Ulla Hahn: Zu Selma Meerbaum-Eisingers Gedicht „Spaziergang“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Selma Meerbaum-Eisingers Gedicht „Spaziergang“ aus Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. –

 

 

 

 

SELMA MEERBAUM-EISINGER

Spaziergang

… so viele Hühner und ein kleiner weißer Hund
und Himmel, der so farbenfroh und bunt –
der kahle Baum wirkt so gespensterhaft
und graue Häuser wie ganz ohne Kraft…
Ganz kleine Regenperlen hängen an den Zweigen
und ferne Berge sind getaucht in großes Schweigen.

Die Felder sind nur dunkelbraune Schollen
und hie und da ein bißchen gelbes Grün
und kleine Spatzen, dumm und frech und kühn,
laufen darüber hin wie Kinder, welche tollen…
Ganz fern die Stadt mit ihren vielen Türmen,
mit Häusern, welche licht und froh hinstürmen,

ist wie ein altes Bild aus einem Märchen.
Die Luft ist leis und voll von Sehnen,
so daß man wartet auf die blauen Lerchen
und fahren möchte in ganz schlanken Kähnen.

Hier stehen weiße Astern, weiß und rein,
und da ein Krautkopf, jung und klein.
Sie sind wie ein vergeßner Sonnenschirm
mitten auf tief verschneiten Straßen.
Ein Hase, der vorbeiläuft, kann sich gar nicht fassen:
es scheint, es würde Sommer wieder sein.

 

Sie wollte dabei sein

Kein überwältigendes Gedicht. Keines, bei dem ein Beckmesser nicht manche Kreide verbrauchen könnte. Nein, dieses Gedicht hat kein „Meister“ geschrieben. Doch zeichnet die Verse aus, was am Anfang aller Dichtung steht: ein frischer, genauer Blick auf die Welt.
Die Verfasserin, ein fünfzehnjähriges Mädchen, Selma Meerbaum-Eisinger, wurde 1924 – wie Paul Celan und Rose Ausländer – in Czernowitz geboren. Ihr Vater starb, als sie anderthalb Jahre alt war, mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater wuchs sie in ärmlichen Verhältnissen auf. Früh entdeckt sie den Fluchtweg in die Welt der Bücher. Sie liest Heine, Rilke, Verlaine, Brecht, Kafka und den damals populären indischen Dichter Rabindranath Tagore. Ihr erstes Gedicht schreibt sie im September 1939, ihr letztes im Dezember 1941. „… Daß man wie Rauch in Nichts zerfließt“ lauteten die letzten Zeilen, darunter hat sie mit Rotstift gekritzelt:

Ich habe keine Zeit gehabt weiterzuschreiben…

Anfang Juli 1941 marschierten die Deutschen in Rumänien ein; die Juden von Czernowitz mußten den Judenstern tragen, Zwangsarbeit leisten, abends galt Ausgehverbot. Im Getto wurden über 60.000 Menschen zusammengepfercht. Kaum ein Jahr später, an einem Sonntag im Juni, wird Selma Meerbaum-Eisinger in ein Lager westlich des Bug deportiert. Dort starb sie am 16. Dezember 1942 an Flecktyphus.
„Blütenlese“ hat sie das Heft betitelt, in das sie ihre 57 Gedichte schrieb, alle einem Freund gewidmet, der 1944 beim Versuch, Palästina zu erreichen, ums Leben kam. Die „Blütenlese“ ging durch viele Hände und Länder, bis das Heft nach dem Krieg schließlich in Israel sicher war und die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers dann auch in Deutschland gedruckt wurden.
Der Anfang des Gedichts „Spaziergang“ signalisiert: man ist unterwegs, läßt den Blick schweifen, willkürlich gleiten die Augen über die Dinge. Aber gleiten nur die Augen? Nein, es ist die ganze Person mit all ihren Sinnen und vor allem ihrer Phantasie. Kaum etwas bleibt wie es ist, nichts wird gesehen, wie es sich allein den Augen darbietet. Die Phantasie schaut mit einem zweiten Blick, schafft eine zweite Welt. Die vielen Wie-Vergleiche mögen ungelenk wirken, ihre bildhafte Substanz ist es nicht. Da kontrastiert ein farbenfroher Himmel mit einem kahlen Baum, der als „gespensterhaft“ erlebt wird, Spatzen erinnern an tollende Kinder, die ferne Stadt an ein Märchen.
In diesen Vergleichen vermag sich die Lücke zwischen Beobachtung und Phantasie noch nicht zu schließen. Anschauung und ihre Transformation bleiben voneinander getrennt. Dies ändert sich, wenn es der Sprache gelingt, die äußeren und die inneren Blicke miteinander zu verschmelzen, innere Bewegung in sprachliche Dynamik zu übersetzen, etwa in dem Bild von den „Häusern, welche licht und froh hinstürmen“; wenn über Bilder von „blauen Lerchen“ und Kahnfahrten eine bestimmte Qualität von Luft poetisch evoziert wird, glaubt man den Sommer zu riechen.
Die letzte Strophe schließlich: Eine Bildlichkeit jung und frisch, unbekümmert und unverbraucht. Hier spricht die fünfzehnjährige Dichterin ihre eigene Sprache, hat sie, jenseits alles Angelesenen, ihren Ton gefunden. Plastischer von Strophe zu Strophe wird ein trüber November- in einen strahlenden Sommertag, die Wirklichkeit in ein Bild der Sehnsucht verwandelt. Das lyrische Ich löst sich mit seinen Gefühlen, seinem Sehnen in die Wirklichkeit auf, taucht jeden äußeren Eindruck in inneres Erleben. Nicht einmal wird „Ich“ gesagt; alle Subjektivität ist in Beschreibungen, Bildern und Vergleichen aufgegangen.
Selma Meerbaum-Eisinger wollte nicht nur Beobachterin, sie wollte dabei sein. Bis zuletzt soll sie Pläne für eine Flucht aus dem Lager entworfen haben. Nicht mehr als 57 Gedichte sind eine schmale, kaum wahrnehmbare, vom Vergessen gefährdete Spur. Doch es gehören diese Gedichte nicht nur zur spezifisch jüdischen, sie gehören zum Bestand der deutschen Dichtung.

Ulla Hahnaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

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