– Zu Kurt Drawerts Gedicht „Tagebuch“ aus Kurt Drawert: Idylle, rückwärts. –
KURT DRAWERT
Tagebuch
Die Wolken treiben dahin
an diesem Morgen, wie die
Worte in meinem Herzen,
bis sie verschwinden, wie die
Wolken in diesen Morgen,
der Morgen in diesen Tag,
und der Tag in den Sätzen:
Das war eine Wolke oder
das war ein Morgen
verschwunden sein wird.
Ich denke, daß alles endet,
indem es beginnt,
und es ist Montag, und die Dinge
verschwinden, und ich gehe
aus dem Haus, über die
Straße, über den Platz, deine
Bemerkung erinnernd: „Unsere Liebe
ist wirklich“, wie dieser Morgen,
diese Wolken, dieser Tag,
wie die Worte in meinem Herzen
wirklich wirklich
gewesen sein werden
Unter den Zeitformen der Verben gibt es das Futur II, die sogenannte vollendete Zukunft. Ist das nicht ein wunderbarer Begriff – und eine furchterregende Vorstellung zugleich? „Ich werde gewesen sein.“ Eleganter und exakter kann man die Tatsache des unausweichlichen Todes kaum bezeichnen. Dass er jeden ereile, dafür spricht die Erfahrung; dass ich selber davon nicht betroffen sei, dafür spricht mein Gefühl. Denn ich lebe ja, und um mein Leben leben zu können, vermeide ich lieber den Gedanken an das Ende.
Manchmal jedoch, in einem unbewachten Augenblick, streift uns das Gefühl der Vergänglichkeit, und nicht selten geschieht es gerade dann, wenn das Glück uns ganz nahe scheint. So widerfährt es diesem Dichter, dem die Liebste ihre Liebe gesteht, an irgendeinem Morgen, an einem Montagmorgen, als die Wolken über den Himmel ziehen. Er bewahrt ihre Worte in seinem Herzen, er geht aus dem Haus, seinem Tagwerk entgegen, glücklich offenbar, oder nahezu. Das Dahintreiben der Wolken nämlich weckt in ihm ein Bild des Vergehens, des Verschwindens, und ihm fällt ein, dass dieser Montag bald verschwunden sein wird, so wie die Wolken verschwunden sein werden, ebenso seine Gedanken und Sätze wie „Das war eine Wolke“ oder „Das war ein Morgen“.
Und jetzt sagt er:
Ich denke, daß alles endet,
indem es beginnt
Wir sollten darauf achten, dass Kurt Drawert das Wort „denken“ so verwendet, wie es vor der Infektion durch die Anglophonie weithin üblich war, nämlich im Sinne eines inneren Argumentierens, nicht im Sinne von glauben oder dafürhalten. Wir haben hier, genau in der Mitte des Gedichts, seinen philosophischen Kern, und er hat zu tun mit der „Furie des Verschwindens“, von der Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes spricht.
Unser Dichter jedoch, der unter den dahintreibenden Wolken in seinen Tag treibt, ist kein Philosoph, sondern ein Freund der Konkretion. Konkret ist nicht allein dieser Morgen, sondern auch der Satz, der ihn über den Tag bringen wird:
Unsere Liebe ist wirklich.
Und an dieser Stelle, an seinem Ende vollzieht das Gedicht die grandiose Wendung in ein freudiges Einverständnis: Ja, die Vergänglichkeit ist unabweisbar. Aber es gibt, nicht bloß grammatisch, eine vollendete Zukunft, eine Zukunft, in der diese Liebe „wirklich wirklich“ gewesen, also unvergänglich sein wird. Das doppelte „wirklich“, einmal als Adjektiv und dann als dessen Verstärkung gebraucht, hat etwas Emphatisches, etwas kindlich Gläubiges, und dieses „Tagebuch“, wie der Titel des Gedichts lautet, das zunächst vom Dahinschwinden und Dahinscheiden handelt, findet in einem nachdenklichen Triumph seinen Trost und seine Pointe.
Jetzt können wir auch sehen, wie schlank und formvollendet Drawert sein Gedicht gebaut hat. Die jeweils dreizeiligen Strophen verbünden sich zwar nicht mit dem klassischen Rhythmus und Reim, aber die Verse beziehen sich aufeinander im Gleichklang (etwa in den Zeilenbrüchen „wie die“ oder „über die“), in der variierenden Wiederholung und Steigerung der Wolken, des Morgens und des Tages; und die sprachliche Bewegung, vorangetrieben durch die Bewegung der ablaufenden Zeit, schwankt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, bis sie in der vollendeten Zukunft, in der letzten Zeile, schließlich zu ihrem Ziel kommt.
Kurt Drawert, 1956 in Henningsdorf (Brandenburg) geboren, überwinterte in der DDR und lebt heute in Darmstadt. Man sagt das so: Er überwinterte. Diesem wirklich wirklich guten Gedicht merkt man es nicht an. Dass er ein wirklicher Dichter ist, merkt man seinen Romanen und Gedichten an, die einige Male aus bestem Grund ausgezeichnet wurden.
Ulrich Greiner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012
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