WENN MAN SICH AN DIE WEITE WELT GEWANDT,
Und dann von ihr verlassen wurde,
war man abhängig von ihrer neigung,
man war süchtig auf ganz unerträgliche weise,
man war zu verlassen,
man hat in ihren augen nichts getaugt,
alle gründungsabsichten versanken in treibsand,
das quecksilber hat einen irre gemacht,
doch man wird nicht verrückt,
man erstarrt
Ulrich Zieger liest „An einen toten Sänger“.
Ulrich Zieger liest sein Gedicht „Ostersegen“.
(Weitere Informationen und Videos finden Sie auf der sphärischen Homepage von Stellest und seinem Blog.)
ist der zuletzt erschienene Band Ulrich Ziegers, den er im Laufe des Jahres 2005 zusammengestellt hat. Das Buch ist in Deutschland noch nicht veröffentlicht. Es besteht aus zwei ebenbürtigen Teilen, die zwei Momenten deutlicher Setzung entsprechen und die mit „Schritte“ und „Linien“ überschrieben sind, Titel, die auf die generelle Thematik des Bandes verweisen: die Frage nach der räumlichen als auch der temporären Orientierung, nach Landvermessung, nach Rechenschaft. Oftmals rufen die Gedichte Erfahrungen sowohl der Rekapitulation als auch der Projektion auf: Rekapitulation der Ortswechsel, der Bewegungen, der Migrationen oder der Irrfahrten des Subjekts, das von diesen kündet, und unübersichtliche Projektion – bei unscharfer sfumato-Perspektive – von seiner Einfügung in kommende Räume und Zeiten. Zwischen einer primitiven, glazialen Vergangenheit und einer (politischen, liebenden) Zukunft, offen in ihrem Anlauf der Utopie, doch schnell zerbrochen an der Indifferenz einer konsumorientierten Welt, ist die Zeit der „Gegenwart“ des Subjekts die Steppe. Von dort schreibt es, von einem unbestimmten, undefinierten, experimentellen Ort aus, mit verschwimmenden Konturen, von dort wendet es sich an die sich auflösende Gemeinschaft, die Unabwendbarkeit der Wirklichkeit unermüdlich mit den Variationen des Möglichen konfrontierend. Daher die Art der Widmung, des Anrufs, des Dialogs, der Befragung, die allen Gedichten eignen. Daher ihre Art, eine Bestandsaufnahme des Ortes zu machen, zu sagen, was sich dort befindet, was dort lesbar ist, zu der Zeit, an dem der Ort besetzt ist, was den Stoff der tagtäglichen Erfahrung dessen ausmacht, der Zuflucht gefunden hat in einem Künstleratelier, einer Höhle gleich, und der aus der begrenzten Zone des Lichtschachts, der den Ort erhellt, seinen Raum des Lebens, der Lektüre, des Schreibens macht. Und der dort die disparaten Erscheinungen, die den Tag bevölkern, benennt und ihre Art, sich zusammenzusetzen, beobachtet. Seine Wahrnehmung ändert.
Édition Grèges, Ankündigung, 2010
Eine Buchbinderwerkstatt diente dem Autor dieses Buches als Herberge und Rückzugsgebiet, zwei Sommer und zwei Winter; das Werkzeug, aus einer anderen Zeit stammend, stiftete Erdung und Zukunft für die entstehenden Texte – Versprechen und Halt zugleich. Nun bekommen die Texte eine neue schützende Hülle: 55 Umschläge für 55 Bücher, am 29.12.2016 55 Jahre schwer.
Ihre Bindung haben die Bücher in Frankreich erfahren – „der Rest war weiter draussen“. Die Gedichte hält die „stärkere Stimme“ des Dichters zusammen, der uns in vielen Rollen begegnet, als „Freier unter Fängern“, „tanzender Derwisch“, „König Kanaille“ oder „Bote, Kurier“, auch wenn Linien und Schritte, die die Struktur des Bandes erzwingen, über die Ränder des Bildes, des Raumes (der Werkstatt) hinausstreben: in der Hoffnung auf ein „waches Gespräch“, das nicht zerrinnen kann in der „Tristesse der Terrassen“, der Austauschbarkeit von Himmel und Hölle.
„Es war manches zu tun, / eingebettet in zähes und rasselndes Warten“, vor allem: weiter zu beharren trotz der Verstörung, der Tode, der betrunkenen Winter – im unermüdlichen Umkreisen der „unerlösten Themen“, das Übrige zu ordnen, zu trennen auch. Die Adressaten: verschwiegene Leser, tote Sänger, eine alte Malerin, Michel de Montaigne, Mnemosyne oder die Bremer Stadtmusikanten. Noch künden die Texte von ermahnter Nähe und ertrotzter Anwesenheit, aber die Ahnung weist schon voraus: „bald muss ich samt meinem Schatten hinweg springen“ – auch über den Totpunkt. Die Zeugenschaft dieser stets unaufgehobenen Bewegung überlassen uns die Gedichte – „bin ich der Läufer der sich auf der Ziellinie selbst überholte“ – als Orientierung und „Überdauerndes“.
Kristin Schulz, Klappentext, distillerypress, 2016
– Gedichte „Aus der Werkstatt“ von Ulrich Zieger. –
Halb zog es ihn, halb zog er selbst – ins Halbdunkle, das ihm wohl wie saturnische Gefilde der Vergessenen anmuten musste, da er vom Radar kurzatmiger betrieblicher Heischung zunehmend verschwand. Die Rede ist von Ulrich Zieger. Immer wieder mal war in den letzten Jahrzehnten von ihm die Rede, mal mythisch-bewundernd, mal wie von einem, der irgendwo stecken geblieben war. Nur wenige Autoren überleben in der Aufmerksamkeitsökonomie einen Umzug ins nichtdeutschsprachige Ausland. So wohl auch Zieger, zumindest in der Selbstwahrnehmung. Denn der Roman Durchzug eines Regenbandes, an dem er 10 Jahre im Stillen gesessen hatte, wurde weitflächig besprochen. Zeit, Ruhm zu Lebzeiten zu entfalten, gab es nicht, Zieger starb schon bald nach der Publikation.
Zwei der letzten Jahre dienten ihm, so erfahren wir aus dem Klappentext des Buches Die Werkstatt, erschienen 2016 zunächst in der Édition Grèges und nun vom Verlag Distillery mit einem deutschen Umschlag versehen und vertrieben, „eine Buchbinderwerkstatt“ „als Herberge und Rückzugsgebiet, zwei Winter und zwei Sommer“, irgendwo in seinem „Exil“ in Frankreich. Alles an diesem Buch ist besonders: Der Verlag, die Zweisprachigkeit (das Buch ist deutsch-französisch), der fast ins Vergessen geratene Autor, die Umstände, die Gedichte selbst schließlich.
Anfang des Jahres 2016 gab es einen kleinen, aber hochinteressanten Blog auf der Literaturzeitschriftseite hundertvierzehn des Fischerverlags, auf dem sich diverse Autoren 114 Gedichten annäherten, sie umkreisten, kritisierten oder weitersponnen. Dort ging es auch um das letzte Gedicht Ulrich Ziegers. Man findet es unter https://www.hundertvierzehn.de/lyrik/gesöff_1392.html
Die an das Gedicht „Gesöff“ anschließende Diskussion ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und verdient aus der Tiefe des Netzes gehievt zu werden. Dass sich gerade an Zieger Grundsatzdiskussionen zum Verfahren des Blogs entzündeten, scheint kein Zufall zu sein, denn Zieger dient leicht als Kristallisationspunkt grundsätzlicher Erwägungen zum Gedicht, zum Betrieb und zum Leben eines Lyrikers in Zeiten, in denen Medialität bestimmten Konditionierungen unterliegt, die eine lyrische Wahrnehmung geradezu auszuschließen scheinen.
Zum einen ging die Diskussion darum, inwiefern ein Autor(werk) von seinem Ende her aufgezäumt werden sollte. Eine Frage, die sich bei Zieger nun fast unvermeidlich stellt. Er teilt damit das Schicksal einer nicht unbeträchtlichen Reihe von Dichtern. Daran anschließend stellen sich zwei weitere Fragen, die ich so formulieren möchte: Zum einen – was macht der Literaturbetrieb aus „Namen“ oder besser: wie und inwiefern spiegeln diese „Namen“ zurück auf unser Leseverhältnis – und zum anderen – wann, unter welchen Insignien gehen Leben und Lesen, Leben und Schreiben ineinander über – eine Frage, die sich bei Zieger nicht nur biographisch wegen seines frühen Endes aufdrängt, sondern weil sein Schreiben auch immerzu auf Erlebtes, auf Erfahrung zu rekurrieren scheint – ein Leben, das wohl im Spätwerk von einer Art Behauptungskampf gezeichnet gewesen war. Theresia Prammer beschreibt folgerichtig auf hundertvierzehn in ihrem ersten, bewegenden Kommentar, der geradezu die Form eines Nachrufs annimmt, Zieger als Inkorporation gelebter Literatur.
An diese Fragen rührt auch Die Werkstatt. Das Buch ist von einem eigentümlichen, kaum anders als „authentisch“ zu nennenden Ton durchzogen. Dabei entspringt diese Authentizität womöglich auch einem gewissen Widerspruch. So sehr sich eine gewisse Verbitterung über die menschliche Gesellschaft den Gedichten eingeschrieben hat – und unzweifelhaft wird auch die abgesprochene „Marginalisierung“ Ziegers dazu beigetragen haben – so sehr scheint dem Autor jede Betrieblichkeit und jedes Interesse daran abzugehen – oder musste ihm allmählich abgehen. Lange sah es nicht nach solcher Abgeschiedenheit aus, man erinnere nur an seine Teilnahme beim Bachmannpreis, seine Publikationen, die Zusammenarbeit mit Wim Wenders usw. Zuletzt (oder immer schon?) hat der Autor gewisse Gepflogenheiten des Schreibens gemieden, vor allem marktkonforme Geschliffenheit oder Andockbarkeit an trendige Diskurse und Formen, blieb so aber eingekerbt in die besonders gefährliche Unsichtbarkeit (aus „Hysterie“).
In der Werkstatt findet sich Durchkomponiertes neben (scheinbar?) Zufälligem, Biographisches mischt sich mit Zeitdiagnosen, mit Allgemeinplätzen aber auch poetischen Bildern und märchenhaften Szenen. Rhythmisch geht es zum Teil rasant zu, dann wieder eher holprig, formvollendete Zeilen werden von flüchtig eingestreut wirkenden Notaten gebrochen. Das Verblüffende aber (was vielleicht zu diesem Eindruck des Authentischen beiträgt) ist, dass diese Sprünge, dieses Sich-Sperren (oder einfach bewusste Unbekümmertheit) gegen jede müßige Form von »Meisterschaft« keineswegs mit zersprengter Disparität einhergeht, sondern eine Erdung in Erfahrung und im Moment erfährt und kohärent zu sein scheint. Das macht das Buch letztlich persönlich: Lebensumstände und Dichtung gehen eine – oft sehr melancholische – Symbiose ein. Deshalb auch schlagen Zeilen, die bei anderen Dichtern vielleicht eher sentenzhaft wirken würden, hier aus. So heißt es in „Tristesse der Terrassen“: ich weiß ja wie traurig das meiste in wahrheit verläuft / in der welt ohne ausweg (…) / (…) / ich will auch nicht reimen, ich will auch nicht schildern oder in seinem Auftaktgedicht „Winter, betrunken“ nach einer Reihe von resignierten Bemerkungen (selbst?)kritisch: wir sind einfach lieblos geworden.
Wie bei manchen Autoren ist auch bei Zieger seine vermeintliche Schwäche zugleich seine Stärke. Indem er sich nicht abmüht, kunstvoll zu erscheinen, sind seine Gedichte selbst in ihren pathetischen, gezierten oder fantastischen Anleihen von einer Direktheit, deren stetes Verweisen auf zugrunde liegende, radikale Gefühlslagen manche Erkenntnis oder Zeile besonders aufladen, womöglich „rechtfertigen“. Interessant ist das bei einem Autor, der doch für seine „Fabulierkunst“ (Koziol) gerühmt wird. Das lässt schließen – und es erschließt sich auch –, dass hier doch keine so unmittelbare Einfachheit waltet, sondern eine komplexere Wahrnehmung und Einsicht in die Verstrickungen entsprungene, die durch ihre verhangenen Stimmungen als Wahrheit am Ende der Tage leuchten mag. Zumal immer wieder (sprachlich) Hintersinniges und Wunderliches damit kontrastiert. Dabei wendet sich Zieger auch an die Tradition, die bei ihm von Montaigne über Theophrast und Pinocchio bis hin zu Tom Waits reicht.
Das vielleicht stärkste Gedicht, in dem vieles von dem aufscheint, dem ich mich mit obigen Mutmaßungen nähern wollte, ist „Eiswasser“. Es sei hier in Gänze zitiert:
Sobald die weltbesitzer sich dazu entschließen
eine schwer erkämpfte lebensweise aus der zeit zu tilgen
müssen nach und nach alle (ein jeder – so falsch er es findet –)
sich in die veränderung fügen wie laub in den herbststürmen
so nämlich will das verhängnis begrüßt sein
liebespaare trennen sich in panik
alte freunde zanken sich in blanker hysterie
angekündigte anrufe erfolgen nicht mehr
auch zarte menschen lügen von tag zu tag besser
gewisse Leute scheinen ihre körperlichkeit einzubüßen
man muss damit aufhören sich zu betrinken
durch trockene Wochen und Monate gehen
zwar schlaflos oft von angstzuständen überfallen
doch ist nur askese die fälschung erkennbar
dass gott selbst auch unwägbar blieb
Ziegers Gedichte zielen auf einen Raum jenseits von rein literarischen Wertungen und wollen sich besinnen auf Dichtung als zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit der Welt, als Erkenntnisinstrument. Erkenntnis ist bei ihm aber nicht nur ein vielfältig zu Lesendes – immer auch ein Gelebtes und zu Liebendes. Unter dem Mangel an Zuwendung oder einer herrschenden Unbarmherzigkeit mag einer, der gerade im Schreiben (zunehmend) Wahrhaftigkeit suchte, Irrwitz fand, besonders gelitten haben – umso mehr verdiente seine Literatur eine Aufmerksamkeit, die nicht nur ein Blick in seine „Werkstatt“ werfen, sondern diese zum Anlass nehmen könnte, auch den ganzen Zieger wieder zu entdecken.
Ralf Schönfelder erzählt von Ulrich Zieger als Symbolfigur und liest das Gedicht „an einen toten sänger“. Die gesamte Sendung kann man hier hören.
Ulrich Zieger bei Blaubart und Ginster # 19 von 14:17–20:50
Ralf Schönfelder liest ein Gedicht von Ulrich Zieger aus dem Band Die Werkstatt und erzählt dazu die Geschichte.
− Aus einer deutsch-italienischen Übersetzerwerkstatt. −
Unsere filadressa-Übersetzerwerkstatt sah folgendermaßen aus: Zwei Übersetzer (Claudio Groff, Werner Menapace) und ein Team (Lorenza Rega, Marella Magris, Reimar Klein) versuchten sich unabhängig voneinander an der Übertragung des Gedichtes „Pfingstmontag“ von Ulrich Zieger (aus dem im Januar 2010 bei Éditions Grèges in Montpellier deutsch und französisch erschienenen Band L’Atelier – Die Werkstatt) ins Italienische und dokumentierten ihre Arbeit mit entsprechenden Überlegungen, Anmerkungen und Reflexionen. Eine dieser drei Versionen, und zwar aus rein praktischen Gründen jene von Werner Menapace, wurde sodann von Josef Oberhollenzer (wieder) ins Deutsche übersetzt, ohne dass dieser allerdings wusste, woher der Text stammt und dass es sich eigentlich um eine Rückübersetzung handelt. Trotz der begrenzten Zahl von Versuchen ein doch relativ breites und interessantes Spektrum von unterschiedlichen Hintergründen, Ansätzen und Sehweisen: die eines renommierten, überaus produktiven und mehrfach ausgezeichneten Literaturübersetzers, die eines Übersetzers geisteswissenschaftlicher und literarischer Texte, die eines Teams von ÜbersetzungswissenschaftlerInnen und ÜbersetzerInnen sowie die eines eigenwilligen Lyrikers und Erzählers, der auch ein tief- und hintergründiger ,Wortklauber‘ und Sprachkünstler ist.
Es geht hier nicht um Übersetzungstheorien; davon gibt es ohnehin genug und letztlich hilft einem bei der konkreten Arbeit, den vielen Detailfragen und Problemen dann doch keine so richtig. Aufschlussreich über die ,Freuden und Leiden‘ des Übersetzens und sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist übrigens Umberto Ecos Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione, Bompiani, Mailand 2003, deutsch von Burkhart Kroeber, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, Hanser, München/Wien 2006.
Es geht auch nicht um Übersetzungskritik: welche Version besser oder schlechter sei; jede ist auf ihre Art die des jeweiligen Übersetzers oder der jeweiligen Übersetzerin – richtig, gültig (oder könnte man auch ,wahr‘ sagen?), wenn sie in sich stimmig ist. Natürlich können und sollen die verschiedenen Versionen verglichen und abgewogen werden; jede wird ihre Befürworter und Liebhaber finden.
Es geht schlicht darum, den Prozess des Übersetzens, zumindest ansatzweise, transparent und einigermaßen nachvollzieh- und -verfolgbar zu machen; zu verdeutlichen, welche Faktoren, Motivationen, Hintergründe usw. welche verschiedenen (oder auch nicht) Wege und Möglichkeiten eröffnen und zu welchen unterschiedlichen (oder auch nicht) Entscheidungen und Ergebnissen führen können.
Das Ganze war nicht als akademischer Diskurs gedacht, als theoretische Abhandlung mit verbindlichen Antworten, praxistauglichen Thesen oder allgemeingültigen Theorien, sondern als Beispiel aus dem Übersetzeralltag, eine Art Werkstatt(selbst)gespräch, Kommentar, Arbeitsprotokoll, Übung mit Fußnoten, als – hoffentlich – unterhaltsame, aber auch einigermaßen aufschlussreiche Spielerei.
Ulrich Zieger
Pfingstmontag
Die sonne wird jetzt noch für stunden niederbrennen,
der halbe mond steht schön gezeichnet hoch bereits am himmel
Vincent führt seine rote barke durch das grüne blau,
die meisten bürger haben einen freien tag erhalten,
familien gehen durch die neubepflanzten parkanlagen hin und her,
doch stehen viele läden ihnen winkend offen,
bin ich durch eine leere zeit gegangen,
um unentwegt in eine weitere zu schleudern …:
ich habe wenig geld und komme um vor durst,
am horizont erwarten die apostel
mit offenen taschen und mündern und händen
den heiligen geist und die antwort der fluchtvögel.
…
Werner Menapace (Übersetzung)
Lunedì di Pentecoste.
Per ore ancora il sole brucerà la terra,
stupendamente disegnata alta in cielo sta la mezza luna
Vincent conduce la sua barca rossa attraverso il verde azzurro,
giornata libera per quasi tutti i cittadini,
nel parco le famiglie stanno passeggiando su e giù,
negozi aperti tuttavia le richiamano con cenni allettanti,
son passato attraverso un tempo vuoto
per sbandare di continuo in uno successivo …:
ho pochi soldi e di sete sto morendo,
all’ orizzonte gli apostoli attendono
con tasche e bocche e mani aperte
lo spirito santo e la risposta degli uccelli da fuga.
Das Gedicht beschreibt zunächst einen beschaulichen, man könnte fast sagen idyllischen Pfingstmontagnachmittag in einer offenbar südfranzösischen (niederbrennende Sonne, Licht, Farben, Vincent [van Gogh] mit der roten Barke) Kleinstadt, nehme ich einmal an (Bürger, Familien, Parkanlagen, viele Läden); es könnte sich aber auch genauso gut um eine größere Stadt oder ein Dorf handeln. Dem äußeren – ungetrübten, schönen Schein im ersten Teil tritt in der dritten Strophe der innere – desolate – Seelen-/Gemütszustand des Autors bzw. des lyrischen Ichs entgegen: Leere/(Sinn- )Entleerung („leere zeit“), Orientierungs-/Haltlosigkeit („leere zeit“, „schleudern“), Ausgebranntsein, Durst („komme um vor durst“): physischer Durst, Entbehrung („habe wenig geld“), aber auch und vor allem – in der letzten Strophe, zwischen verhaltenem Zynismus und Resignation – Durst nach dem Heiligen Geist, nach Erleuchtung, Antworten, Wahrheiten … Erlösung?
Was mich an dem Gedicht fasziniert – und als übersetzerische Herausforderung gereizt – hat, ist vor allem der Rhythmus: im ersten Teil (Strophe 1 + 2) das Klang- und Farbenspiel mit einer Fülle von widerklingenden Vokalen und Diphthongen, wie ein Glockengeläut; besondere, gesuchte Wortstellungen; das schwebende, fließende, pulsierende, harmonische Versmaß; die sonnige, warme, farbige, südliche, lichte, feierliche, erhabene, getragene, beschwingte, festliche Stimmung; die positive, gelöste, hoffnungsvolle, frohe, fast idyllische Atmosphäre; der ,Herzschlag der Wörter‘…
Im zweiten Teil (Strophe 3 + 4) wird dies alles hör- und spürbar zurückgenommen: Der Tonfall wird leiser, verhalten, farblos, lakonisch, desillusioniert. Das veränderte Versmaß der letzten beiden Zeilen, der nicht mehr so runde, nicht mehr so dahinfließende Rhythmus und der echolose, in sich zusammenfallende Abschluss bringen die Ernüchterung, den Bruch, den Absturz in die ,Losigkeit‘ plastisch zum Ausdruck. Woher soll denn die Antwort auch kommen: von den Vögeln, die die Flucht ergreifen und davonstieben…?
Rhythmus, Stimmung, Klang – das war für mich zentral und vorrangig gegenüber genauer Wortentsprechung und unbedingter Inhaltstreue, und das wollte ich in der Übersetzung einigermaßen ,rüberbringen‘; dafür habe ich einige Details geopfert (z.B. 1. Z.: „jetzt“; 2. Z.: „bereits“; 4. Z.: „erhalten“; 5. Z.: „neubepflanzt“; 6. Z.: „viele“) und ein paar Änderungen/Umstellungen vorgenommen (z.B. „brucerà la terra“ für „niederbrennen“; „stupendamente“ für „schön“; „su e giù“ für „hin und her“; ganze Zeile 6; Z. 9: „di sete sto morendo“ statt wörtlich „muoio di sete“ für „komme um vor durst“). Auf ein relativ marginales Problem, wie es bei einer Übersetzung immer wieder auftaucht und zu lang(wierig)em Kopfzerbrechen führen kann, möchte ich kurz näher eingehen: Einige Zweifel ergaben sich hinsichtlich der „Fluchtvögel“ in der letzten Zeile. Sind damit jene Vögel gemeint, die vor der Kälte fliehen, also vor Einbruch des Winters in wärmere Gegenden ziehen und im Frühjahr zurückkehren (der Pfingsttermin könnte dies nahelegen; doch warum hat der Autor dann nicht „Zugvögel“ geschrieben?), oder solche Tiere, die bei Bedrohung die Flucht ergreifen (im Unterschied zu Raubtieren, die bei Anzeichen von Gefahr in die Verteidigung oder den Angriff übergehen, also Raub-/Greifvögel)? Und noch ein Floh, den man dem Übersetzer ins Ohr setzen könnte: „Fluchtvögel“ gibt es meines Wissens auch bei Handke. Sollte/könnte es sich also hier womöglich um eine literarische Anspielung handeln? Das erschien mir dann allerdings doch etwas zu weit hergeholt. Ich habe mich jedenfalls dafür entschieden, den Aspekt, das Moment der „Flucht“ in die Übersetzung zu übernehmen, also nicht für das (näherliegende?) „uccelli migratori“, sondern eben für „uccelli da fuga“, und zwar aus Gründen sowohl der inhaltlich-semantischen, als auch – und vielleicht noch mehr – der metrisch-rhythmischen und phonetischen Entsprechung.
josef oberhollenzer (Rückübersetzung)
pfingstmontag.
stunden noch wird die sonne die erde verbrennen
wunderbar hoch in den himmel gezeichnet, halb, steht der mond
Vincent steuert sein rotes boot durchs azurblaue grün
frei ist dieser tag für fast alle bürger
die familien spazieren im park auf und ab
offne geschäfte, jedoch, locken mit werbenden zeichen
ich bin hindurch durch eine leere zeit
um immer neu in eine andre leere zu entgleisen
ich habe wenig geld und sterb’ vor durst
mit offnen taschen und mündern und händen
erwarten die apostel am horizont
den heiligen geist und die antwort der zugvögel
Im nachhinein
Oder: Vom versuch, einem bartlosen gedicht den bart zu schneiden
Eine art protokoll dieser übersetzung, im nachhinein; einige sätze dazu – Wann hat Inter gegen Barcelona 1 zu 0 verloren? – fast zwei monate nach einem ersten versuch während einer schulstunde ende april, während die schüler anderes schrieben. Am ende dieser ersten fassung, erinnere ich mich, als auch die texte der schüler roh auf den blättern warn, hab ich mit ihnen übersetzungsvarianten diskutiert. Und wunderbar hoch in den himmel gezeichnet, halb, steht der mond ist da entstanden, dabei ist la mezzalunaso in mein deutsch herein, hab ich mit dem placet der schüler den halbmond so rhythmisiert. Wie halb und am stock nämlich stünde jener halbe mond im gedicht, stünde er etwa so: wunderbar hoch in den himmel gezeichnet steht der halbmond −: Wumm!, jegliche musik, jeglicher tanz ausgeschaltet. Und so stürzte der satz ab, der vers wäre kein vers, und er fiele dem leser (wie den galliern der himmel?) ins genick, auf den kopf.
Angefangen aber hat das übersetzen schon ein, zwei tage davor, gleich nachdem mir Lunedì di pentecoste als gedicht ohne autor geschickt worden ist. Ich erinnere mich, wie ich’s gelesen habe, wie ich einige wörter, paar halbe zeilen über die zeilen geschrieben hab; ich erinnere mich, wie ich nichts anfangen konnte damit. Und nun, ich habe das blatt wiedergefunden, lese ich drunter meinen satz, der eine bestätigung, diesbezüglich, meiner erinnerung ist: Kein übersetzer von literatur übersetzt literatur, mit der er nichts anfangen kann. Diesen satz muß ich an einem montag geschrieben haben, montags hab ich frei, das gedicht kam an einem sonntag um 23uhr05 bei mir an. Ich hab nachgeschaut, es war der 25. april; am 28. april hat Inter gegen Barcelona 1 zu 0 verloren und ist so, halleluja, ins finale der Champions League.
Und weil ich nichts anfangen konnte mit dem gedicht je länger ich nichts anfangen konnte (12 verse wie 12 apostel; oder die abfolge wasser, erde, luft, feuer = 4 mal die 3faltigkeit, oder die taschen (1), die münder (2), die hände (3); oder in der ersten zeile das feuer und in der 12ten auch; oder ähnlicher germanisten-hokuspokus!), umso mehr konnte ich nichts anfangen, ja −, wahrscheinlich darum stehn nur einige wörter, nur paar halbe zeilen über den zeilen, aber eine menge erinnerungskrücken für die „Gedanken/Überlegungen/Betrachtungen/Kommentare“, die vom übersetzenden, von mir, auch gewünscht, auch erbeten worden sind. Wie etwa (und ich wähle aus; weil nicht alles geschriebene muß von einem leser zu lesen sein; oder etwa nicht?, was meinen Sie?), wie etwa:
• barcelona – inter 1:0
• lese wieder: W.G. Sebald, Schwindel. Gefühle (1993 gekauft)
• halbstundenlanges geschrei einer sog. badantin irgendwo im garten gegenüber (am handy?) in ihrer (serbokroatischen = serbischen? kroatischen?) muttersprache, die für mich nur ein aneinanderlauten von lauten ist
• bild von van Gogh?
Hängt das übersetzen auch vom ausgang eines fußballspiels ab? Oder wie die liebe ausgeht, davon? Oder ob Vincent Vincent ist? – Aber weil ich nichts anfangen konnte, konnte ich nicht weitermachen; auf meinem schreibtisch, links, das wartende: der anfang, der nicht vom flecke kam.
Und so hat es gedauert, bis ich wieder ins übersetzen kam – aber das gedicht immer im kopf, stets dieser anfang, links, der mich erinnerte; der mich erinnerte: bis mitte juni, ausgemacht, da hat es fertig zu sein. Und dann pfingstsonntag, in diesem jahr, und pfingstmontag auch, und alles machte weiter, die tage und die nächte, und der regen machte weiter, die liebe machte weiter, das essen machte weiter, der schlaf machte weiter und die schlaflosigkeit auch, und auch die schüler machten weiter, und Max, mein meerschweinchen, auch, und auch Moritz, mein sohn, nur diese übersetzung nicht und so hat es bis gestern gedauert, bis ich wieder ins übersetzen kam, bis ich wieder einen rhythmus suchte im deutschen, den ich lange im italienischen nicht fand, jenen gesang der wörter, jenen wie auch immer gebrochenen wörtertanz – und so hat es bis gestern gedauert: bis ich mich wieder hergemacht hab über die uccelli da fuga, die, ich erinnere mich, das eigentliche ende bedeuteten meines ersten übersetzungsversuchs. Weil es diese vögel nirgends gab, weder in den wörterbüchern noch in den muttersprache-italienern, die ich um rat gefragt, noch irgendwo im wörtermüll des internet. Was sollte ich zum beispiel mit fluchtvögeln anfangen, was sollten die in diesem gedicht? Über meinem kindskopf, pfingsten, kreiste eine taube jahr für jahr, und wir duckten uns ängstlich in die kirchenbänke hinab. Am ende hab ich mich für die antwort der zugvögel entschieden, auch wenn es im original nie & nimmer solche gewesen sind; am ende hab ich die apostel und den horizont näher an den heiligen geist heran. Am ende, übersetzend, gab es doch augenblicke, wo mir Lunedì di pentecoste zum gedicht geworden ist; am ende aber waren wir uns so nahe, daß ich doch beim „Sie“ geblieben bin – und darüber, denk ich, kommen wir wohl nie hinaus.
Ja, ich bin froh, daß ich mit dieser arbeit am ende bin (1); und (2) ich bin gescheitert am end. Weil es mir nicht gelungen ist, Lunedì di pentecoste zu meinem gedicht zu machen, mit ihm ins gespräch zu kommen mit meinem hirn, mit meinem herz. Wie sollte ich es also über-setzen in meine sprache herein, von jenem fremden ufer herüber zu mir? Mitten im wörterfluß konnte es nur untergehn; es kann nur untergehn, was nicht schwimmen kann. (Es ist nicht möglich, einen text zu übersetzen, zu verwandeln in eine andere, eine idente gestalt, wenn ich nicht weiß, wo die wörter gewachsen sind, wer sie gesät und großgezogen hat.)
Aber immer noch steuert Vincent sein rotes boot durchs azurblaue grün. / Und aus.
…
Werner Menapace, filadrëssa, Heft 06:10, September 2010
Übersetzung von 6 Gedichten aus diesem Buch ins Italienische von Werner Menapace in der Zeitschrift Nuovi Argomenti.
REISE
Alle Plätze meiner Reisen erzählen mir
ein Märchen. Kürzlich sah ich nahe dem
Colloseum blendendweiße Zähne Isegrim
nur wenige Flugstunden später inmitten
von Paris das Waldhaus Sibirien ( Plastik,
Baukastenprinzip) und in Madrid (war es
Madrid?) stand auf einem Plakat:
Komm vom Weg ab! Komm zu uns!
(Name der Bank) In Prag trank ich
Rotwein zu Kuchen und ein Bub
drängte die Mutter, ihm ein
Gewehr zu kaufen. In Tunis konnte
Ich darüber philosofieren wie europaweit
die Menschen heutzutage funktionieren.
Peter Wawerzinek
Meine Welt ist grau,
also so trostlos grau,
so richtig Regentrostlosgrau,
also Regengrau, das nach Raucherlunge aussieht.
Also ein Regenraucherlungenzigarettenaschengrau
mit einem Kick scheußlich aussehendem Schwarz darin.
Felix Maier, von ihm vorgetragen bei der Gedenkveranstaltung an Ulrich Zieger am 29.12.2015 in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert.
(silence.)
Je ne dirai pas ton nom
Racine entre les dalles pousse à fleurs les possibles
Tu végètes vigoureux les yeux tournés vers l’Est
Si j’étais un arbre…
Et l’acteur goûte le poème dans la main
De l’acteur disant auteur –
Le pouce et l’index unis dans le puits de la bouche.
L’acteur est un menteur…
Vérités comme pets de nuages :
Est-ce moi ou le monde qui est Lieblos ?
Bacchus ! Change la pisse en vodka!
Brûle Illusion Jubile /
Je ne dirai pas ton nom
Au croisement de père mère garçon
L’artiste meurt a reconnu la mort
C’est l’histoire d’un enfant mort…
J’m’appelle Garance, c’est l’nom d’une fleur
Dit le vieux Krapp en écoutant Youtube
Deux peaux de bananes jonchent le lino
Je suis trop jeune pour ça…
Je ne dirai pas ton nom
Poète, monstre d’acteur, arbre ou prophète,
Conscient des dalles qui nous enserrent
Houx vert et bruyère affleurent…
Poème écrit en mémoire du non-cité poète, acteur, arbre ou aussi prophète
Gaëlle Reynaud
(stille.)
Ich werde dich nicht nennen
Wurzel zwischen Betonplatten erblühen des Möglichen
Du lebst stürmisch vor dich hin die Augen gerichtet gen Osten
Wär’ ich ein Baum…
Und der Spieler ergötzt sich das Gedicht in der Hand
Des Zitierenden Dichters
Daumen und Zeigefinger vereint im Brunnen des Mundes.
Der Schauspieler ist ein Lügner…
Wahrheiten wie Wolkenfürze :
Bin ich es oder die Welt die lieblos ist ?
Bacchus ! Verwandle die Pisse in Vodka !
Brenne Traumbild o freue dich /
Ich werde dich nicht nennen
am Kreuzpunkt von Vater Mutter Sohn
der Künstler stirbt erkennt den Tod
es ist die Geschichte eines toten Kindes…
Ich bin Garance, so heisst die Blume
Sagt der alte Krapp beim youtubelauschen
Zwei Bananenschalen verkommen auf dem Lino
Ich bin zu jung dafür…
Ich werde dich nicht nennen
Dichter-Schau-Spieler-Baum oder Prophet,
Kennt die Platten die uns erdrücken
Grüner Mäusedorn und Heidekraut blühen auf…
Ein in Erinnerung an den nicht genannten Dichter-Schau-Spieler-Baum oder auch Prophet geschriebenes Gedicht
Gaëlle Reynaud
Übersetzung: Gerhard Bauer & Gaëlle Reynaud
Gert Neumann spricht über Ulrich Zieger.
Nichts ist eingestuerzt doch bleiben wir bei den schmalen Schultern,
die an der Furt schnellerer Wege auf der Sandbank sich bildeten
als Parcours gedankenfremder Welten, zu brechen die Schrullen
zwischen Schmiede und Amboss, dem Lockruf des Wahnheims,
in das viele gingen ohne ein Osterwort, zu setzen den Selbstschlag.
Nichts ist eingestuerzt doch bleiben wir bei den schmalen Schultern,
dem Hut des Vogelmannes, der die Barke segelt ueber den Styx,
zu regeln die Brut der Muenze, die Schreie stymphalischer Vergeltung,
die Spaene am Amboss, welche aufflogen ins Land der toten
Dichter und Saenger.
N i c h t s ist eingestuerzt, schnellere Sandbaenke, langsamer werdende Ufer,
die sich zu Untiefen und Riefen verbanden, der Rest ist der Vogelmann,
der seinen Hut in die Runde der Barke schmeisst, zu sehen
gibts nichts mehr, wo draussen war, setzt nun ein Schneeleopard
mit einem letzten Lauf zu schwimmen an.
Nichts ist eingestuerzt.
Oliver Neumann inspiriert von Ulrich Ziegers Gedicht „An einen toten Sänger“