– Zu Wolf Biermanns Gedicht „Kleines Lied von den bleibenden Werten“ aus Wolf Biermann: Nachlaß I. Noten, Schriften, Beispiele. –
WOLF BIERMANN
Kleines Lied von den bleibenden Werten
1
Die großen Lügner, und was – na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben
aaaaadaß wir ihnen geglaubt haben
Die großen Heuchler, und was – na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben
aaaaadaß wir sie endlich durchschaut haben
2
Die großen Führer, und was – na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben
aaaaadaß sie einfach gestürzt wurden
Und ihre Ewigen großen Zeiten – na, was
Wird bleiben von denen?
Von denen wird bleiben
aaaaadaß sie erheblich gekürzt wurden
3
Sie stopfen der Wahrheit das Maul mit Brot
Und was wird bleiben vom Brot?
Bleiben wird davon – na, was? –
aaaaadaß es gegessen wurde
Und dies zersungene Lied- na, was
Wird bleiben vom Lied?
Ewig bleiben wird davon
aaaaadaß es vergessen wurde
Das „kleine Lied“, obwohl ein altes Lied, ist ein sehr aktuelles Lied. Veröffentlicht wurde es 1972 in der Bundesrepublik, geschrieben wurde es in der DDR. Irgendwann werden wir unseren Kindern nicht mehr erklären können (und schon jetzt ist es schwer zu verstehen), weshalb das so war: daß es Schriftsteller gab, die in der einen Hälfte Deutschlands lebten und in der anderen publizierten. Wolf Biermann wurde aus dieser schizophrenen Situation durch einen Staatsakt befreit. Im November 1976, nachdem er ein Konzert in Köln gegeben hatte, erfuhr es der DDR-Bürger Biermann aus dem Autoradio: Das Visum, das ihm sein Staat, damals noch das Land seiner Hoffnung, erteilt hatte, war ein One-way-Ticket. Er wurde ausgebürgert und lebt seitdem in Hamburg.
Das „kleine Lied“, eines jener „Hetzlieder, Balladen, Gedichte“ aus der Sammlung Für meine Genossen, erklärt ganz gut, weshalb die „Staats- und Parteiführung“ ihn loswerden mußte. Soviel Witz und soviel Wahrheit, das konnte nicht gutgehen und geht auch heute nicht unbedingt gut. Deshalb ist es aktuell. Anders als manche nach dem 9. November 1989 erschienenen DDR-Texte, die uns einreden wollen, ihre Verfasser seien schon immer dissidentisch gesinnt gewesen, wurde dieser Text in einer Zeit veröffentlicht, in der abweichendes Denken und Schreiben nicht bloß einen Literaturstreit zur Folge hatte, sondern entweder Gefängnis oder Ausbürgerung.
Das „kleine Lied“ ist simpel gebaut, und damit überlistet es den Leser. Die rhetorische Figur, die es sechsmal benutzt, verbindet zwei positive Behauptungen, die einander aufheben. Lügnern wurde geglaubt, Heuchler wurden durchschaut, Führer wurden gestürzt, große Zeiten wurden gekürzt, das Brot wurde gegessen, das Lied wurde vergessen. Das ist die eine Feststellung. Die andere: Gerade das wird bleiben. Es wird bleiben in den Köpfen und in den Herzen, es wird Folgen haben. Das ist eben nicht einfach weg. Die Führer und die Heuchler nicht und auch das Lied nicht. Das Lied wurde zwar vergessen, aber das Vergessen des Liedes bleibt. Die großen Zeiten wurden zwar gekürzt, aber es bleibt von ihnen, daß es eine Zeit gab, in der viele, und nicht bloß Biermann und nicht bloß die Intellektuellen der DDR, an die großen Zeiten geglaubt haben.
Das „kleine Lied“, obwohl es fast zwanzig Jahre alt ist, erzählt etwas von der Gegenwart. Den großen Lügnern, ob sie der SED angehörten oder dem PEN, wurde geglaubt. Das bleibt. Es bleibt so sehr, daß sie noch heute den Kredit, der ihnen damals eingeräumt wurde, in ein moralisches Debet ihrer Gegner ummünzen. Biermann wußte das nicht, als er das Lied schrieb. Aber die kleine Abweichung im Rhythmus, diese kaum auffällige Hinzufügung des Wörtleins „ewig“ in den Zeilen „na, was / wird bleiben vom Lied? / Ewig bleiben wird davon…“, verrät nicht nur jene Eitelkeit, die wir von Biermann kennen. Das Wort „ewig“ korrespondiert mit den „ewigen großen Zeiten“ und will sagen: Die Sehnsucht nach den großen Zeiten wird immer wieder aufbrechen (weil die Menschen es ohne Utopie schwer aushalten, weil die Wirklichkeit die Utopie als ihren Widerspruch hervorbringt), und es wird neue Illusionen geben, neue Lügen, neue Führer. Und deshalb werden auch die banalen Wahrheiten dieses Liedes immer wieder vergessen werden. Das bleibt. Und auch das ist die ewige Wiederkunft des Gleichen.
Das „kleine Lied“ ist ein Lied. Auf der Schallplatte Warte nicht auf beßre Zeiten (CBS 65753) hören wir Biermann und sein Harmonium. Mit dröhnendem Baß stellt er die Fragen, mit kleinlaut gequetschter Stimme gibt er die Antwort. Arrangement und Vortrag sind eine musikalische Meistertat. Aber wir müssen die Melodie nicht hören, müssen nur den Text lesen, um zu begreifen, daß Wolf Biermann nicht bloß ein Liedermacher und ein Showtalent ist, sondern auch ein großer Dichter.
Ulrich Greiner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991
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