DAS VIERTEL ERINNERUNG
„Lesen ist eine Kette von Wörtern…“
Archipele, deren Stern gelöscht,
unsere Bilder folgen dieser schwindenden Spur.
Route anderer Büge,
Anderes Wort, es zu benennen.
Ich sehe Gorée dir aufgeladen.
Ein Viertel Buch Rabelais gelesen.
Pigmente von Papageien als Poesie,
Ich hab lauthals gefabelt von Utopie.
Ich seh Gorée dir aufgeladen.
Humanes Ideal und Hundekopf.
Die Große Mauer
Kettenglied-Küste
Ich habe deine Humanitäten und unsere Wildheiten
Rabelisiert.
Kolibri-Mensch, gute Wolke
Um mich dem Regen zu ergeben
Khal
Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt
Joseph Brodsky, der viel zu früh verstorbene große russische Dichter, hat nicht nur über das Machen und die Macht von Poesie reflektiert. Er hat auch nachgedacht, wie das Gedicht aus seinem Hamsterrad befreit, wie es aufscheinen kann jenseits von Lesungen und verschworenen Gemeinden. Einer seiner Vorschläge lautete, die in jeder Schublade eines jeden Nachttisches in vielen Hotels vorhandene Bibel ab sofort durch ein Buch mit den „Hundert Besten“ Gedichten der Weltliteratur zu ersetzen.
Hier liegt nun vor dem geneigten Leser eine eigenwillige Sammlung von 99 Gedichten – eigenwillig zunächst in ihrer Entstehung. Dreiunddreißig Autorinnen und Autoren, eingeladen zum 1. internationalen literaturfestival berlin, wurden gebeten, jeweils drei Gedichte ihrer Wahl, darunter auch ein eigenes, für eine Anthologie zu nennen. Die Vorgaben waren weit gefaßt: Es sollten bedeutende Gedichte sein, und sie sollten eine Botschaft für Berlin enthalten. Die Idee zu solch einer „Berliner Anthologie“ wurde in Gesprächen zwischen Frank Berberich und Ulrich Schreiber geboren. Aus dieser Idee entstand schließlich diese facettenreiche, inspirierende, aus vielen Entstehungsorten der Welt zusammengetragene Sammlung: ein Patchwork aus Landkarten der Poesie – von Dschibuti bis Antwerpen, von Sydney bis Buenos Aires −, ein Kompendium lyrischer Traditionen, ein Geschenk an jene Stadt, die Weltoffenheit und Internationalität zu ihrem Programm gemacht hat.
Drei Gedichte von Jehuda Amichai eröffnen die Sammlung. Er hatte die Einladung zum Literaturfestival angenommen, starb unerwartet im September letzten Jahres und konnte selber die Auswahl nicht mehr vornehmen. In einigen wenigen Fällen haben die Juroren des Literaturfestivals das Vorschlagsrecht der Autoren wahrgenommen. Insgesamt aber konnte die einzigartige Idee einer vielschichtigen, vielstimmigen und multiperspektivischen Anthologie verwirklicht werden.
Walter Benjamin hatte in einer Rezension von 1926 drei Arten von Anthologien unterschieden:
Die der ersten sind Dokumente der hohen Literatur, machen jedenfalls darauf Anspruch: Auswahlsammlungen, die von einem mehr oder minder berufenen Literaten nach Grundsätzen gemacht sind, die, eingestandenermaßen oder nicht, einen normativen Charakter haben. Solche Sammlungen können großes Interesse besitzen. Man braucht nur den Namen des deutschen Dichters Rudolf Borchardt zu nennen, um anzudeuten, in welchem Grade sie eigentliche literarische Dokumente darstellen können und als solche der Kritik ausgesetzt sind. Die zweite und seltenere Gattung setzt sich rein informatorische Ziele. Ihr ist gemäß, daß der Herausgeber anonym bleibt, wenn man es nicht überhaupt mit einer größeren Gruppe von Editoren dabei zu tun hat. Die häufigste, aber unerfreuliche Gattung ist die dritte; ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte sucht das nutzlose Spiel eines Unberufenen dem Publikum gegenüber interessant zu machen.
Die vorliegende Sammlung sprengt diese Einteilung. Am ehesten könnte sie noch dem Benjaminischen Typ der zweiten Gattung zugeordnet werden. Denn wir haben es im Grunde mit dreiunddreißig Editoren zu tun, die mit ihrem Dreiervorschlag jeweils eine poetische Monade einreichten, die sich mit allen anderen zu einer „Welt über dem Wasserspiegel“ verdichten. Da ich nicht selbst ausgewählt habe, fühle ich mich nicht als Herausgeber, allenfalls als erster Leser, Ordner, Sortierer. Die Idee, die 99 Gedichte thematisch zu ordnen – nach Topoi wie zum Beispiel „Großstadt“ (Mandelstam über Leningrad, Borges über Buenos Aires, Marina Zwetajewa, Vivian Hopkirk, Gerhard Falkner, Günter Kunert und andere über Berlin), „Natur und Epiphanie“ (Gennadij Ajgi, Per Højholt), „Poetologisches“ (João Cabral de Melo Netos „Das letzte Gedicht“; „Envoi“ von Hugo Claus) oder „Politisches“ (der irakische Dichter Sargon Boulus, der Ungar György Petri) – verwarf ich schnell wieder. Denn viele Dreiervorschläge haben große Konsistenz, erlauben nicht nur, weil sie ein Selbstporträt skizzieren, spannende Rückschlüsse auf den auswählenden Dichter, sondern stellen in sich selbst so etwas wie eine Anthologie „in einer Nußschale“ dar.
So hat die südafrikanische Lyrikerin Antjie Krog zwei anonyme Lieder vom Stamm der Khoi San ausgewählt und auf den Reichtum der poetischen Traditionen ihrer Heimat aufmerksam gemacht. Ähnliches gilt für die Auswahl des großartigen Zulu-Dichters Mazisi Kunene mit seinem Brückenschlag über den „schwarzen Atlantik“ zu Langston Hughes. Wieder andere haben mit dem Begriff „Weltliteratur“ im Zusammenhang mit den Ursprüngen der Poesie Ernst gemacht und wie Eliot Weinberger auf einen jeweils sehr frühen chinesischen, japanischen und indischen Text zurückgegriffen. Inger Christensen zeigt mit ihrer Auswahl, wer ihre Wesensverwandten sind: Giuseppe Ungaretti, Gennadij Ajgi, Per Højholt. Bei Dao, der im amerikanischen Exil lebende chinesische Nobelpreiskandidat, nennt, was Anlaß zum Nachdenken gibt, drei Europäer: Paul Celan, Dylan Thomas und Ossip Mandelstam.
Es wäre nicht richtig gewesen, diese Zusammenhänge durch eine thematische oder chronologische Gliederung zu verwischen. So blieb es bei der einfachsten, weil schlüssigsten und aussagekräftigsten Anordnung: die Vorschlagenden mit ihren jeweils drei Gedichten in alphabetischer Reihenfolge vorzustellen. Der entdeckungsfreudige Leser wird ohnehin aus der Summe der verschiedenen poetischen Stimmen die Querverbindungen, die thematischen Kohärenzen herauslesen – und im übrigen zu schätzen wissen, daß die individuellen Sprechweisen nicht in einem kollektiven Text untergehen, sondern sichtbar bleiben, ihren Rhythmus, ihre Prägung behalten, ohne daß eine besondere Schule oder Theorie oder Hierarchie sie vereinnahmen würde. Das von dem Argentinier Hugo Gola vorgeschlagene Gedicht von Gonzalo Rojas „Konzert“ spricht von dieser Polyphonie. Dessen Anfangszeile „Sie alle schrieben das B U C H miteinander“ könnte ein anderer Titel dieser Anthologie sein.
Aus deutscher Sicht, und es ist ja ein Buch für deutsche Leser, wird man Lücken feststellen: kein Rilke, kein Benn, kein Rolf Dieter Brinkmann, kein Heiner Müller, nur um das 20. Jahrhundert zu bedenken. Man wird dafür aber belohnt durch eine Fülle von uns noch Unbekannten: Abdourahman A. Waberi aus Dschibuti oder Murray Edmund aus Neuseeland, die Japanerin Kazuko Shiraishi, die Senegalesin Ken Bugul oder der Mexikaner Jose Emilio Pacheco, die unseren Blick zu Dichterinnen und Dichtern lenken, die noch der Entdeckung harren.
Was den Autoren und Autorinnen eingeräumt wurde, wollte ich mir nicht ganz versagen. So habe ich ein Gedicht von Joseph Brodsky, das ich seit langem liebe und das sinnigerweise den Titel „Nachwort“ trägt, ausgewählt und an den Schluß der Anthologie gesetzt. Aus zwei Gründen: Dieses Gedicht spricht vom Einswerden des Dichters mit der Welt; er ist der Astronom, der die Sterne zählt und über den Erhalt der sichtbaren Welt wacht. Insofern bringt dieses Gedicht die in diesem Buch vorgenommenen zahlreichen Benennungen der Welt noch einmal auf den Punkt. Und es macht aus der Anthologie eine Sammlung von 100 Gedichten, die dem einstigen Vorschlag von Joseph Brodsky nahe kommt.
Joachim Sartorius, Vorwort
− so könnte ein anderer Titel dieser Anthologie lauten, die ein einzigartiges poetisches Vorhaben dokumentiert: Im Vorfeld des internationalen literaturfestivals berlin 2001 wählten 33 Autoren und Autorinnen aus den USA, Europa, Australien, und Neuseeland, aus Japan, China, Lateinamerika und Afrika jeweils drei Gedichte aus, die in ihren Augen einen Hinweis auf Berlin, eine Anregung für die Stadt enthalten.
In dieser inspirierenden Polyphonie aus 99 Gedichten ist die Rede von den Ungewißheiten der Orte, vom Alleinsein in der geschäftigen Masse, vom befristeten Aufenthalt im Sedimentgestein der Städte, von den Adreßbüchern fremder Leben.
Mit der Vielfalt dieser bekannten und unbekannten Stimmen präsentiert sich die Berliner Anthologie einmal nicht als Versammlung der örtlichen Literaten, sondern als ein Geschenk an eine Stadt, die Weltoffenheit zu ihrem Programm gemacht hat.
Alexander Verlag, Klappentext, 2001
Schreibe einen Kommentar