– Zu Rose Ausländers Gedicht „Salzburg“ aus Rose Ausländer: Südlich wartet ein wärmeres Land. –
ROSE AUSLÄNDER
Salzburg
Du fliegst über
tönende Berge
eine Lerche
im Augenflug
Raubvögel
ihre Schlagschatten
auf schönen Kulissen
Einst flogen hier
Geigen gen Himmel
pianissimo
Spring
über die Schatten
ins Mozartlicht
Als Rosalie Scherzer anno 1901 das Licht der k.u.k. Welt erblickte, war ihr Geburtsort Czernowitz Hauptstadt eines Kronlandes: Franz Joseph, seit beinah unvordenklichen Zeiten Kaiser von Gottes Gnaden, herrschte als Herzog über die Bukowina. Doch neben diesem und unzähligen anderen Titeln führte die greise Majestät auch den – durchaus symbolischen – eines Königs von Jerusalem. Nicht ohne Grund betrachteten ihn deshalb die Juden seines Reichs, und gerade die des Ostens, als ihren Schirmherrn.
Mit dem Untergang der Donaumonarchie brachen auch für Rosalie Scherzer, die später den ebenso wundersamen wie legitimen Namen Rose Ausländer tragen sollte, schwere Zeiten an – voll Angst und Entbehrung, verdüstert von Verfolgung und Leid. Zweimal emigrierte sie in die Vereinigten Staaten, unter dem Joch der SS im Ghetto von Czernowitz waren Zwangsarbeit und Vegetieren in Schlupfwinkeln an der Seite der kranken Mutter ihr Schicksal. „Mein Vaterland ist tot / sie haben es begraben / im Feuer / Ich lebe / in meinem Mutterland / Wort“ schrieb die erst in hohem Alter zu Anerkennung, ja, zu Ruhm gelangte Dichterin. Während der letzten Jahre im Nelly-Sachs-Haus zu Düsseldorf, wo sie Anfang 1988 starb, hatte sie das Bett nicht mehr verlassen können, dafür unternahm sie in der Phantasie Reisen an Orte der Sehnsucht und Erinnerung, poetische Exkursionen nach Venedig, Toledo, Paris, Rom und – Salzburg. Das kleine Gedicht selbigen Titels entstammt der 1982 erschienenen bibliophilen Edition Südlich wartet ein wärmeres Land.
Nun ist seit Georg Trakls Tagen die festliche, „Die schöne Stadt“ mitsamt der magisch-melancholischen „Musik im Mirabell“ in der Wertschätzung der Schriftsteller, zumindest jener von gesellschaftskritischem Rang, erheblich gesunken. So meinte ein Alfred Polgar nach dem Krieg bei einem Lokalaugenschein an der Salzach, es gebe dort „mehr Nazis als Einwohner“, Thomas Bernhards einschlägige Verwünschungen waren schlicht fremdenverkehrsschädigend, und Erich Fried beschwor vor allem „Schönheit / von Unerträglichkeit / bewohnt / bewacht und beschlafen“.
Von solch harschem Urteil sind die Verse der Ausländer unzweifelhaft weit entfernt, nicht minder weit freilich von jubelndem Einverständnis, wirklichkeitsblind hingegeben einer glorreichen Tradition und deren steinernen Zeugen. Gut zwei Dutzend Vokabeln genügen, um die ganze Ambivalenz der Gefühle auszudrücken, die sich bei Nennung eines der international renommiertesten Flecken auf dem kulturhistorischen Atlas einstellt. Gewiß war Rose Ausländer aufgrund der Schreckensgeschichte unseres Jahrhunderts in des Begriffs genauem Verständnis heimatlos, zu Hause bestenfalls in der deutschen Sprache und in den Lüften Europas.
Daher ihre Affinität zu den Wesen, die sich um staatliche Grenzen nicht zu kümmern brauchen, weil sie über ihnen schweben. Verbirgt sich indes hinter der Lerche nicht vielleicht eine Nachtigall und hinter dieser die Autorin selbst? Haben die Raubvögel, Mörder ihrer Natur nach, keine grausamere Entsprechung im Bezirk des angeblich Humanen?
Lyrik, wenn es denn eine ist, wirft stets mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermag. Und der Terminus „Schlagschatten“ geht wohl metaphorisch über seine physikalische Bedeutung hinaus, weist auf Gewalttätiges hin, das um so verstörender wirkt, je edler das Bühnenbild scheint, in dem das Drama der Epochen abrollt. Trotzdem findet in der zweiten Hälfte des Poems Versöhnung statt, die mit erpreßter nichts gemein hat: Es ist Mozarts universale Harmonie, der Kosmos der Töne, gespannt über die Abgründe der Chaoserfahrung aus Vergangenheit und Gegenwart. Mit dem leisen Zauberwort „Mozartlicht“ schuf Rose Ausländer eine Art Erlösungsformel – dunkle Gesichte, aufgehoben von einer noch im Tragischen fast schwerelosen Heiterkeit. Anders gesagt: erleuchtet von einem Strahl irdischer Gnade.
Ulrich Weinzierl, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992
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