– Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Die Verlassene“ aus Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. –
GERTRUD KOLMAR
Die Verlassene
An K. J.
Du irrst dich. Glaubst du, daß du fern bist
Und daß ich dürste und dich nicht mehr finden kann?
Ich fasse dich mit meinen Augen an,
Mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist.
Ich zieh dich unter dieses Lid
Und schließ es zu und du bist ganz darinnen.
Wie willst du gehn aus meinen Sinnen,
Dem Jägergarn, dem nie ein Wild entflieht?
Du läßt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen
Wie einen welken Strauß,
Der auf die Straße niederweht, vorm Haus
Zertreten und bestäubt von allen.
Ich hab dich liebgehabt. So lieb.
Ich habe so geweint… mit heißen Bitten…
Und liebe dich noch mehr, weil ich um dich gelitten,
Als deine Feder keinen Brief, mir keinen Brief mehr schrieb.
Ich nannte Freund und Herr und Leuchtturmwächter
Auf schmalem Inselstrich,
Den Gärtner meines Früchtegartens dich,
Und waren tausend weiser, keiner war gerechter.
Ich spürte kaum, daß mir der Hafen brach,
Der meine Jugend hielt – und kleine Sonnen,
Daß sie vertropft, in Sand verronnen.
Ich stand und sah dir nach.
Dein Durchgang blieb in meinen Tagen,
Wie Wohlgeruch in einem Kleide hängt,
Den es nicht kennt, nicht rechnet, nur empfängt,
Um immer ihn zu tragen.
Noch einmal schreibt die Verlassene an den Geliebten. Die Schmerzen sind vorüber, brennen nicht mehr. Worte stehen wieder bereit. Fast aggressiv trumpfen die drei ersten Strophen auf mit nahezu gewalttätigen Bildern. Nicht als Bettlerin, die sich erbärmlich macht, um Erbarmen zu erzwingen, tritt die Verlassene auf; sie ist die Jägerin, der Geliebte die Beute.
Nicht die wartende, winselnde Dulderin spricht, die alles in Kauf nimmt, wenn er nur wiederkommt. Die Verlassene hofft nicht, aber sie verzweifelt auch nicht länger. Sie kämpft nicht mehr, sie hat gesiegt: indem sie ihr Gefühl, ihre Liebe vorbehaltlos annahm. Denn: Verlassen sein heißt auch „In Ruhe gelassen sein“, heißt auch, nicht immer aufs neue Enttäuschungen und Demütigungen ertragen zu müssen – „Du läßt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen“ – heißt, sich nicht mehr behandeln zu lassen, sondern zu handeln.
Bestimmt, aber ohne Groll, nimmt die Verlassene den Verlorenen in Besitz. Erst im Verlust ist er ganz ihr eigen. Indem die Verlassene ihr Leiden abschreibt, sucht sie sich den Geliebten wieder zuzuschreiben. Das Erinnern wird sanft beschwichtigt, das Vergangene verklärt und überhöht. Leid wird in Liebe verkehrt, Liebe durch Leid vermehrt. („Und liebe dich noch mehr, weil ich um dich gelitten“).
Doch kaum versucht die Verlassene sich im Gedicht des Vergangenen zu versichern, wird die gefaßte Haltung der Eingangsstrophen aufgegeben. Neben das vergoldete Bild des Geliebten tritt ein zwar poetisch formuliertes, dennoch nüchternes Resümee. Über Liebe und Liebesleid ist die Zeit der Jugend vergangen: der Geliebte verließ eine alternde Frau. In der letzten Strophe ist diese Frau dann wieder die demütig Empfangende, die der Vergangenheit Ergebene, Erlegene. Die Geste der Ergebenheit ist in vielen Gedichten Gertrud Kolmars anzutreffen. Dennoch bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Fest steht: Diese Frau erwartet nichts mehr. Aber ist die Verlassene, allein Gelassene, wirklich gelassen? Ist sie wirklich zufrieden, in Frieden gelassen zu werden? Oder soll nicht vielmehr der Poesie gelingen, was der Frau im Leben fehlschlug: den Geliebten zurückzugewinnen?
Wir wissen, daß Gertrud Kolmars Liebesgedichte von privatem Erleben ausgehen. Glücklich waren ihre Beziehungen nie. Und in ihrer Not, in Worte zu fassen, was sie im Leben nicht festhalten konnte, bürdete sie in ihren Gedichten der Sprache mit einem Übermaß an Metaphern und Bildern mitunter zu viel auf. Dieser Versuchung erliegt sie in diesem Gedicht nicht. Für mich ist es eines ihrer schönsten.
Ulla Hahn, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983
Schreibe einen Kommentar