− Zu Gottfried Benns Gedicht „Ebereschen“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −
GOTTFRIED BENN
Ebereschen
Ebereschen – noch nicht ganz rot
von jenem Farbton, wo sie sich entwickeln
zu Nachglut, Vogelbeere, Herbst und Tod.
Ebereschen – noch etwas fahl,
doch siehe schon zu einem Strauß gebunden
ankündigend halbtief die Abschiedsstunden:
vielleicht nie mehr, vielleicht dies letzte Mal.
Ebereschen – dies Jahr und Jahre immerzu
in fahlen Tönen erst und dann in roten
gefärbt, gefüllt, gereift, zu Gott geboten −
wo aber fülltest, färbtest, reiftest du −?
Benn schrieb dies Gedicht 1954, zwei Jahre vor seinem Tod, zurückgezogen als Hautarzt in der Steinwüste Berlins lebend. Sechs Jahre zuvor hatte er seine Existenz beschrieben als „äußeres Spießertum u. inneres Wachsein… eigentlich erlebnislos, seelisch unergiebig, als Mensch ganz stumpfsinnig“, er hefte „seine Erlebnisse nicht an sein Leben an, sondern an sein Œuvre“.
In der Bozener Straße, inmitten der Trümmer des Zweiten Weltkriegs, träumt er von Forsythien und Rosen, vom Garten seines Elternhauses „östlich der Oder, wo die Ebenen weit“, vom März in Meran und von Ebereschen. Aus diesen Träumen entsteht keine neuromantische Naturlyrik, denn sie meinen etwas anderes als die Landschaftskulisse einer Sommerfrische oder den Schmuck des Tisches. Programmatisch formulierte er 1951: „Hinter einem modernen Gedicht stehen die Probleme der Zeit, der Kunst, der inneren Grundlagen unserer Existenz weit gedrängter und radikaler als hinter einem Roman“. Einmal dichtete er: „Doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu?“ Manche seiner späten Gedichte erliegen dieser Gefahr einer allzu direkten, das Sentimentale streifenden Aussage einer Bekenntnisdichtung.
Es gibt eine Schallplatte, auf der er selbst zu hören ist, und für manche Ohren klingt das heute schwer erträglich. Aber er hat einmal gesagt: „Keiner auch der großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen.“ „Ebereschen“ gehört für mich dazu.
Das Gedicht spricht von der Zeit, die, faßbar nur im Augenblick, vorübereilt zu Herbst und Tod. Das Ende der ersten Strophe nennt dies Wort, und damit könnte das Gedicht enden. Daß dies nicht geschieht, hat seinen Grund in der Verfaßtheit dessen, der spricht: dem Tod steht der Versuch entgegen, den Augenblick festzuhalten, diesen vergänglichen und deshalb so intensiven Punkt zwischen dem Einst des Früher und dem Einst des Später, zwischen Geburt und Herkunft, Tod und Zukunft. Was dem Augenblick an Weite mangelt, gewinnt er an Tiefe. Kein Grund zur Klage, allenfalls zur Melancholie; das Bild des Baumes sagt, wie natürlich dies Schicksal ist – es vollzieht sich dies Jahr und Jahre immerzu.
Hier spätestens beginnt meine Faszination: wie dies Adverb aus dem Berliner Dialekt „immerzu“ in ein Gedicht verwoben ist, das dadurch nichts von seiner Vollendung verliert, wie andere Wörter die lyrische Balance zwischen Unverständlichkeit und metaphysischem Sinn aushalten: „halbtief“, „Nachglut“ – das ist hinreißend, und man darf sich dieser Empfindung hingeben, weil das Persönliche und Metaphysische artistisch, also allgemein geworden ist.
Auf die letzten Fragen der menschlichen Existenz gibt es keine objektiv erkennbare Antwort. Man kann sich deshalb vor diesen Fragen in Ideologien und Bekenntnisse flüchten oder sie ignorieren und verdrängen, wie man den Gedanken an den Tod verdrängt. Benn leidet an ihnen und an ihrer Unbeantwortbarkeit, und sein Gedicht stellt dies Leiden dar. Vielleicht sind unsere Zeiten so säkularisiert, daß wir das metaphysische Bedürfnis des Pfarrerssohnes nicht mehr teilen. Aber wonach dies Gedicht fragt, gehört zum Menschen wie Geburt und Tod, und ohne den gäbe es keine Dichtung und keine Kunst. Es macht den Zauber dieses Gedichtes aus, daß es sich eine Antwort in Gestalt einer Botschaft versagt.
Ein Dreizeiler, ein Vierzeiler und ein Fünfzeiler – so könnte es aufgebaut sein. Doch die fünfte Zeile fehlt der dritten Strophe. Ihr vierter Vers endet mit einem Gedankenstrich und einem Fragezeichen. Was das Fragezeichen wissen will, vermag die fünfte Zeile nicht zu sagen. Deshalb fehlt sie. Die gute alte Schulmeisterfrage: „Was will uns der Dichter sagen?“ – das Gedicht beantwortet sie mit einem Gedanken, der ganz Form geworden ist.
Ulrich Karthaus, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002
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