– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“ aus Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. –
ELSE LASKER-SCHÜLER
Weltende
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen…
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du! wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
A Winter Lost adaptiert „Weltende“ von Else Lasker-Schüler
In seinem Nachwort zu den nachgelassenen Schriften von Else Lasker-Schüler erzählt deren Herausgeber, der mit ihr befreundete Schriftsteller Werner Kraft, dass die an ihrem Gottesglauben zweifelnde Dichterin am Ende ihres Lebens (da war sie längst nach Palästina emigriert) zu einem Rabbiner gegangen sei und ihn gefragt habe:
Hier sind wir ja unter uns – glauben Sie an Gott?
Dieser Zweifel, den der Holocaust wohl nur noch tiefer gemacht hat, muss sie schon in frühen Jahren gequält haben. Davon zeugt das Gedicht „Weltende“, das zuerst 1903 erschienen ist. Da war sie Anfang dreißig.
Einen stärkeren, entschiedeneren Einstieg in ein Gedicht kann man sich kaum vorstellen. Wie mit den Posaunen des Jüngsten Gerichts beginnt es:
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär…
Das Klagen, das Weinen ist ein wiederkehrendes Motiv jüdischer Geschichte. Die Psalmen und die Bücher der Propheten sind voll davon. Im „Hiob“ heißt es:
Meine Harfe ist eine Klage geworden und meine Flöte ein Weinen.
Das klingt wie eine Kurzfassung dieses Gedichts.
Aber Else Lasker-Schüler, obwohl Enkelin eines Großrabbiners und aufgewachsen in einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie in Elberfeld, lebte weder den bürgerlichen noch den jüdischen Vorbildern nach. Sie lebte (davon erzählen alle Zeitgenossen) in einer selbstgeschaffenen Märchenwelt und kleidete sich in phantastische Gewänder.
Und wie im Märchen spricht sie in der zweiten Zeile vom „lieben Gott“. Das ist nicht ironisch gemeint. Sie war alles andere als eine Ironikerin, und in der Mitte des Gedichts, in der wunderbaren Zeile „Komm, wir wollen uns näher verbergen…“, wird der kindliche Wunsch nach Schutz und Trost ganz deutlich. Wir sehen förmlich, wie sich hier zwei Menschen liebend ineinander vergraben, als suchten Kinder Rettung vor einer Katastrophe. Worin besteht sie? Ganz offenbar in einem Mangel an Liebe:
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Wie eine schwankende, federnde Brücke spannt sich das Gedicht zwischen extremen Polen: hier die Untergangsstimmung, dort der Schrei nach Zuwendung; hier der gestorbene Gott, der bleierne Schatten und das Grab, dort die Umarmung und die Küsse. Aber die Brücke würde nicht halten, wäre da nicht die bezwingende Form. Das Versmaß der Zeilen wechselt unmerklich und gibt ihrer Inbrunst ein besonderes Gewicht. Wirklich grabesschwer endet der geflügelte Rhythmus der ersten Strophe.
Die große Kunst dieses kleinen Gedichts besteht darin, dass es sich liest wie die kunstlose Abfolge appellativer Sätze, die getrieben sind von einer großen Not und einer großen Hoffnung. Das Ende der Welt steht bevor, aber noch haben wir die Chance der Liebe. Die Not ist eine Menschheitsnot, und die Chance ist eine ganz intime. Sie realisiert sich im Du:
Du! wir wollen uns tief küssen…
Und so leben wir ja noch heute, hundert Jahre später: verfolgt von den apokalyptischen Bildern, die wir aus den Medien ständig empfangen, aufgerichtet (hoffentlich) im Augenblick liebevoller Nähe. Aber damit hört das Gedicht nicht auf, sondern so:
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
Da sind sie aufs Neue, die beiden Pole: das Sterbenmüssen und die Sehnsucht nach wirklich gelebtem Leben.
„Weltende“ ist ein an die Grenze des Erträglichen gehendes pathetisches Gedicht, und dass wir es gerne ertragen, liegt allein an diesem hell-dunklen, traurig-frohen Else-Lasker-Schüler-Ton. Sie war wohl die bedeutendste deutsche Dichterin. In jedem Fall ist uns ihr „Weltende“ näher als das oft zitierte, sieben Jahre später geschriebene „Weltende“ des ebenfalls großen Jakob van Hoddis:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut…
Bei Else Lasker-Schüler geht es nicht mehr um den Hut, sondern um alles.
Ulrich Greiner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
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