ich jetzt als Reichtum zu begreifen, sie sollen sich im Schreiben umtun, wo sonst… Orte und Dichter: Die beste Art darüber nachzudenken, ist wohl displacement/différence, etwas das sich in der Sprache abspielt: Nicht entweder – oder, da oder weg, sondern eine Überlappung von Präsenzen, ein fortdauernder Prozess von Verunsicherung und Ausdifferenzierung.“
In Uljana Wolfs Gedichten sind die Wörter eben nicht ,entweder-oder‘ in einem autoritären Gestus, sondern sie sind dazwischen. Und dieses Transitorische, dieser produktive Verunsicherungs-Zustand zwischen den Sprachen manifestiert sich dann auch in ihren beiden Gedichtbüchern falsche freunde und meine schönste lengevitch.
Das Deutsche und das Englische sind bei ihr fluide Sphären, in ihren Wörter-Explorationen inszeniert sie in virtuosem Sprachspiel die poetische Durchlässigkeit der beiden Sprachen. Es geht um ein multilinguales Spiel: um die Wanderungsbewegungen der Wörter, und damit auch um die eminent politischen Fragen der Einwanderung und Migration. „ich ging ins tingeltangel, lengevitch angeln.“ So beginnt die „Doppelgeherrede“ in meine schönste lengevitch. Einen Moment, was wird da geangelt, die „lengevitch“? Worum könnte es sich bei dieser bizarren Vokabel wohl handeln? „lengevitch“ – geht es um eine abgelegene Ortschaft in Neuengland, um einen Programmiercode? Die zwei hellen Vokale „e“ und „i“ in „lengevitch“ – wo führen sie uns hin? Und steckt da nicht „the witch“ drin, die Hexe? Es dauert eine Weile, bis es einem endlich dämmert. „lengevitch“, das ist doch eine Verballhornung, eine vokabuläre Transformation, ein phonetischer Unfall: Die „lengevitch“ ist doch das Medium, in dem wir uns täglich bewegen, ach so, die „language“. Wir sehen und hören: Uljana Wolf, die Dichterin, eine Grenzgängerin zwischen den Sprachen wie Adelbert von Chamisso, sie redet eben doch mit der Sprache, mit der „language“ und der „lengevitch“. Ins Lot kommt in diesen Spracherkundungen nichts, nichts ist erstarrt, alles bleibt in Bewegung, in Gegenbewegung. Und für diese Bewegung, für diesen Unruhezustand des Poetischen, in der uns jedes Wort alarmiert, erhält Uljana Wolf heute den Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung. Ich kann mir nicht vorstellen, liebe Uljana, dass in den Unruhezuständen dieser „lengevitch“ die Küche kalt bleibt. Herzlichen Glückwunsch! 

Michael Braun, 3. März 2016, Ostragehege, Heft 81, 5.9.2016

 

Uljana Wolf im Interview: „Man kann sich mit mehreren Sprachen in einer Gemeinschaft verankern“

Stefan Hölscher im Gespräch mit Uljana Wolf am 6.7.2021 bei TEN-4-POETRTY

 

 

 

Uljana Wolf und Hans Thill – Das Gedicht in seinem Jahrzehnt am 19.10.2021 im Haus für Poesie

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Uljana Wolf liest drei bögen: böbrach und andere Gedichte.

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