SO GEHE IN ZWIEFACHER RICHTUNG
dein herz zu verbrennen im laub
deinem baum mag kein gott wachsen
nicht den annahmen über den zustand
der dörfer
deren entschiedenes atmen den rand
meines blicks bildet ausfüllt
beschwert sollen die worte gelten
dem blau der getreide dem
verachteten meer
links und rechts meines weges
sollen die kinder dir vorspielen sie
spielten auf der mundharmonika
und wieder nur sagen
daß in den wolken quellwolken
zirruswolken geckofarbenen horizonten
die ahnungen der männer gefunden sind
die mühsal der frau zu segnen
die wasserlöcher das fett
stadtaus ging ich rückwärts landein
gingst du vorwärts
um mich zu verraten
wenn so deine stille
von farnen und häuslern und dampfnudeln
handelte die mich verfolgen in all meinen mänteln
im haar in den klumpigen augen dich unter
die regenschirme zu stellen
auf den begräbnissen unweit der busbahnhöfe
geh es ist nacht und ich gehe
in zwiefacher richtung mein herz
zu ersticken im kraut meinem baum
wächst ein winziger mensch aus den rippen
ein boshafter scharfer beobachter und es soll
tag um dich sein wenn du gehst zu erfrieren
in vorgärten oder das gehen zu überwinden
ich weiß die gestalt und das ausmaß
der unumkehrbarkeit nicht zu enträtseln
der nähe…der im stadtwald gebliebenen
– Ulrich Zieger und der Ausweg aus der Literatur der ehemaligen DDR. –
Der Nicolas-Born-Preis wurde dieses Jahr zum vierten mal als Förderstipendium im Zusammenhang mit dem renommierten Petrarca-Preis vergeben. Der Preisträger Ulrich Zieger (geb. 1961) stammt aus der DDR, wo er in selbstverlegten Zeitschriften wie dem Schaden oder der Verwendung als Autor und Herausgeber mitgearbeitet hat; im Frühjahr 1989 reiste er aus der DDR aus und lebt inzwischen in Südfrankreich. „Klandestinität“ ist in der jüngeren DDR-Literatur mit gutem Grund zu einem prägenden Begriff geworden – es ist tatsächlich nicht ganz einfach, an Texte von Ulrich Zieger heranzukommen. Als gedrucktes Buch existiert bisher nur der Gedichtband neunzehnhundertfünfundsechzi“, in der, im wahrsten Wortsinn, bibliophilen Privatedition qwert zui opü von Egmont Hesse.
„Ich konnte dieses Land nicht verlassen, ohne noch etwas dazu gesagt zu haben“ – der Gedichtband neunzehnhundertfünfundsechzig ist als ein poetischer Abschied vom Land DDR zu lesen, ein Abschied ohne Wut oder Hass. Dunkelblau, wie der Gesang des Pirols, antworten die Gedichte mit dem elegischen Pathos eines versöhnlichen Ernstes auf die „provokation der lebendigen wundkraft“. Nur ausnahmsweise stösst man dabei auf knappe Formeln, die sich schmissig zitieren lassen (so etwa, wenn die DDR mit sanfter Ironie als „eine idylle / geschwächten privateigentums“ erscheint), denn der Gestus dieser Dichtung zielt nicht auf pointiertes Benennen ab, sondern schafft in weiteren Bögen Raum, manchmal fast balladenhaft, mitunter nicht ohne die Tendenz auszuufern.
: dass es nicht frei werde
sich in die berge einschlösse
die zweige noch dichter sich
als geahnt war
zu dieser verlassenheit fügten
der atmen und hören vergingen und hören und
atmen:
Obwohl es um den konkret benennbaren Lebensraum DDR geht, lassen sich Ziegers Gedichte nicht dechiffrieren und ins Aussersprachliche übersetzen; was er zum Land DDR zu sagen hat, liegt, nicht ohne weiteres greifbar, in hintergründigen Stimmungen und Zuständen – ein Wort wie „mittag“ wird unversehens zum Leitmotiv für das dickflüssige Lebensgefühl der Schwüle, des Stillstandes unter der flirrenden Luft:
um mittag ruhig das bild ist: gebreitet;
inmitten der seltenen stille; ein bienengeflirr.
in den gärten.
die raben bewachen den schnee.
Solche Texte entziehen sich einem beutegierigen Lesen. Die Wirklichkeit, um die es geht, rückt in eine seltsam vertraute Ferne, und wenn Figuren auftauchen, so scheinen sie oft nicht von dieser Welt, sondern aus einem ungewissen „es war einmal“ zu kommen, wo Platz ist für viele Wirklichkeiten. „das ist die wahrheit über den mann / der hatte ein stinkendes herz.“
Die Welt, von der sich Zieger verabschiedet, erwartet den Leser in jenem unterirdischen Pilzgeflecht, das die Worte miteinander verbindet, „wie ein myzel, / aus den worten die netzhaut zu fordern, / verse, und vielzahl der ordnungen“. Es ist filigran, dieses Myzel, und oft nicht auf den ersten Blick zu sehen, so dass die Gedichte manchmal zerbrechlicher scheinen, als sie sind.
In einem Dichten am Pulsschlag der sinnlichen Wahrnehmung hat sich alles verwandelt ins Körperhafte, und die Sprache erlaubt Berührungen, ein Anfassen, das die Wirklichkeit ewig verweigern wird:
; dies für die steine
im wein des mannes der aussagt.
man könne bei klarem verstand
auch den wind essen:
Das vorletzte Gedicht des Bandes richtet sich an die „belächelten bäume bei oschatz“, die „entsetzlichen bäume bei camburg“ – und man fragt sich rückblickend, ob sich die gedichte nicht überhaupt viel eher an die zuverlässigen Dingen wenden als an die Menschen, denen zwischen ihrem Hierbleiben und ihrem Weggehen nur der „gesang der vergeblichkeit“ bleibt.
Der Konkurs einer Staatsidee hat in der DDR zu einer spezifischen Erfahrung von Vergeblichkeit geführt („Die raben bewachen den schnee“), die sich möglicherweise komplementär verhält zu den Frustrationen in den übersättigten Informationsgesellschaften des Westens.
Als Konsequenz bleibt das eigene Verschwinden; nicht zufällig spielen Selbstmörder im Werk von Ulrich Zieger eine Schlüsselrolle, die drei Dichter, von deren zweifelhaftem Ruhm im nächsten Erzählband die Rede gehen wird, haben sich endgültig aus der verordneten Vergeblichkeit verabschiedet.
Man muss verschwinden, das Weite suchen, um Land zu gewinnen. Ulrich Zieger hat das Land verlassen, „stadtaus ging ich rückwärts landein“. Es ist ein Gehen „in zwiefacher richtung / dein herz zu verbrennen im laub“, mit dem sich hier einer nach 27 Jahren von seiner biographie, seiner Vergangenheit verabschiedet, mit einem kleinen poetischen Vermächtnis.
du musst dem platz eine gegenwart,
abfordern eine sitzmühle nur,
eine kennkante,
du wirst den eid leisten für diese nacht
Mit seinem „Eid“ verleiht das Gedicht der Nacht erst ihre Wirklichkeit, und so gerät dieses Dichten unversehens in die Nähe einer Verheissung und scheint die Dinge in einer Sphäre, die sich schnellebiger Säkularisierung entzieht, heiligzusprechen. Das Wort „Erlösung“ liegt in Griffnähe, wenn Ulrich Zieger sich (in einem schriftlichen Dialog) gegen den Fluch des übermächtigen Surrogats wendet, gegen das, „Was da nicht aufhören kann, Geld zu heissen und vorzugeben, Wünsche zu erfüllen. Ich kann das nicht aufhalten, niemand kann das. Ich bin Niemand.“ Das Niemandsland des Wünschesn, diese utopische Traumzone, die im reibungslosen Funktionieren der Mediengesellschaft „zeitweilig vergessen“ scheint, findet in Ulrich Ziegers Texten ihre eigene Transzendenz, die zu einem biblischen Vokabular verführt. Das Verhältnis, von Poesie und Wirklichkeit wird umgekehrt, wenn es im letzten Gedicht heissen kann: „ich habe; / die hallen jetzt wiedergefunden, / in ihre metapher zurückgekehrte hallen.“ Die funktionalisierte Wirklichkeit der an ihren Zweck gefesselten „hallen“, die sich nicht nur in den Fabriken finden, hat im Gedicht zurückgefunden zu ihrer Poesie, dem Garten Eden, aus dem das Leben mit der unseligen Trennung in „Funktionieren und Träumen“ verbannt wurde.
Diese Umkehrung der Autorschaft, in der die Poesie die Welt entwirft, ist in der Verbindung mit dem Land, das einmal DDR hiess und am Verschwinden ist, besonders spannend. Mehr noch als in „neunzehnhundertfünfundsechzig“ wird der Band „Der zweifelhafte Ruhm dreier Dichter“ zur Vermutung Anlass geben, dass sich hier eine DDR-Literatur der nächsten Jahre ankündigen könnte, die jenseits der „notdurft schilderungen“ die entschwundene Wirklichkeit jenes Staates als Material für eine Dichtung bearbeitet und die dazu zwingt, das Verhältnis zwischen politischer, alltäglicher Wirklichkeit und der poetischen Antwort von Osten her wieder neu zu überdenken.
Sieglinde Geisel, Neue Zürcher Zeitung, 9./10.11.1991
Ulrich Zieger ist auch ein Bewahrer, ein Erkunder dessen, was gewesen sein könnte, das aber mitschwingt bei all dem, was jetzt geschieht und was noch geschehen wird. Er ist kein satter, kein konventioneller Lyriker. Nicht nur deshalb, weil er mit seiner eigenwilligen Zeichensetzung Pausen und Beschleunigungen markiert oder weil er mit Einklammerungen und mit Stimmenverteilung arbeitet, ist er auf seine Weise ein Erneuerer, der weite Wege geht, sondern weil der den Mut und die Kraft zur eigenen Sprache hat. In seinem Debütband neunzehnhundertfünfundsechzig wagt der junge Dichter ein ruhiges, gelegentlich feierliches Sprechen, getragen von tiefem Ernst, und er entwickelt eine düstere, schwermütige, schöne und dennoch gebrochene Sprache, die am Boden entlanggeht, in die er Schicksale der einfachen Leute einwebt.
Sein erster Lyrikband ist ein aus 65 römisch numerierten Sequenzen bestehender Zyklus, dem zwei Prosaminiaturen vorangestellt sind, die mit dem Satz „wir gehen jetzt hier davon aus, dass ein zeitsprung erfolgt ist“ enden, und der von zwei betitelten Gedichten eingebunden wird, am Anfang der Titeltext:
die sandkästen öffnen
arzneien in pappkartons werfen
und ordnen; die liebste den flieder am hut
die trompete die handarbeit
später; den schleifstein ins fischbecken werfen
das logbuch versaufen und
lange so sprechen
auch lange so sprechen
aus den geöffneten Sandkästen kommen Gestalten der Kindheit, die, verstrickt mit den Reflexionen des Autors, ein Eigenleben entwickeln. Indem die Arzneien, die Betäubungsangebote, beiseite gestellt werden, setzt die Spracharbeit Ziegers Schmerzen frei, ein Lösen vom Anästhesiepol: Die Erinnerung erzeugt Gefühle, die gegenwärtig bleiben und sich entfalten. Zieger geht es nicht darum, die Schatten auf dem Sandkasten zu fotografieren, sein Versuch der Klärung kommt ohne stringente Gewalt aus, „die dinge von denen die worte genommen sind / lagern noch wo eine trübung sich auftat“. Die Orte der dunklen Vorgänge sind nicht die Städte mit ihren Reizfluten, Ziegers Erkundungen gehen vom Ländlichen aus: Klagen der Flösser und der Fischfänger, im Dreihaus der Mieter, die Unrechte und der Geprügelte. Da wird das Schundkind ins Futter genommen, die Zugehfrau kommt vor und der Häusler, die Schliesserin, die Köhlerfamilie, das Sägewerk, die Poststation.
Während die neue zeitgenössische Lyrik vorwiegend an den Erfahrungsmöglichkeiten der tempogeladenen Metropolen orientiert ist, grenzt sich Zieger vom „stadtgras“ ab:
es kam aber vor dass mir kalt wurde; sehr kalt.
ich möchte mich dessen nicht rühmen,
ich scheue die stadt das unwägbare ihrer vernunft
ihre amerikanischen sehnsüchte,
unersetztlich wird wuchern der mond.
es gibt wenig gewissheit; dies ist gewiss.
Es geht nicht um ein Restaurieren des Dörflichen, nicht um Idyllik. Zieger tritt die weiteste Reise an: Er will wissen, wer er ist, wo er herkommt, und darüber gibt er Auskunft in der Lyrik. Das, was sich klar sagen lässt, sagt er klar und mit einfachen Worten, aber er kann den Dingen und Vorgängen auch ihr Geheimnis lassen. Das Unsagbare zieht nicht zwangsläufig das Verstummen oder das Geplapper nach sich: Mit Hilfe der Lyrik ist es möglich, Schwingungen zu erzeugen, etwas, das in einer nichtkünstlerischen Ausdrucksweise sich nicht festmachen lässt, spürbar, fühlbar zu machen. Zieger verweigert sich der Umwandlung von Kunst in Kultur, der Profanisierung, dem Verhökern:
den robbenschlägern war ich noch eher verwandt
den machorka rauchenden busfahrern,
erzfeind hingegen
den malern:
‚die ihr den geist der delphine verhökern geht
an die volksküchen‘
rief ich, ‚ihr elenden‘
o wie es damals beschaffen war,
o wie von meer noch zu sprechen nicht lohnt,
seit ich betrunken war in meiner mutter;
wie sie mich unter den tisch soff
Die Jury der Burda-Stiftung hat Ulrich Zieger, 1961 geboren, in Waldheim und Magdeburg aufgewachsen, dann in Ost-Berlin und heute in Frankreich lebend, mit dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet. Bislang war der Autor am ehesten durch seine Vorstellung in Egmont Hesses Anthologie Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR präsent. Über seine Kindheit sagt er im Gespräch mit Hesse, der ihn nun verlegt hat:
im winter, wenn die leute genauer erzählten, waren es die flüchtenden frauen aus der psychatrie, welche die eine hälfte des zentrums der stadt meiner kindheit bildete, dann wieder waren es die männer aus dem zuchthaus, der anderen hälfte des zentrums von waldheim, die erdarbeiten verrichteten. (…) die täglichen selbstmörder, frauen, die sich an klostrippen und an den fassaden ihrer häuser erhängten, sich vergasten (…) während einer suchtbehandlung (…) habe ich das alles wiedergefunden, und ich bin überzeugt, dass diese art erinnerung an menschen und an vorgänge (…) mir einen zugang zur wahrheit kennzeichnen, den ich bis zur selbstvernichtung brauchen werde, ich mag andere interessen in der kunst nicht besonders.
Ulrich Zieger ist ein kühner, ein radikal arbeitender Schriftsteller, seine Freilegung der Wurzeln „meinem freund b. (1961-1965)“ gewidmet, ist einer der wichtigsten Lyrikbände der letzten Jahre. Eine Leidensgeschichte, eine ohne Larmoyanz, ein nüchterner Gesang, eine Bestandaufnahme:
aber das ist die wahrheit
über den mann mit dem stinkenden herzen.
er hat uns verhöhnt. Er hat mit uns gearbeitet
jenseits der heerstrasse,…schläfrig;
sehr schlafen;… hüten wir seinen verbleib.
unser handwerk das trübe;
Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 12.10.1991
Was hüben ist, ist drüben. Es war immer ein einzig Geschehen. Voilá: Ulrich Zieger, 1961 im Abgrenzungsstaat DDR geboren, genauer im sächsischen Döbeln gleich neben Tübingen, mitten im Herzen Hölderlins:
ein mittag wird aufkommen rückblick der ausfahrten
mit meiner schaufel den leichnam der schwalbe
aufhebend, lag es an mir ob die öfen beheizt würden
(alles) (laut) (aussingen)
singen zu füßen der schwalbe.
Ein deutscher Dichter, nichts anderes sonst. Leben und Sterben heben einander im geeinten Leid auf. Ulrich Zieger hatte einen gleichaltrigen Freund, der 1965 starb. Ihm ist der Gedichtzyklus neunzehnhundertfünfundsechzig gewidmet. Die Mutter des Kindes hatte den Gashahn geöffnet, war mit dem Spielgefährten von einst in den Tod gegangen:
fußwanderung in den quellbezirk,
eines unaufgefundenen flusses.
Fußwanderung des Ulrich Zieger: Es gibt allein den Ausweg ins Unbekannte.
ich lebe von herzbruch
in tüten zu wenig gramm;
das ist weltweit
ihr kosmen;
ihr blökenden aushalter,
wie könnte betrachtung vereinfachen,
mißlungener kosmos der nähe,
was langsam bewegt wird gedreht um das tal, das du nicht mehr verlassen sollst…
Heimat ist Schuld, auf der wir wachsen. So weitet der 29jährige sein Thema aus. Der blutige Horizont umringt den Menschen im Menschen, umringt ihn von allen Seiten.
deine aufgabe ist es,
die freiheit
für diesen Tag
als vernichtet zu schildern,
so hat es immer begonnen.
Eine imaginäre Reise in Begleitung des Todes wird aufgenommen, und in ihr klingen die späten Versfragmente Hölderlins aus der Zeit der Umnachtung an. Ziegers Strophen gleichen kreisenden Bewegungen um die endgültige Starrheit, die völlige Lähmung des Menschen, der wie der große Verdammte bei Dante in der Mitte steht, weil das Zentrum der tote Punkt ist:
so gehe in zwiefacher richtung
dein herz zu verbrennen im laub … ich weiß die gestalt und das ausmaß
die unumkehrbarkeit nicht zu enträtseln.
Was bleibt, ist Expansion in der „schriftnot der dunkelheit über dem fährmann“. Zieger hüllt das Dunkel des Leidens ein und geht als des Dunkels Kind durch die 120 Seiten seines Gedichts. Auf Grenzen stößt er, die schneidend sind, wie die des Staates sind, dessen Kind er ist – und doch anders. Die Zerstörung, von der er spricht, beginnt innen. Die Zerstörung der Innenwelt bringt die der Außenwelt hervor.
Der alles an sich saugenden Mitte des Gedichts entkommt er durch Selbstbeschwörung, „sich aussegnen“: „ich spreche als wäre ich frei … meine nahrung sei rettung vor halt.“
Zieger, Nicolas-Born-Preisträger 1991, schloß seinen Erstling im Februar 1989 in Ost-Berlin ab.
Jürgen Serke, Die Welt
– Gedichte von Ulrich Zieger: „…als sei da noch Atem für Weiteres, das nicht mehr gesagt werden kann“. –
Ulrich Zieger, Nicolas-Born-Preisträger von 1991, hat seine prägenden Erfahrungen in der DDR gemacht. In Berlin war er in den 80er Jahren Mitwirkender der unabhängigen Theatergruppe Zinnober und Mitherausgeber der selbstverlegten Zeitschriften Schaden und Verwendung, bevor er im Frühjahr 1989 ausreiste. Nach den Durchgangsstationen Westberlin und USA lebt er heute in Südfrankreich.
Sein erster Gedichtband neunzehnhundertfünfundsechzig war ein langer poetischer Abschied von dem Land, ein bitter-elegischer Zyklus über eine Kindheit, der es an Geborgenheit mangelte, und eine Jugend , in die immer wieder das Grauen der Kälte und eine seltsame „Lautlosigkeit“ einbrach. Diese Stille war die des Stillstands. Ein Zyklus über einen Lebensentwurf, der unter den gegebenen Bedingungen Fragment bleiben mußte. Die zwischen balladenhafter Stimmung und böser Aggresivität pendelnden Gedichte machen es dem Leser nicht leicht. Trotz raumgreifender Formen des Langgedichts beschwören sie eher den Abbruch, das Versagen, die mißlungene Intensität, die sich gegen das Subjekt kehrt. Aber sie tun es nicht klagend, sondern suchend nach dem „wort für verdunkeltes wort“, nach den Verkehrungen und Verhinderungen von Glück. Es herrscht in diesen rätselhaft epischen Gedichten eine beklemmende situative Dichte, eine Atmosphäre des Regens, der Kälte, der beschädigten Landschaft, der Vergeblichkeit. Ein „mißlungener kosmos der nähe“, der nur in Details dechiffrierbar ist und sich in der Stimmung und ihren jähen Brüchen darstellt. Wichtig sind hierbei die Stellen, an denen das Gedicht ins Schweigen zurückfällt. Indikator dafür sind viele Pünktchen, fragmenthafte Aussagen und die Häufigkeit, mit der Zeilen und selbst viele Gedichte mit einem Komma enden, als sei noch Atem für Weiteres, das aber nicht mehr gesagt werden kann.
So paradox es klingen mag: Ziegers Gedichte widmen sich dem Rückblick auf etwas Unverwirklichtes – „wir. sind. leider. gedanken. geblieben.“ …
Peter Böthig, Märkische Allgemeine, 3.7.1992
egmont hesse – ulrich zieger gesprächstexte
auch das die einladende geste
wäre die einfachste möglichkeit gegeben oder hätte man die andere wahl, ich würde den gesprächsraum (dessen schwelle und tür wir sind) der begegnung mit ulrich zieger nicht beschreiben wollen und statt dessen unsere sehr umfangreichen tonbandaufzeichnungen, die uns bei der textfindung hauptsächlich begleiteten, vorausschicken. es sind diese grundlegenden verständigungen gewesen, die uns ins gespräch brachten und zu anzeichen einer übergreifenden „kreativen atmosphäre gelebten seins“ führten, in der die interviewgrenzen untergingen. wenn es trotzdem noch fragen und antworten gibt, dann als assoziationsangebote im kommunikativen sinn.
aus der vielzahl von gedankenmaterial wurde am ende vor allem wichtig, was uns auch meint. wo nicht der gegenstand, sondern sein eindruck, die spur, die er hinterläßt, gezeigt wird, existieren zusammenhänge, die weiträumig denkbar sind. die annäherung an jürgen bartsch in verbindung mit dem stück amöben bedurfte solcher sinnfälligen lücken, um das thema nicht in eine (historische) ecke zu zwingen. dort wären wir sicher nicht zum sprechen gekommen. die möglichkeit zu erweiterungen erwächst und vertraut hier vielsagend einer unmittelbaren sprachlichkeit, die wir als eigene vergegenwärtigung in anspruch nahmen. wo man nicht mehr mit worten sprach, konnte es sein, man hatte erst mal nur den mund voll. doch in der konsequenz beantwortete sich jeder anruf. auch der sich vorläufig erübrigende ausspruch „abgebrochene harmonien aber nur vokale“, den ich schon beim ersten, einem betont flüchtigen lesen von ziegers texten, im zusammenhang mit einer das besonders körperliche von sprache herausstellenden metaphorik versinnbildlichte und als mir zugängliche öffnung verstand, hinter der sich worte vermuten lassen, die zieger meinen, die ihn finden mußten, um existieren zu können. in abwandlung einer spiel anweisung zu amöben möge auch für dieses gespräch gelten: das anliegen des textes ist nicht die haltung, wichtig ist lediglich das ansteigen der körpertemperatur während des lesens und darüberhinaus die bewegungen.
Egmont Hesse: „ich bin am ende einer sprache angekommen, für die vorläufig und bis auf weiteres und bis hinein in die sich schwer verdichtende und dunkelblaue zukunft der zerstörten stätten sodom und gomorrha keine antwort auszumachen ist.“, sagst du, und ich kann nur noch fragen, wie spät es ist. da jedoch, wie ich gelesen habe, auch deiner uhr, auf der suche nach der verlorengegangenen zeit, die zeiger abhanden gekommen sind, laß uns ein stück spielen. ein traumatisches theater. jedes wort. die einladende geste. ein gespräch. du mußt nicht antworten. es gibt keine vorlage. du wirst die regeln mitbekommen. weißt du eine geschichte. die vom märchenerzähler.
Ulrich Zieger: ich befürchte, der märchenerzähler reist dann ab oder stirbt, wenn der mythos, dessen schönheit ja auch die seine ist, übersetzbar geworden zu sein scheint in die hoffnungslose müdigkeit der menschen vor der zwangsläufigkeit ihrer sucht nach gewißheiten. was bleibt, ist eine krankheit, die wir kennen. inzwischen verdichten sich nun zwar die annahmen über das wesen der bedingungen und notwendigen übungen zu ihrer überwindung. ich weiß aber auch dann die geschichte, nach der du fragst, nicht. ich weiß vielleicht etwas vom ausmaß ihrer zerstörung, was nicht ausschließlich ihre derzeitige gestalt, im sinne einer analyse, meint. wenn wir uns dem nähern wollen, und ich hoffe, daß unser gespräch, dessen entstehungsgeschichte wir mit dem dominospiel verglichen haben, einem domino, in dem es, wie ich vermute, sehr viele schwarze steine geben muß, eine chance dazu hat, muß ich mit einer schwierigkeit beginnen. die inszenierung, nämlich der figur, der du den eingangs zitierten satz entlehnt hast und die ja eigentlich erst zu ihm hinführen könnte, existiert seit entstehen des textes nur in meiner phantasie. um den zitierten satz nun nicht zu einem statement verkommen zu lassen, ist es unumgänglich, etwas zu seiner problematik zu sagen. der zusammenhang, der zu diesem satz führt, ist die überzeugung davon, daß es ein wissen über die entsetzlichkeit des wissens um die dinge gibt. diese überzeugung führt, konsequent verfolgt, an einen ort des sprechens, von dem aus die notwendigkeit einer entscheidung zum inhalt des sprechens wird. die gestalt jener entscheidung kann aber nur untersucht werden mit einem maß an konkreter verantwortung, man würde sonst wahnsinnig werden oder sich schlicht betrügen, über deren bedingungen zum zeitpunkt des erlebens dieses ortes keinerlei kenntnis besteht. auf keine frage eine antwort suchen heißt eben nicht, der frage nach der antwort entronnen zu sein. der zitierte satz, in Damiens als handlung gedeutet, ist ein stück trauerarbeit. seine thematik aber, von der die figur des gesamten stückes freilich wenig weiß, stellt bereits den anfang einer prüfung der zu erwartenden neuen dimension von verantwortung für ihr denken in den mittelpunkt der annahmen über den folglich zu führenden diskurs. ein stück spielen, heißt wohl auch, davon zu sprechen…
Hesse: darauf sollte es basieren, um dem rigorosen wunsch nach klarheit nachzukommen. ich möchte keine vorstellung. ich stelle mir hintergründe vor, deren einer, von dir oben genannte, ganz deutlich auf zukünftiges hinweist: „soziale plastik“, um einen weiteren, uns wenigstens im denken vertrauten begriff, vorzugeben, stellt, als ein mögliches, weil nötiges, künstlerisches ergebnis, auch oder gerade von einem stück trauerarbeit eben mehr dar, als die bloße zurschaustellung einer figur in zellstoffverbänden. noch sind die damit verbundenen wunden nicht gesättigt, aber was tut dir bereits darüberhinaus beim sprechen weh.
Zieger: ich weiß, wir haben einmal, als wir noch material sammelten, um den beginn des interesses für dieses gespräch auszumachen, den begriff der „sozialen plastik“ gebraucht. nun ist dieser begriff leider derart stark (beinahe eine selbstverständlichkeit suggerierend) an den namen Joseph Beuys gebunden, daß ich sofort in vergeblichkeitsgefühle gerate, wenn ich mir vorstelle, welchen aufwand es bedeuten muß, ihn für unser gespräch aus den zusammenhängen einer, von den medien popularisierten, und mehr ist mir leider nicht bekannt, ausschließlich den gesetzen einer bestimmten ästhetik gehorchenden deutung zu befreien. ich möchte aber gern auf einen impuls eingehen, den ich unmittelbar empfange, wenn ich mich begriffen wie dem der „sozialen plastik“ nähere. ich meine damit die hoffnung, jene zurschaustellung…, die du erwähnst und die ja immer die ausschließlichkeit der kenntnis des bestehenden für sich in anspruch nehmen muß, demzufolge die zwänge der herrschenden sprache ebenso zwanghaft befolgen bzw. beantworten muß, dahingehend zu überwinden, die etablierte trennung zwischen kunst und sogenanntem leben unmöglich zu machen. denn der deutliche anspruch einer jeweils herrschenden sprache muß es sein, einen durch sie determinierten jeweiligen erkenntniszustand durchzusetzen und als notwendig zu etablieren, und das einzige interesse einer beantwortung dieses machtanspruchs, soweit sie sich für integer hält, kann es demzufolge nur sein, nachzuweisen, daß es diesen etablierten erkenntniszustand nicht gibt oder nicht nur gibt, sondern…
hier liegt wohl der fatale zwang begründet, und diese erfahrung hat, glaube ich, jeder machen müssen oder macht sie eben immer wieder, daß der boden des uns vertrauten umgangs mit kunst und denken resultat eines polemischen daseins ist, welcher nur innerhalb dieser genannten konstellation gefunden werden kann. schon aus dem grunde, daß sich die zu diesem mechanismus gehörenden komponenten gegenseitig bedingen, können sie aber nicht notwendig in bezug auf das leben sein, welches der logik der erwartungen ja beständig zuwiderläuft, ohne überhaupt auf sie einzugehen. derjenige, der das verdikt des neurotischen zeitalters für sein dasein nicht annimmt, sich also der hoffnung auf ein ,weiter‘denken hingibt, wird das wissen, auch wenn damit vorerst nichts erlösendes für ihn geschehen ist. für mich war, als ich mit dem versuch, die vorhin genannte hoffnung zu formulieren, in eine verzweifelte lage geraten war, das gedicht „And death shall have no dominion“ von Dylan Thomas ein wichtiger hinweis auf die kraft, die darin liegen kann, den mechanismus zu verlassen, der das notwerk der zurschaustellung einer figur in zellstoffverbänden, wie du es nennst, hervorbringt. was mir da weh tut, ist die erfahrung, wie leicht es möglich zu sein scheint, diese kraft der verweigerung der logik der erwartungen an einen rückfall in die, doch eigentlich bekannte, zwanghaftigkeit jenes mechanismus des alltags zu verraten, was ja auch bedeutet, die eigenen vergeblichkeitsgefühle zu kultivieren. oder was.
Hesse: es hat also, wie mir in anbetracht der von dir beschriebenen situation hinreichend klar ist, wenig sinn, eine frage wie „haben wir mit unserer sprache verspielt, weil es kein wort mehr gibt, auf das es ankommt.“ ins gespräch zu bringen. eher sollte ich fragen, gibt es worte, die dich meinen, die dich finden mußten, um existieren zu können.
Zieger: dann würde ich dich bitten, mir diese frage jetzt noch nicht zu stellen.
Hesse: und wenn jede andere darauf hinausläuft… du hast einen langen atem. rauchst zu viel. trinkst zu viel. mußtest viel aushalten. provinz war land gewinnen. ein deutsches thema. ein andalusischer traum. kannst du die erinnerungsfotos nicht in ruhe lassen. oder woher die bilder in der höhle des bauches. aus aufgekratzten stilleben.
Zieger: sieh zu, daß du land gewinnst. das war früher die letzte chance, einer tracht prügel zu entgehen.
ich habe mir als kind oft zeichnungen von den beiden brüdern meines vaters angeschaut, die vor stalingrad gefallen sind. das waren zeichnungen nach zigarettenbildern, ein löwe in der wüste, die sphinx, deutsche uniformen, flugzeuge und; sie waren von toten. nun kann ich mit dem terminus krieg nicht umgehen. daß ich dennoch immer wieder zu den erinnerungsfotos gehe, damit muß es eine andere bewandtnis haben. ich setze mich vor diese gesichter und spüre, daß deren schweigen mit meinen annahmen über das schweigen nicht identisch ist. ich finde hinweise auf einen raum, der vom tod handelt. manche stilleben bei den holländern hießen memento mori.
hinzu kommt, daß ich in meiner kindheit sehr viel angst gehabt habe. angst vor jahreszeiten, vor nachmittagen, vor bestimmten menschen wie dem sportlehrer Napiralla, vor nachrichten. im winter, wenn die leute genauer erzählten, waren es die flüchtenden frauen aus der psychiatrie, welche die eine hälfte des zentrums der stadt meiner kindheit bildete, dann wieder waren es die Männer aus dem zuchthaus, der anderen hälfte des zentrums von waldheim, die erdarbeiten verrichteten, gezeichnet mit gelben streifen auf der kleidung, von hunden und polizisten umstellt. die täglichen selbstmörder. frauen, die sich an klostrippen und an den fassaden ihrer häuser erhängten, sich vergasten… frau Bitterlich, frau Sachse… während einer suchtbehandlung im krankenhaus herzberge habe ich das alles wiedergefunden, und ich bin überzeugt, daß diese art erinnerungen an menschen und an vorgänge, in denen sie handelten, mir einen zugang zur wahrheit kennzeichnen, den ich bis zur selbstvernichtung brauchen werde. ich mag andere interessen in der kunst nicht besonders. ich bin auf der seite von Jürgen Bartsch (jürgen bartsch, sexualstraftäter, 1876 während eines operativen eingriffs mit dem ziel der kastration umgekommen, der dokumentarfilm nachruf auf eine bestie, wurde am 5. Dezember 1985 vom zdf ausgestrahlt.). und was ist ein bruder, der sich die haut abgekratzt hat.
Hesse: du bist, ich erinnere mich an deine worte, auf der seite von Jürgen Bartsch, wenn du auf der seite seiner scheiterungen bist, die ein dort in der zerstörtheit der von ihm überlieferten sicht auf seine morde finden. wurzelt in diesem zeichen auch eine ethische qualität deines sprechens, die in amöben, jenem stück von dir, das in assoziationen und intensität „Jürgen Bartsch – das eigentliche schicksal deutschlands jener zeit“ nicht verleugnet, ihren dialog sucht.
Zieger: als ich auf Jürgen Bartsch traf, und zwar durch den dokumentarfilm nachruf auf eine bestie, hatte ich sehr viel material gesammelt, um ein stück zu schreiben, das, im zusammenhang mit dem vorhin gesagten, von einem wassermann handeln sollte. der zentrale satz in diesem material war der, den ich dem stück später vorangestellt habe. ein satz, den ich bei Jakob Grimm fand. „zwei knaben spielten am strom, der neck saß und schlug seine harfe, die kinder riefen ihm zu: ,was sitzest du neck hier und spielst? du wirst doch nicht selig!‘ da fing der neck bitterlich zu weinen an, warf die harfe weg und sank in die tiefe.“ ich erfuhr, daß in der deutschen mythologie die wassermänner einen anspruch auf seligkeit hatten und das man ihnen dies nie absprechen durfte, weil man um das ausmaß ihrer angst wußte und ihre entsetzliche rache fürchtete. hier hatte ich einen zusammenhang. der wassermann und der höhlenbewohner, der nicht zu ende geborene unter dem verdikt des ewigen nachkriegsdeutschlands, dem keine chance bleibt außer der des hyperboreers. ich sah in Jürgen Bartsch so etwas wie den rußigen bruder von Rudi Dutschke, einen, der es nicht mehr geschafft hat, einen satz zu bilden. einen, der mit seiner sprachlosigkeit identisch wurde, wenn du so willst, vollkommen in ihr verschwand, ohne das zu begreifen. ich war in den sechziger jahren kind, und wenn ich auf der suche nach den erinnerungsfotos bin, dann bin ich in jenen dumpfen sechziger jahren. dort ist mir das provinzschicksal des Jürgen Bartsch natürlich näher als politische ideale aus zweiter hand. mein leben handelt bislang eben auch von jener sprachlosigkeit, vor der Jürgen Bartsch gescheitert ist. dort suche ich trost. auch für ihn.
Hesse: sicherlich kann das nur ein trost sein, der auch mut macht, der etwas erfüllt, was ungenannt einen ansatz zur artikulation beinhaltet, der mit viel demut kündbar ist. siehst du in dieser richtung möglichkeiten (zu) einer ,positiven idee‘, die sich gegen nichts richten muß, weil sie den versuch unternimmt, teilnehmen zu lassen, die schenken kann, wo bisher immer nur geteilt wurde.
Zieger: ich habe dir von meiner arbeitsweise erzählt, von den träumen, den selbstgesprächen, den zetteln… all das ordnet sich über lange zeit, von mir erst einmal gar nicht bemerkt, um einen raum, von dem ich irgendwann erfahre, daß er jetzt lebt, daß er mich jetzt aushalten kann. von da an liegt die sache bei mir. dann muß ich ihn aushalten; und dies ist nur so lange möglich, wie ich nicht umfalle und die figur des gesprächs, die zwischen ihm und mir leben muß, abschieße. der zustand der figur jenes gesprächs ist die einzige wirkliche nachricht über das zentrum des geschehens, von dem meine arbeit, aus deren geschichte und struktur vorläufig nur ein text resultiert, handelt. das schreiben ist nicht mein ziel, es ist eher quälend. das ,glück‘ liegt im sammeln, im begleiten und entdecken der ordnung, zu der sich das jeweils vorhandene material fügt. die möglichkeit zu einer ,positiven idee‘ (und ob das dann noch eine idee sein muß, weiß ich nicht) befindet sich innerhalb jenes wissens um die poesie, wie Artaud es in die inszenierung und die metaphysik formuliert hat, und befindet sich dort, wo personen von figuren handeln können, weil sie in figuren handeln, das heißt, sie müssen diese und somit sich selbst leben lassen, was den zu gesetzen erhobenen kenntnissen über die vorgänge innerhalb der determinierten realität zufolge eigentlich nicht geschehen dürfte.
was es heißt, ein geschenk zu machen, ist in dem gesagten sicher aufgehoben, begriffen hab ich es in der nacht des tetraeders (performance von bernhard rothschädel auf werner hennrichs dachboden in berlin-mitte, herbst 1986). und wenn ich weitersuchen sollte, dann weiß ich, wovon ich ausgehen kann, ohne eingeschworen sein zu müssen.
Hesse: vom gemeinsam erfahrenen ufer einer begegnung, die auch unser gespräch als handlungsspielraum erkennen läßt, wenn ich dein wissen über die transzendenz des bestehenden richtig deute. deshalb will ich dich an dieser stelle nicht weiter fragen… bestimmt wird der märchenerzähler in einer späteren zeit die geschichte von der nacht des tetraeders offenbaren.
Zieger: oder es war unklug, sie zu erwähnen. als wir anfingen, uns zu begegnen, halfen wir uns mit der idee vom dominospiel. vielleicht ist es uns gelungen, die idee des aneinanderlegens hier und da zu überwinden. ich danke dir.
Dieses Gespräch wurde im November 198 geführt.
Erschienen in: Egmont Hesse (Hrsg.): Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR, S. Fischer Verlag, 1988.
– Zu Ulrich Zieger. –
Die Briefe sind angekommen. Der sie geschrieben hat, er hat sie nicht an uns geschrieben. Fünfundsechzig an der Zahl, sind sie rückwärts gewandt, an einen Toten, an einen, der neunzehnhundertfünfundsechzig – so auch der Titel des Buches, das Anlaß für die Verleihung des Preises ist – starb. Wir erfahren kaum etwas von der Geschichte im Hintergrund. Doch wir erfahren tausend andere. Das ist verwirrend.
Der Absender selbst hat sich kenntlich gemacht. Ulrich Zieger, 1961 geboren in Sachsen, hat sich schon kenntlich gemacht, als an dieses erste Buch von ihm noch nicht zu denken war, als ihn der „nordostwind“ nach Berlin getrieben hatte, als in einer illegalen Zeitschrift sein „epitaph / report“ auf bzw. über Sachsen erschien, darin er die Zeit nennt, „… als die sachsen / täglich zwischen freundlichkeit und selbstmord schwankend / [s]einen namen / aus der liste ihrer opfer strichen“. Einer, der so entkommen ist, der setzt die Reise fort. Die Briefe aber sind angekommen. Sie haben bewirkt, daß sie wieder und wieder gelesen werden. Statt lyrischer Labsal reichen sie Säure. Sie ätzen den Mantel des Verstehens, versehren ihn fraglos. Zieger weiß ganz konkret, was er dem Leser antut mit seinen unverdünnten Katarakten. Er hat als Chemigraph gearbeitet, wie übrigens auch Nicolas Born.
Ich stehe hier, vor Ihnen, mit notdürftig wieder geflicktem Verstand. Ich habe in dieser Säure gebadet. Ich habe dieses auf uns gekommene graue, wie uralte Buch aufgeschlagen, dieses Bündel fremdartiger Papiere, seltsamer Zeichen und phantasmagorischer Landschaften, die mir auf sehr verschiedene Weise vertraut vorkamen. Ich habe an diesem Meer gestanden und den Zug der Männer und Frauen verfolgt, die meiner nicht achteten, deren Gesichter sich mir aber eingeprägt haben, schemenhaft düster und konkret zugleich. Die eine Frau „wußte zuviel“, ja es war sogar klar: „das hat sie falsch gemacht“: „verfressen den seglern… nachgeblickt“. Die „heimkehr der männer“ bedeutete, daß auch ich mich über Fotografien beugte, deren Abgebildetes von Mond oder Sternen her stammte – und doch neben dem widerlichsten Haschee zu liegen kam … O mein Kopf, mein armer brennender Kopf und „meine mutter, wie sie mich unter den tisch soff“. Ich erinnere mich an die Szene genau. Sie steht auf, sie kommt auf mich zu, nimmt mich zu sich und wiegt mich und zerrt mich minutenlang grausam bei den Haaren. Die Briefe sind angekommen, deren erste sechzehn zumindest zwischen den Sprachen geschrieben sein müssen, ganz auf der Suche, vielleicht sogar auf der Flucht, montiert aus dem Versuch zu sprechen und dem Versuch, eine dringende Botschaft mitzuteilen. Barrikaden syntaktischer Manöver, verruchter Zeilen-, ja Vers-Abbrüche verraten die Drangsal des Absenders. Bis er uns mitteilt von den „worten des schweigens“ und einem unerhörten Geschehen:
dann verschiebt sich allmählich das herz…
Lassen Sie es mich gestehen: Ich bin eins ums andere Mal verzweifelt über diesen Briefen, während sie mich zwangen, mit dem Finger die Zeilenbrüche, diese Zacken, diese Grate entlangzufahren. Gewiß, ich spreche von Gedichten. Jeder der Briefe ist ein Gedicht, und doch weisen alle Zeichen auf den oder die Adressaten, deren Namen wir nicht kennen werden.
Zum anderen scheint ein Metatext hinter den Briefen auf, der Biographien von mehreren Generationen umfaßt, ja die Geschichtsschreibung einer verwirrend komplexen Landschaft und ihrer Bewohner. Dies ist nicht Sachsen, nicht Berlin, auch nicht das südliche Frankreich, in das es den Autor unterdessen verschlagen hat. Geoffrey Hills Mercia sieht es ähnlich, und doch ist es vielschichtiger. Kind und König, Königskind als Fischer und Prinzessin als waschendes Weib, gewiß doch, und doch überhaupt nicht. Zieger bedarf keiner Zitate fremder Mythologien, vorgestanzter Zeichen. Die einen wie die anderen findet er selbst, muß sie nicht einmal erfinden.
Die Briefe sind angekommen wie Orgelton durch alle Wände zugleich. Der Autor vermag sich kleinerer Instrumente nicht zu bedienen. Er ist kompromißlos, wie es das Selbstbewußtsein des Dichters gebietet. Er nimmt keine Rücksicht auf die zufällige Begegnung mit dem Leser. Zu Recht nennt er sich „einen boshaften scharfen beobachter“, zögert er nicht und erkennt den „vorzug des stotterns“. Sein „alphabet war erneuert zum vorwurf“, und doch sieht es sich im anderen Zusammenhang als ein „singen zu füßen der schwalbe“.
Dabei durchschaue ich seine Spiele, die Vielzahl der Pirouetten auf jenem existentiellen Eis, dem Namen zu geben das Ziel ist, und nehme sie hin als notwendige Schritte auf dem Weg, den andere Gedichte längst bedeuten. Ich sehe, wie kräftig der wird, der sich so durch immense Arbeit befreit. Hier find ich ihn schon und kenne ihn genau:
da muß etwas geblieben sein, übriggeblieben,
zeitweilig vergessen…,
von diesen briefen
dem ausharren
von den zertretenen türen.
das sind die ganzen kristalle der armut,
und es ist nichts als das tragende herz…,
rief ich, nichts als die lächerlichkeit
eines schleppenden muskels…,
;die durchleuchtungen halte ich aus
selbst die impfungen
noch ist der winter im holz
es ist unglaublich liebliches wachstum…,
du hobst die augen;
so wird die verlassenheit dargestellt;
in immer obszönerer zeichnung
wird so an der nähe gearbeitet
Narretei und Verwirrung liegen hinter dem Autor und seinem Leser. Die Scham ist überwunden, die vor dem Pathos, das seinen Grund an der aufscheinenden Biographie hat. Die Scham ist überwunden, die sich der kleinen Melodie erwehren hieß, die aus dem Lied ein schmerzhaftes Zucken des Kehlkopfes machen wollte, die es auch schaffte die überaus notwendige Zeitlang. Franz Fühmann hat es einmal so zugespitzt: Die Arbeit an einem Text, bei der nicht Scham zu überwinden sei, sie lohne sich nicht.
Ich meine, das gilt zuallererst für Gedichte, die aus der Tiefe der Erfahrung schöpfen, die nicht Konstrukte, Behauptung von Sprache sind, sondern den Weg eines Ringens um Tatsachen der Existenz, um Klarheit bezeichnen. Mag diese Klarheit für den Leser zunächst als das Gegenteil erscheinen, mag sie Wort um Wort, Seite um Seite sich sperren gegen das Verständnis des ersten Blickes, gegen Bequemlichkeit.
Gestatten Sie, daß ich doch einmal kurz auf die real vermauerte Landschaft zu sprechen komme, der ein Teil der Biographie Ulrich Ziegers angehört wie meine und die anderer hier Anwesender. Jene ist untergegangen, während die Prägungen bleiben. Ulrich Ziegers Arbeit ist gerade unter diesem Blickwinkel zu bewundern. Dieser Autor hat es vermocht, die allgegenwärtige Mauer nicht im eigenen Kopf nachzubauen, wie andere es taten. Er hat sich nicht darauf eingelassen, die Gedanken zu wetzen am Beton, sich der Fixierung verweigert, deren Fehlen heute bei manch einer, manch einem schon Leere erzeugt. Ulrich Ziegers Gedichte waren von Anfang an grandios ignorant gegenüber dem hingehaltenen Knochen eines scheinbaren Gegenstandes für unernstes, scheinbares Denken.
Auch wenn es nicht hierher gehören mag, nicht passen mag zu einer Laudatio auf den Mann, dessen Gedichte mich zugleich jedoch zu dieser Feststellung treiben: Mein eigenes Denken war Jahre hindurch von solch idiotischer Scheinbarkeit, die Worte der eigenen Gedichte zwar notwendige Versuche, doch in einer wesentlichen Schicht taub. Die Wunden, die mir die Mauer schlug, ich suchte sie – dazu verdammt – zu gestalten. Ulrich Zieger trägt diese Narben ebenso (ein jeder trägt sie, bewußt oder dumpf, sichtbar oder verhohlen), und doch fand er den Weg, hatte er die Kraft, die poetischen Pfade seiner Herkunft genau zu beschreiten. Er hatte jenes schon nicht mehr nötig, wie ich neidvoll erkenne.
Sein Schreiben begann schon in dem Bewußtsein des Geworfenseins, das Stephen Crane auf einem ironischen Grat so formuliert:
A man said to the universe:
„Sir, I exist!“
„However“, replied the universe,
„The fact has not created in me
A sense of obligation.“
Und wo sich bei Ulrich Zieger eine Widmung für Crane findet, da geht er noch einen Schritt weiter, setzt den Fuß auf den eigenen Nacken. „man kann das leben nicht nennen!“ Und schreibt und schreibt doch von der Flut aus lauter Leben, die ihm zur Verfügung steht.
Die Briefe sind angekommen. Diese unerhörten Briefe, dieser „briefwechsel… wie ein myzel“, in dem „mit jedem / gedicht aus der kindheit / ein schweigen erhalten“ wird. Ich bin wahrlich süchtig geworden nach dieser Art Schweigens. Es geht eine Kraft aus von ihm, die sich steigert, die von Gedicht zu Gedicht aufbrandender, zwingender wird. Die Briefe haben uns unerwartetem Druck ausgesetzt. Wir mußten antworten, wir mußten jetzt endlich antworten. Und so haben wir es getan. Wir sind aufgestanden und haben die Hand gereicht und haben gesagt: Sei willkommen.
Uwe Kolbe, Laudatio zur Verleihung des Nicolas-Born-Preises 1991 an Ulrich Zieger
Leonhard Lorek: ICH GEHE AUF FUEHLUNG AN DEN FUSSOHLEN…
starb 2015 mit 54 Jahren in Montpellier. Er fehlt mir sehr. Ich liebte ihn von Anfang an mehr als jeden anderen deutschen Dichter. Er spielte in seiner eigenen, gänzlich unerhörten Liga. 1990 las ich zum ersten Mal Gedichte von ihm und verneigte mich vor deren Größe. Diese Qualität war schockierend. Seine Gedichtbände neunzehnhundertfünfundsechzig, Große beruhigte Körper, Vier Hefte, L’atelier und Aufwartungen im Gehäus sind von einem anderen Stern. Besseres gab es nicht in der deutschsprachigen Dichtung der letzten zwanzig bis dreißig Jahre und wird es demzufolge auch nicht mehr geben.
Kam in den 90er Jahren ein Päckchen aus Montpellier, dann gab es Festivalstimmung bei mir in Leipzig, Kassetten über Kassetten, bemalte, beschriftete, in seelischer Anmutung und Verausgabung zusammengestellte, betrunkene Kassetten, Jim und Jeff, Mecca Normal, Andy Prieboy, ach einfach alles. Ich legte die Musik ein und betrank mich. So waren wir dicht beieinander.
2003 sagte eine Freundin in Rom zu mir, Thomas, ich fahre eine Bekannte in Umbrien besuchen, am Lago Trasimeno, sie ist mit einem Dichter zusammen, mit Paul Wühr, ob ich mitkommen möchte. Ja, ich wollte mitkommen. Einer der ersten Sätze, die Paul Wühr nach unserer Ankunft mir gegenüber äußerte, war:
Vor kurzem besuchte uns eine Germanistin, als sie erwähnte, noch kein Gedicht von mir gelesen zu haben, warf ich sie raus.
Ich erwiderte als Entgegnung:
Ich kenne Gedichte von Ihnen, aber die gefallen mir nicht.
Paul Wühr sah mich scharf an, und ich dachte, daß der Untergang nahen würde. Er meinte darauf zu mir:
Stellen Sie Liebes- und Haßlisten von Dichtern auf, und dann sehen wir weiter.
(Die Haßliste lass’ ich aus, die war außerdem zu blöde und in jeder Hinsicht verzichtbar.)
Meine Liebesliste begann mit Nicolas Born. Als zweiten Namen nannte ich Ulrich Zieger. Paul strahlte und sagte:
Nur noch einen richtigen Dichter, dann dürfen Sie Paul zu mir sagen und hierbleiben.
Ich sagte: „Schiller“, und durfte so was von bleiben.
Paul wünschte sich so sehr, daß Ulrich und ich ihn zusammen besuchen kommen. Ich versprach es ihm. Zurück in Rom, redete ich so lange auf den Direktor der Villa Massimo, Joachim Blüher, ein, bis er Ulrich für einen Monat als Ehrengast in die Deutsche Akademie holte. Ich denke, er war wohl mit seinen 42 Jahren der jüngste Ehrengast, den die Villa je gesehen hat. Und er war zu Recht da. Ulrich war ein fantastischer Koch. Seine Bohnen mit Lamm werde ich nie vergessen. Es ging ihm aber nicht nur gut in Rom. Einmal sagte er zu mir, ich hätte ihn in einen goldenen Käfig gelockt. Das tat weh.
Wir tranken viel zuviel und hörten Fabrizio de André rauf und runter. Der Abend in Umbrien bei Paul bleibt unvergessen. Der alte Wühr, unser Freund, sagte zu uns: „Jungs, lest für mich“, und:
Wenn ich euch höre, werde ich gelb vor Neid.
Wir tranken und lasen und sprachen, waren wütend, wir lachten und tobten und schwärmten. Mit Paul konnte man so herrlich wütend sein. Die Rückfahrt nach Rom am nächsten Tag verlief müde und friedlich.
Es wurde und wird so häufig mit Superlativen hantiert in der deutschen Literatur, aber bei Ulrich Zieger finde ich sie angemessen. In meinen Augen war er der wichtigste, intensivste, magischste und sprachmächtigste Dichter der Gegenwart.
WIR DEZIMIEREN UNS AUF LEICHTE WEISE,
Zerkleinern Institute, kriegen Krebs.
Gelingen Nächte ohne Zieger-Tapes,
Gehören sie ans Ende einer Reise.
Klavier und Alkohol genügen Wolken
Für einen Übergang ins Uferlose –
Am Schreibtischbein verkümmert meine Hose.
Der Horizont hat einstmals mir gegolten.
In Unterführungen sind wir zu viert.
An meinem Fenster lehnt ein Eisenstab.
Wir haben unser Hoftor ernst genommen.
Beziehungsstatus: es ist kompliziert.
Ich will nicht hören was ich alles hab
Und weiß wohin im Dorf die Flaschen kommen.
Thomas Kunst, aus Thomas Kunst: Kolonien und Manschettenknöpfe, Suhrkamp Verlag, 2017
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWir trauen keinem frieden mehr.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa. awir kämpfen niemals wieder.
wenn du ein grab umschreitest
absteckst das glas jenes körpers
der in fadentiefe ruht
dein gefertigtes beil ablegst
parallel zur schrift
die pflöcke pflegender schafe
zum einschlag bringst
zwei mitgeführte lampen
zuzuschrauben
vergraben im halbmass leuchtend
die eine ins all
der anderen zu glauben
um dann das haus zu suchen
die adresse deiner strafe
die des beweises schuldig sich
gemachten monologe
das gebrüll des löwen um mitternacht
aus dem tinktur und erlenmeyerkolben
kochend und beschlagen
ein machtwort destillierten
flöge der schreichor vorbei
an den sparren der speicher
geduldig den ast zu umgreifen
der den flug unterbreitet
und des verbrachten gleichmasses vergass
an flügelüberlastenden
heimstätten der freiheitsdroge
ein alphabet des sinnwurfs
seine pflasterflecken geben den geruch
von teufelszeug geronnenen händen
über der brust gekreuzt und durch
strecken gehetzt vor dem fluch
der die dämmrung verriet
windend in strahlen
pappeln verweht aus napoleonkriegen
begrabner soldaten im dorf
wo sie brannten verleichten
kürassiere mordender einheiten
die gewalt des pferdes unter sich
geniessend den generalschlaf
wie ausgeteilte post sich überreichten
für Ulrich Zieger
Andreas Hegewald
Gert Neumann spricht über Ulrich Zieger.
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