– Zu Sarah Kirschs Gedicht „Bei den Stiefmütterchen“ aus Sarah Kirsch: Landaufenthalt. –
SARAH KIRSCH
Bei den Stiefmütterchen
Bei den weißen Stiefmütterchen
im Park wie ers mir auftrug
stehe ich unter der Weide
ungekämmte Alte blattlos
siehst du sagt sie er kommt nicht
Ach sage ich er hat sich den Fuß gebrochen
eine Gräte verschluckt, eine Straße
wurde plötzlich verlegt oder
er kann seiner Frau nicht entkommen
viele Dinge hindern uns Menschen
Die Weide wiegt sich und knarrt
kann auch sein er ist schon tot
sah blaß aus als er dich untern Mantel küßte
kann sein Weide kann sein
so wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr
Wie kein anderes hielt mich dieses Gedicht von Sarah Kirsch fest, seit ich es Mitte der siebziger Jahre zum ersten Mal las. Ich verstand es nicht, genauer, ich begriff die letzte Zeile nicht. Das mußte doch heißen: so wollen wir hoffen, er liebt mich noch. Jahrelang blieb mir der Sinn dieses „nicht mehr“ verschlossen, erst seit kurzem glaube ich, das ganze Gedicht zu verstehen.
Ohne Mühe erschließen sich die ersten Zeilen. In knappen Bildern erzählen sie von einer Frau, die im Park auf ihren Geliebten wartet. Nichts wird verrätselt, aber alles geht wie verhext. Der Mann kommt nicht, dafür verwandelt sich die Weide zum Weib, mißgünstig, alt:
Siehst du er kommt nicht.
Aber die Frau nimmt den Abwesenden in Schutz, beschwört alle möglichen und unmöglichen Hindernisse und muß doch schließlich diesen harten Brocken Wirklichkeit herauswürgen, sei er auch noch so salopp verpackt zwischen gebrochene Füße, Gräten, verlegte Straßen:
er kann seiner Frau nicht entkommen.
Ironisch, philosophisch-abgeklärt sucht der nächste Satz den Ernst des vorangegangenen zurückzunehmen. Vergeblich.
Wir kennen nun den Tatbestand und wissen um die Traurigkeit, die er unaufhaltsam mit sich bringt für alle, die in Mitleidenschaft gezogen sind. Niemand glaubt, daß er „schon tot“ ist, wie die Weide, die die heimliche Liebe schon lange kennt, stichelt, das wäre zu einfach, ganz wie im Märchen. Die Wirklichkeit ist trivialer, dafür weniger dramatisch: er wird seiner Frau die Einkaufstüten nach Hause tragen, weiße Stiefmütterchen pflanzen, eine Weide fällen.
Kann sein, kann sein. Alles mögliche kann sein. Weil das Erwünschte nicht wirklich sein kann.
Und nun hofft die Frau, die so einsam ist, daß sie gemeinsame Sprache spricht mit einem Weidenweib, „er liebt mich nicht mehr“. Hofft das gerade Gegenteil von dem, was alle Liebe begehrt: Gegenliebe. Will die Frau diese nicht? Oh, doch, sonst hätte sie ihn nicht, „wie ers mir auftrug“, ein ums andere Mal erwartet. Aber sie will diese Liebe nicht um jeden Preis. Lieber gibt sie den Geliebten frei, als daß ihm Böses widerführe, alles Ungemach, das in der zweiten Strophe aufgezählt wird.
Wer so selbstlos lieben kann, muß sehr selbstbewußt sein. Die Frau vermag den Geliebten loszulassen, weil sie sich an sich selber halten kann. Freiwillig ist sie zu ihm gekommen, freiwillig kann sie ihn freisprechen und sich. Sie muß sich nicht an einen Geliebten klammern, dem „die Straße verlegt“ ist.
Die Frau unter der Trauerweide steht auf eigenen Füßen, sie steht allein, aber ohne Angst, allein zu bestehen. Ehe die Weide zum dritten Mal knarrt, hat die Frau den Bann gebrochen, ist auf und davon.
Traurig und trotzig ist dieses Gedicht, wie so viele von Sarah Kirsch. „Man muß nach vorne leben und nicht nach rückwärts“, hat sie in einem Interview gesagt. Mit ihrem Gedicht „Bei den weißen Stiefmütterchen“ bin ich ein Stück vorwärtsgekommen.
Ulla Hahn, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986
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