Ulla Hahn: Zu Gottfried Benns Gedicht „Kommt –“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gottfried Benns Gedicht „Kommt –“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Werke Band I – Gedichte 1.  –

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Kommt –

Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun –
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot –
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.

 

Wer redet, ist nicht tot

Benn schrieb dieses Gedicht im April 1955, wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod. Knapp einen Monat zuvor hatte er das viel bekanntere Gedicht „Worte“ abgeschlossen: „Allein du mit den Worten / und das ist wirklich allein“, lauten die ersten Zeilen; und die letzten: „bis in die Träume Silben – / doch schweigend gehst du hin.“ Das ist der gewohnte Bennsche Ton, die selbstgewählte Einsamkeit des Dichters.
Davon hier nichts. Im Gegenteil. „Kommt –“ verlangt nach Austausch, Gespräch. Reden – miteinander reden, die rechten Worte finden – nicht anders als beim Schreiben von Gedichten, diesen Selbstgesprächen des Autors. „Kommt, reden wir zusammen“ – ungeschrieben steht das als Appell vor jedem Gedicht. Jedes Gedicht ist auch eine Aufforderung zum Dialog mit seinem Leser. Ohne Leser vermodert das Gedicht.
Ein gutes Gespräch ist selten: wie ein gutes Gedicht. Wir reden in vielen Zungen; das Reden in Bildern ist nur eine Möglichkeit. Menschen für ein Gespräch sucht man sich sorgfältig aus. Nicht anders sollte man mit Gedichten verfahren. Gedicht und Leser, die Gesprächspartner, müssen einander zugeneigt sein, einander verstehen wollen. Nur dann entsteht Bewegung, das Gefühl, lebendig zu sein: „wer redet, ist nicht tot“. Dreimal wiederholt Benn diese Beschwörung. Vermächtnis.
Manchmal ist ein Gespräch mühsam, will nicht recht in Gang kommen. Verschieben wir es. Der rechte Augenblick für eine Begegnung – mit einem Menschen oder einem Gedicht –, ist so wichtig wie das rechte Wort. Wörter können Hoffnungen, Beziehungen, Vertrauen schnell zerstören, schwer wieder aufbauen. Nicht nur im Gedicht, auch im Gespräch gehört jedes Wort auf die Goldwaage. Müßte man für jedes Wort zahlen, wie würde dann jedes Wort zählen!
Und woran erkennen wir ein „gutes Gespräch“ – mit einem Gedicht, einem Menschen? Daran, daß nach einer solchen Begegnung das Schweigen ein anderes ist als zuvor; kein „Gobigraun“, keine „Wüste“, keine angsterstickte Leere der Sprachlosigkeit, vielmehr sprachgesättigte, sinnerfüllte, vertrauensvolle Stille. Vertrauen auf die Wiederholbarkeit der Erfahrung: daß es möglich ist, die „Lippen zu öffnen“. Nicht, um zu plappern, zu lügen, Sprache zu verhunzen. Sprache ist Mittel zum Leben, Lebensmittel. Gespräche, Gedichte sind Brot für die Seele. „Kommt, reden wir zusammen“.

Ulla Hahn, 2004, aus Ulla Hahn: Dichter in der Welt, Deutsche Verlags-Anstalt, 2006

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