Ulrike Almut Sandig: streumen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ulrike Almut Sandig: streumen

Sandig-streumen

,

RUSSENWALD war, vorüber wir pfiffen, wohin
wir nicht gingen, wo bündel aus licht in höhe
der fichtkronen aufstiegen, rot, wo die asche
von kippen und verbogener stahl die gräben
bestrich an der grenze zum feld. am ortsrand
bewegten sich tische und etwas weckte uns
spät: es gab weiter hinten das ende vom weg.

betreten verboten vermintes gebiet / heide
fallbaum lichtung moosrand / krater rotwild
leere dörfer / backsteinhallen erika. es gab

panzerzüge, lkws, dunkelgrüne planen, drinnen
standen vierzig mann, die schauten nach hinten
in reihen heraus, alle köpfe rasiert. und es gab
diesen einen, der vier stunden stillstand, im juli
die hitze, auf der kreuzung allein, bis sie rollten
in dreißig maschinen vorbei, und er hebt seine

rechte: militär vorfahrt / bis staub und das bellen
von hunden und er sich nicht rührt / schmaler
junge abendrot / mittelstreifen grün. es gab sie

schon immer und manchmal brachen sie latten
vom zaun und schnitten den kohl auf und
schossen die hennen. wer satt war,
lief weiter zum fischteich, zur sonne, und tauschte
mit kindern abzeichen ein, rot und sichel gegen
freundschaft. wer das tat, kam lange nicht
aaaaawieder. wir warteten umsonst.

 

Ulrike Almut Sandig & Grigory Semenchuk: , russenwald

 

Streumen ist ein guter Ort,

aber der Aufenthaltsort des Glücks liegt von hier aus gesehen immer im Süden. Streumen ist eng. In Streumen ist es wie überall. Streumen ist ein beweglicher Ort. Streumen ist eine unsichere Tätigkeit seiner Bewohner. Unsicher ist auch die Anzahl der Streumenden. Es handelt sich um uns. Wir streumen vor lauter Sehnsucht.

Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Klappentext, 2007

 

Beten, murmeln, streumen

– Der poetische Gegenzauber der Ulrike Almut Sandig. –

Es ist eine Atempause, ein Augenblick des Verweilens und zugleich ein Moment der Entscheidung. Zwei Menschen, zwei Liebende vielleicht, tasten sich vor ins Ungewisse, prüfend noch und unsicher, wohin der Weg sie führen wird. An einem Ort, an dem die deutsche Romantik ihre Topoi des glückhaften Einklangs zwischen Mensch und Natur situiert hat: im „Märzwald“. Das Auseinandergehen von „Ich“ und „Du“ scheint hier schon beschlossene Sache zu sein. Aber das Gedicht Ulrike Almut Sandigs suggeriert auch Levitation:

an diesem ort drückt uns nichts zu boden.

Es gibt hier eine schöne Ambivalenz von Dableiben und Weggehen, vom Verlangen nach symbiotischer Einheit und gleichzeitiger Auftrennung, von Einkehr und De-territorialisierung. Der Schlüsselvers – „und du gibst mir dein wort: dazubleiben, wenn ich geh“ –, diese Selbstvergewisserung in der Ambivalenz von Selbstverpflichtung und Autonomie, kehrt als poetische Grundbewegung der Dichterin Ulrike Almut Sandig im Kontext eines anderen Gedichts wieder:

kann sein, dass wir hier
nicht mehr weggehen werden…

Hier korrespondieren Körperbewegungen mit offenen lyrischen Suchbewegungen, mit einer poetischen Vagabondage, wie sie Sandig in einer Sonderausgabe der Zeitschrift intendenzen (Hermetisch offen. Hrsg. von Ron Winkler. Berlin 2008) beschrieben hat:

… Dieser Impuls, mein Gedicht überhaupt zu schreiben…, treibt mich zu einer Körperbewegung an, die mit dem Singen, dem Beten, Murmeln, dem Neinsagen, dem Träumen, dem Rennen und dem Streunen verwandt ist. Die schreibende Bewegung ist mit dem Ort, an dem ich mich befinde, identisch. Deswegen bilde ich Bewegung und Ort in einem Wort ab: Das nenne ich Streumen. Ich streume. … Mein Gedicht streumt. Und damit geht es los.

Die 1979 geborene Ulrike Almut Sandig machte 1997 Abitur in Riesa und nahm ein Journalistik-Studium auf, wechselte dann aber zu den Religionswissenschaften und zur Indologie. Es folgten zwei Sprachreisen nach Indien und ab 2004 das Studium am Literaturinstitut in Leipzig. 2005 erschien ihr Debütband Zunder, bereits 2006 wurde sie mit dem renommierten Lyrikpreis Meran ausgezeichnet. Weitere Preise und Stipendien und der Gedichtband streumen (2007) folgten, seit 2008 agiert sie als Mitherausgeberin der Leipziger Literaturzeitschrift EDIT.
Ihre Gedichte gehören mit zu den hoffnungsvollsten Sprachereignissen der jungen deutschen Lyrik: Hier konstellieren sich semantisch offene Sprachzeichen, hier verbinden sich lyrische Impulse zu einer diskreten Form, zu Texten, die sich nicht um eine feste Bedeutung gruppieren oder gar eine geschlossene metaphorische Welt aufbauen wollen, sondern eher dem Vagabundieren gleichen – Sprachbewegungen, die sich erst in das Reich der Zeichen hineintasten, bevor sie ihre Richtung finden. Für Sandig heißt das Zauberwort „streumen“, das zum einen eine Ortsbezeichnung ist, zum andern aber den Aufbruch ins Ungewisse meint. „Streumen“ ist ein Dorf im ostelbischen Sachsen, in dem die Autorin aufgewachsen ist, und meint zugleich die vagabundierende Tätigkeit des lyrischen Subjekts. Ein Ich beginnt aus einer Verborgenheit heraus zu schreiben und beginnt zu „streumen“ – und – im günstigsten Fall – lösen sich alle festen Bedeutungen aus ihren Verankerungen. „Wenn ich ein Gedicht als Körper begreife“, so Sandig im Gespräch, „dann muss dieser Körper auch sich bewegen können. Das ist für mich in streumen die wichtige Funktion eigentlich der Gedichte, dass die eine Körperbewegung haben, die auf einen Punkt hinzielt. Eine laufende, eine ,streumende‘ Bewegung eben.“
Bei Sandig ist das Ich unterwegs ins Ungewisse, stets schwankend zwischen provisorischem Verweilen und nervösem Aufbruch – ein Ziel ist vorerst nicht in Sicht. Diese Gedichte formulieren eine tastende Suche: das sanft fluktuierende Gedanken-Protokoll einer Selbstvergewisserung. Es ist zugleich ein in Gedichten imaginiertes Wechselspiel zwischen Verankert- und Unverankert-Sein. Das Ich kann auf keinem festen Standort beharren, sondern stellt das einmal Erreichte sofort in Frage, um gleich einen neuen Ort, ein neues Ziel ins Auge zu fassen. Auch die Sprache selbst horcht in sich hinein, um die Verlässlichkeit der gefundenen Wörter zu prüfen. Diese skeptische Verhaltenheit des Sprechens, das sich ständig selbst in Frage stellende lyrische Erzählen macht den großen Reiz von Sandigs Poesie aus. Am Ausgangspunkt vieler Texte steht ein Kind in der Stille – ein Kind, das in die Muschel eines Telefonhörers spricht, sich mit dem Rauschen darin vermischt oder fremden Stimmen lauscht. Ein leises Reden dringt von außen in die fast hermetisch verschlossene, einsame Welt des Kindes hinein. Und dann kommt etwas Rätselhaftes, Bedrohliches hinzu, das unbestimmt bleibt, etwas Gewaltsames deutet sich an, eine Invasion des Unbekannten. Gegen solche Bedrohlichkeiten im Dunkel, gegen ein Alleinsein, das in Verlorenheit mündet, setzt die Dichterin die Hoffnung auf die Magie des Gedichts. Es geht ihr um Magie als „Gegenzauber“.

Michael Braun, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 189, März 2009

In Streumen träumen und streunen

Ulrike Almut Sandig wurde 1979 im sächsischen Großenhain geboren und hat 2006 mit Zunder den Meraner Lyrikpreis erhalten, was eine kleine Sensation im Literaturbetrieb ist, da es sich nicht um einen Nachwuchsförderpreis handelt. 2007 erschien streumen, ihr zweiter Lyrikband. Bei der diagonalen Durchsicht habe ich zuerst an die typischen Halbsatzgedichte des Leipziger Literaturinstituts, wo die Autorin seit 2004 studiert, gedacht, doch eine nähere Betrachtung hat mich ganz schnell eines Besseren belehrt. Überraschend frisch kommt schon die formale Gestaltung daher. Die Titel sind fett gehalten, aber nicht immer über, sondern oft auch im Text. Auffällig auch die graphische und nicht sprachliche Verwendung von einfachen und doppelten Anführungsstrichen neben weiteren Spielarten der Darstellung. Genial finde ich, dass einige Gedichte im Querformat gedruckt wurden. Damit erspart man sich die hässlichen Zeilenumbrüche, mitten in der Strophe. Das schmale Buch ist sorgfältig gedruckt schön aufgemacht. – Der Titel streumen hat mich irritiert. Das klingt nach „streunen“ oder „träumen“ und im polyglott gewordenen Lebensumfeld ist es nicht abwegig an Männer zu denken, die irgend was streuen, immerhin findet man auf Seite 14 das Wort „Salz“, gross geschrieben, was dann ja zum Bild passt. Nun ja, Streumen ist eine Ortschaft in Sachsen. Ein realer Ort also, der aber in der Dichtung schnell Imagination und Sehnsucht wird, durchaus romantisch, aber ohne blaue Blumen. – Bei der Lektüre der (von einzelnen Worten abgesehen) klein geschriebenen Gedichte tauchen schnell eine Hand voll Themen auf: Kindheit, russisches Militär, Schule, Mädchen, Missbrauch, Mutter, Heimat, Geborgenheit und Liebe. Am Anfang bewerkstelligt sich diese Sinnfindung schnell, später weniger. Der Knoten lässt sich nicht mehr lösen. Aber ist das überhaupt notwendig? Kein geringerer als Paul Celan empfahl einem Sinnsuchenden bei seinen Gedichten: Lesen, lesen, immerzu lesen. – Moderne Lyrik zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie Sprache nicht nur als Instrument, als Transportmittel für schon bestehende Bilder und Ereignisse nutzt, sondern auch, um sich auf die Suche zu begeben, unterwegs zu sein, zu entdecken und zu schaffen. Vollends nachvollziehbar wird dieser zweite Ansatz, wenn man weiss, dass Ulrike Almut Sandig zusammen mit ihrer Kollegin Marlen Pelny über mehrere Jahre hinweg an allen möglichen Stellen in Leipzig eigene und fremde Gedichte an Ampelpfosten, Stromkästen und anderen Orten aufgeklebt hat und der vorliegende Band auf dieser Basis entstanden ist. An den Klebearbeiten hat sich zeitweilig auch der Verleger der Autorin beteiligt.

Andreas Gryphius, amazon.de, 13.3.2008

Datierte Gefühle

Kunst des Nichts = nichtige Kunst?
Ulrike Almut Sandig, deren Lyrik beim literarischen März 2007 preisverdächtiger war als alles ihrer Konkurrentinnen, wurde in Darmstadt ein bisschen zu Unrecht links liegen gelassen. „Es fehlt uns an Stoffen“, las die Autorin und Jan Koneffke kommentierte: „Wunderschön anzuhören, wunderschön zu lesen, aber die Gedichte handeln von nichts.“ Kurt Drawert meinte: „Die Gedichte handeln von allem“, und Sybille Cramer beschwerte sich:

Es ist ein Leerlauf, den die Autorin nicht begründet. Das ist eine Poesie des Ungefähren.

Ja, ganz genau. Der in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung gerade eben erschienene zweite Gedichtband der 28-jährigen, streumen, handelt vom Ungefähren. Ein Großteil der spartanisch angelegten Gedichte zeichnet die Konturen des Nichtsagbaren nach. In Darmstadt hat man nicht begriffen, dass der Autorin weder an Klarheit noch an Schärfe gelegen ist, sondern daran, das Herantasten an diesen Punkt sichtbar werden zu lassen. In der Ortsbezeichnung „Streumen“ (ein Nest in Sachsen) schwingt so sehr ‚träumen’ mit, auch ‚strömen‘ und ‚streunen‘: emotionshaltige Bewegungswörter. Das ‚Strömende‘ an „Streumen“ zeigt sich formal auch in ganz bewusst nichtaufgelösten syntaktischen Strukturen, offenen Satzenden oder -anfängen. „die versessenen gesten der trauerweiden“, „das fischen nach sätzen“, dem Umranden von Anwesendem, aber eben nicht Sichtbarem. Vor allem im ersten Teil des Buchs ist von der Einsamkeit einer wirklich erfahrenen oder auch nur erdachten Heimat die Rede:

im juli

war der teer feucht und leer…
hörbar
war jeder schritt, bis der august mit maschinen
das, was schon rauschte, zerschnitt.

Hier feiert die Autorin eine Melancholie der Provinz, und Provinz bedeutet klar auch Provenienz, also Herkunft des Herzens. „in streumen ist es wie überall“, Streumen ist der Ort, an dem die Schranke immer unten ist. Was inhaltlich dokumentiert wird („an genau dieser stelle versickert das glück“ – „im anflug zu einem satz / übers wetter, gibt es hier, es gibt nichts zu sagen“), erhält einen Widerpart konzentrierter Bewegung in dem Bogen, den die Gedichte über die Kapitel hinweg schlagen. Einige Texte sind sowohl eigenständig als auch als Strophe einer poetischen Folge, als Teil ein und derselben Szenerie lesbar. Im Gegensatz zu Pelnys Poemen jedoch bleiben Sandigs Gedichte selten Versatzstück, selbst wenn sie sich (wie „silvesterraketen“) gut zur Weiterverarbeitung durch Musiker und Remixer eigneten.

Das Gegenüber als blinder Fleck
Nicht ganz bedenkenlos ist streumen in einen Naturlyrikkatalog einzuordnen, noch ungewisser aber in jenen der Liebesgedichte. Als Leser habe ich eine Vermutung: Es geht viel um „schwesterlichkeit“, um eine etwas verschwiemelte „geschwisterlichkeit der mauersegler“, und ich bin froh, eines der wenigen „du“ in dem Buch entdeckt zu haben. Dennoch: Mit der Benennung des „du“ wird, dem Grundgedanken des Bands entsprechend, gerade dessen Abwesenheit kenntlich. Abwesenheit von Männern auch, von maskulin assoziierten Elementen. „wenn du nicht da bist, bist du nirgends zu sehen.“ Das Gegenüber als blinder Fleck; und „das taube gefühl kommt nicht von irgend / woher“, denn wenn „ich dich und sobald du mich siehst, / geblendet vom blitzen, vom rätseln, vom sitzen im licht“, bilden sich Schlieren. Die Konturen des Nichtsagbaren werden selbst wieder undeutlich und gehen über ins Phantasma. „am morgen finde ich netze im garten: feucht noch, zerfleddert, / insektenflügel“ – und Reste von Retina, möchte man hinzufügen.
Trotz kleinerer Unreinheiten wie z.B. einer Bedeutungsverwischung von „farbig“ und „farblich“ oder unmotivierter Zeitenwechsel, gelingt es Ulrike Almut Sandigs Gedichten, wenigstens einen Teil des Hungers zu stillen: „dieser hunger ist der rest eines alten versprechens.“ Die Autorin wirft keine Kamellen ins Wasser, sie weist mit ihren Unscharfstellungen auch nicht nur auf nicht (mehr) vorhandene Vergangenheiten, sondern von hier aus in die Zukunft: „Streumen“ ist in sich selbst bereits die Andeutung einer Zukunft, des Findens eines noch eigeneren Tons, die Präzisierung eines Gefühls für eine Leerstelle. In dieser Hinsicht handelt es sich um gute Gedichte.

Crauss, titelmagazin.com, 23.12.2007

„geht am himmel ein blinder über das jahr,

bin ich unten zu hause und lange allein“

Zwei weiße Balken kreuzen sich auf dem karierten Schutzumschlag, verraten Titel und Gattung: Streumen, Gedichte. Zu beiden steht die Autorin im rechten Winkel. Quere fällt mir ein zu ihr, in die sie mir kam an manchen Straßenkreuz- und -querungen, eine stille augen::post hinterlassend im Getöse dieser Stadt, die sich benehme, als wäre sie von Welt, und beanspruche, mindestens groß zu sein. Verse haben sie, Ulrike Almut Sandig, und Marlen Pelny in den öffentlichen Raum geleimt an Flächen, die für DIN A3 genug Größe besaßen: Laternenpfahle, Verteilerkästen, … – durch die Stadt kreuz und quer zum üblichen Vertrieb von Lyrik aus dem Bewusstsein der Vielen.
Quer auch laufen die Gedichtzeilen übers Papier in Sandigs erstem Band Zunder, im nun zweiten noch ein paar wenige. Streumen, das ist „ein guter Ort, aber der Aufenthaltsort des Glücks liegt von hier aus gesehen immer im Süden“, wohin oder auch wovon – beides findet(, ) ausgesprochen(, ) Anklang – die Sehnsucht einen streumen lässt. Es ist vielerorts und in, jedenfalls nicht gleichgültiger, Erinnerung, was immer einen auch von hier ver- oder aus der Ferne angetrieben haben mag, es hinter sich zu lassen. Fahrrad, Moped ziehen weitere Kreise, aber noch im Erinnern – ganz gleich, von welchem Standpunkt – werden die Radien von hier aus gemessen: „an genau dieser stelle versickert das glück“. Tische und Stühle heute erinnern vielleicht an die von damals, an die Geschichten der Alten – sie „sitzen auf tischen im dunkel, wenn wind / sich auflädt, und zählen die zeit zwischen donner und blitz“ –, an Hühnergötter und die Sehnsucht in kyrillischer Schrift nach Fremde oder Heimat, je nachdem, an „die versessenen gesten der trauerweiden“, die an quer zur Straße heruntergelassenen Schranken verlorene Zeit, an dich, „mein käptn!“, bevor ein lyrisches Ich an einem Februartag sterben und an keine – „immer diese traurigen, traurigen“ – Gedichte mehr denken wird; oder doch lieber Hund sein als tot, Eisbär, Kugelblitz, Mond über Soho sein, lieber jedenfalls, als von ihm zu singen, wie Wenzel es tut?
Sandig schreibt, in Streumen stammen die Vögel von Fabelwesen ab und werden entsprechend behandelt, aber sie begibt sich auch auf die Suche nach dem Fabelhaften des Ortes selbst sowie der Streumenden und wird fündig. Es sind die immer gleichen Geschichten – nicht nur hier, denn: „In Streumen ist es wie überall.“ – und ihre eigenen darüber, wie sie erzählt werden, ihre aber eben nicht als wider-authentische Wiederholung irgendwo außerhalb dieses Ortes – sie kann sie nur für sich wiederholen im Erinnern –, sondern indem sie ihnen (und uns) etwas von sich (preis) gibt in Form ihrer Gedichte oder Rätsel, die sie uns aufgibt, vor deren Lösung wir stehen – bleiben. Es gibt immer wieder Gelegenheiten, ihr und den Streumenden zu begegnen und nicht erst vor der Haustür. Wir – ich komme aus einem Streumen mit anderem Namen – haben und verstehen eine Ahnung von den Dingen, über die Sandig schreibt – ja, nach dem ersten Donner und vor dem zweiten wurde das Essbesteck fallen gelassen, denn es könnte gefährlich sein, und der Koffer, „darin sind: gespartes in folie, der goldschmuck von mutter, drei fotos, zwei briefe, der pass“, geschnappt – noch immer auch Reflex auf Donnern, das nicht vom Wetter herrühren könnte – und mit sich selbst in Sicherheit gebracht oder was man dafür hielt -, aber sie lassen sich nicht wirklich (be)greifen. So bleibt jedes (Er)Leben ein, ich nenne es so, Vagnis, ganz egal wo, woher, wohin oder wovon wir streumen. Es wird also nicht klarer mit den Gedichten von Ulrike Almut Sandig, aber wir teilen etwas mit ihnen, mit ihr.

Eyk Henze, Ostragehege, Heft 51, 2008

Ulrike A. Sandig im Gespräch mit Andreas Heidtmann: Die Grenze von „Streumen“ ist meine eigene Sprachgrenze

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Andreas Hutt: Do it like Kafka
literaturkritik.de, August 2008

 

Es muss Funkkontakt bestehen

– Dichterleben. Ob Plagwitz oder Zentrum-Nord: Leipzigs junge Lyriker bilden keine Szene oder Schule, sondern dichten an vielen Orten. Fünf Porträts und 21 Gedichte. –

Eines der größten Probleme Leipzigs liegt knapp 200 Kilometer entfernt: Berlin. Dabei hat die Stadt der bundesdeutschen Hauptstadt durchaus etwas entgegenzusetzen und zwar ausgerechnet auf deren Hoheitsgebiet der Schönen Künste. Zum einen erblüht in Leipzig die klassische Musik in einer Üppigkeit, die dem Protestantismus ansonsten eher fremd ist. Zum anderen hat die zeitgenössische Malerei nicht zufällig hier Schule und dann auf der Welt das große Geld gemacht. Auch in Sachen Literatur besteht kein Anlass zur Bescheidenheit: In jedem Frühjahr verzeichnet das als Buchmesse getarnte Literaturfestival neue Rekorde. Zudem zeugen mehrere kleine Verlage und feine Zeitschriften von publizistischem Wagemut. Auch das Deutsche Literaturinstitut wäre nirgends besser aufgehoben als im Leipziger Musikerviertel zwischen Kunsthochschule und US-Konsulat.
Doch da ist noch etwas anderes, wodurch diese Stadt auf der literarischen Landkarte hervorsticht: Hier leben erstaunlich viele Dichter. Ja, ausgerechnet die Lyrik, diese vielleicht heikelste Gattung, hat sich in dem Biotop aus literarischer Infrastruktur, geringen Lebenskosten und städtebaulicher Unfertigkeit bestens eingerichtet. Was auch andernorts nicht unbemerkt bleibt: Gerade sorgt eine Leipziger Poetengeneration von Anfang- bis Mitte-Dreißig-Jährigen bei einschlägigen Gelegenheiten für Aufsehen und -hören. Und das, ohne eine eigene Szene darzustellen; es gibt keine festen Orte oder regelmäßigen Treffen, obwohl die meisten mit dem Deutschen Literaturinstitut ein gemeinsames Nadelöhr haben. Am besten also, man besucht die Dichter da, wo sie arbeiten: zu Hause.

Aussehen wie es klingt 

Ulrike Almut Sandig wohnt in einer Dachwohnung mit Tieren: Ein Okapi steht unsicher auf der Fensterbank, auf dem Rand der Badewanne liegt ein Blauwal, ein Bär starrt melancholisch aufs Bücherregal. Sandigs jüngstes Buch heißt Flamingos, es enthält Kurzgeschichten, in den vergangenen Tagen hat sie in verschiedenen Städten daraus vorgelesen. Im sonnigen Wohnzimmer ist es zu heiß, wir setzen uns in die Küche, durch das Fenster weht eine Sommerbrise Pappelflusen herein. „Vom Bücherverkauf allein kann man natürlich nicht leben“, sagt Sandig, die von allen Leipziger Lyrikern die meisten Bücher verkauft, „aber das finde ich nicht so schlimm. Die Bühnenarbeit ist mir mindestens genau so wichtig. Und wenn man das gerne macht und das Publikum merkt, dass man das gerne macht, dann kann man schon davon leben.“
Sie zupft sich eine Pappelfluse aus dem kurzen schwarzen Haar und lehnt sich wieder zurück.

Was ich schreibe ist nichts, das primär auf Papier gedruckt ist. Ich will es vortragen und, wenn es der Text erfordert, singe ich schon mal ein Kinderlied. Ohne jetzt albern zu werden. Hoffentlich.

Ulrike Almut Sandig lacht viel und man spürt, dass sie sich die Gelassenheit leisten kann.

Die meisten verlangen zuviel von ihren Lesern. Seien wir doch mal ehrlich: Wenn man von einem harten Arbeitstag nach Hause kommt, setzt man sich nicht hin um experimentelle Lyrik zu lesen.

Sandig hat für ihr Alter bereits erstaunlich viel gewonnen. Und geschrieben: Im nächsten Frühjahr erscheint nach Hörspielen und Prosaarbeiten wieder ein Lyrikband, ihr dritter, Dickicht. Was gibt es da noch für Ziele?

Am liebsten schreibe ich Gedichte, die sowohl visuell als auch akustisch funktionieren. Aber mein Traum wäre es: Einmal ein Gedicht zu machen, das genauso aussieht, wie es klingt. 

Jörn Dege, der Freitag, 25.8.2010

Alles , was du und ich kennen

– Anstelle einer Analyse von Ulrike Almut Sandigs Gedichten. –

KEINE AHNUNG. Die Gedichte, die mir mit dem schmalen Band Streumen und dem Manuskript zu dieser Lagebesprechung vorliegen, rühren an etwas, das ich gut kenne, von dem ich aber zunächst nicht weiß, was es ist. Ich habe keine Ahnung, warum und wie sie das tun; aber ich weiß, dass sie es gründlich tun. – Zugegeben, das ist ein bisschen dürftig und unkonkret. Und doch vielleicht der beste Grund, gerade diese Gedichte zum Gegenstand der vierten und letzten Lagebesprechung zu machen, die mir noch zu schreiben bleibt, ehe mein einjähriges Gastspiel als Lagebesprecher in dieser schönen Zeitschrift endet. Wäre ich Germanist, so könnte ich jetzt mein textanalytisches Sezierbesteck auspacken und damit Sandigs Gedichten und meiner eigenen Ahnungslosigkeit mittels professioneller Vivisektion zu Leibe rücken. So aber bleibt es dabei: Ich spreche über etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist. Nebenbei lese ich, einer Assoziation folgend, in Wikipedia nach, wie einst die Suche der Anatomen nach dem Seelenorgan erfolglos blieb. So habe ich wenigstens darüber etwas gelernt. Und fühle mich irgendwie bestätigt.
GENAUIGKEIT. Als Widerpart zu dem etwas spekulativen Textanfang dieser Nichtanalyse bringe ich die frappierende Genauigkeit ins Spiel, mit der Sandigs Gedichte gearbeitet sind. Jede Klangfarbe, jede Assonanz, jedes kleine Stocken im metrischen Fluss, auch jedes inhaltliche Requisit scheint hier mit unendlicher Sorgfalt erarbeitet – oder aber mit schlafwandlerischer Sicherheit ausgewählt aus der Unzahl der Möglichkeiten. Oder beides, wahrscheinlich trifft ja beides zu. Jedenfalls hat diese Genauigkeit etwas Seismographisches. Und was zunächst eine beachtliche Leistung der Autorin ist, das begegnet dann dem Leser als erstaunliche Eigenschaft des Gedichts. Denn das Gedicht selbst steht nun da als jener Seismograph, der in feinen Schwingungen aufzeichnet, wovon es erzählt. Ein Zeiger, der gerade einmal Schriftdicke hat, zittert sich an den Skalen der Dinge entlang: an ihrem Hellsein oder Dunkelsein, an ihrer Gegenwart oder Abwesenheit, an ihrer Rauigkeit, ihrer Temperatur und so weiter.
TEXTGESTALTEN. Sandigs Gedichte scheinen mir eine organisch gewachsene Oberfläche, eine Haut zu besitzen, die der Wahrnehmung der Welt, der ihr entgegengebrachten Berührbarkeit ebenso dient wie dem Schutz vor ihr und vor der möglichen Gefahr, ihrer verlustig zu gehen. Diese Haut bestimmt den klaren Umriss des Gedichts, seine physische Erscheinung, die gleichsam haptisch erfahrbar wird für das Auge, das sich lesend auf die Berührung einlässt. Die Textgestalt braucht gar nicht so augenfällig zu sein wie bei jenem eingangs abgedruckten Pfeilgedicht. Meist genügt ein kantiger, abgeschrägter oder gerundeter Textblock, rechts- oder linksbündig gesetzt, mitunter ergänzt durch eine das Textinnere durchziehende Verwerfungslinie, um den Eindruck eines notwendigen, stimmigen, gar nicht anders möglichen Textorganismus zu vermitteln. Mit den vergleichsweise platten Spielereien einer visuellen Poesie hat das nichts zu tun; die Gestalt des Gedichts ist vielmehr die Folge daraus, dass auch jedes einzelne Wort bei Sandig wesentlicher und gestalthafter ist, als man es von einem Stückchen geschwärzten Papiers gemeinhin erwartet, dass es alles verkörpert, was wir unter diesem und jenem Begriff kennen, alles, was genau dieser einen Verkörperung bedarf, um gesagt, erzählt, mitgeteilt zu sein.
VERANTWORTUNG. „Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt“, schrieb Martin Buber in seinem Traktat vom dialogischen Leben. So fern es Sandigs Versen liegt, zu moralisieren oder einzufordern, führen sie doch gründlicher und eindringlicher als jedes erklärt politische oder moralische Gedicht jene fein gezeichneten Grundmuster menschlicher Qualität und Weltverantwortung vor Augen, die unter der täglichen Flut derber, ungenauer, liebloser Informationen in der Regel verschüttet und aus dem Blick genommen bleiben; sie rühren damit an das ureigenste Bedürfnis des Lesers, der Leserin, es diesen Versen gleichzutun, ihnen nicht nachzustehen in puncto Sorgfalt und Innigkeit im Umgang mit der Welt und sich selbst. Daher also dieses Dejavu-Gefühl, von dem eingangs die Rede war. Im Sinne Adalbert Stifters, der meinte, Liebe sei die höchste Poesie, strahlen Ulrike Almut Sandigs Gedichte enorm viel Liebe aus – Liebe zur Welt, zu den Menschen, Tieren und Dingen, Liebe zum eigenen Leben in seinen Gegebenheiten und Möglichkeiten. Und das gehört wohl zum Besten, was man Gedichten nachsagen kann.

Helwig Brunner, Ostragehege, Heft 54, 2009

Laudatio auf Ulrike A. Sandig

zur Verleihung des Lessingförderpreises

am 17. Januar 2009 in Kamenz

Was will man, wenn man heute Gedichte schreibt? Gewiss, da sucht jeder etwas anderes. Und steht doch, in diesem Heute, im Medienrauschen, zwischen Bildern aus aller Welt, wo so vieles Krieg sagt oder bedeutet, wo wir systemisch denken, bis Systeme zusammenbrechen, Konstruktionen wie Wetten auf Geld im dritten oder vierten Grad, die an der menschlichen Psyche hängen, an unseren Wünschen, Träumen und unserer Angst.
Streumen heißt Ulrike A. Sandigs 2007 erschienener zweiter Gedichtband. Der Titel klingt wider von Träumen, Streunen und Streuen. Wirft Träume aus, fordert zum Streunen auf. Sie streuen jemanden, der lesend selbst zum Streuner wird. Einer, der sich bewegt, ohne immer schon zu wissen, wohin. Der die Augen aufreißt, nachts und tags.
Streumen, sagt der Gedichtband, „ist ein guter Ort, aber der Aufenthaltsort des Glücks liegt von hier aus gesehen immer im Süden. […] Streumen ist ein beweglicher Ort. Streumen ist eine unsichere Tätigkeit seiner Bewohner. Unsicher ist auch die Anzahl der Streumenden. Es handelt sich um uns. Wir streumen vor lauter Sehnsucht. Aber Streumen ist hier.“
Streumen. Neologismen nennt die Bildungssprache Wörter dieser Art. Sandig erfindet manche für uns, nie sind sie aufgeregt. Streumen wird, liest man Sandig, zum Ort des inneren Auges des Lesers. So ist es selbst ein Gedicht – und dieses „es“ meint sowohl das Streumen wie das Auge. Denn Gedichte stehen nie auf Papier. Was wir dort sehen, sieht nur aus wie ein Gedicht. Das wirkliche Gedicht steht in uns. Es entsteht, indem wir lesen, was wir auf der Seite finden – indem wir zu seinem Aufenthaltsort werden. Uns öffnen und orten.
Sandigs Gedichte setzen uns in Bewegung. Auf einer fast im alltäglichen Satzmuster gebauten Fläche lassen sie uns hineingleiten in eine Welt der allmählichen Verrückung, des Halbtraums, der Fiktion. Alles ist möglich: man fliegt. Ist ein Hund. Wird ein Gesicht und sucht es doch. So hört und sieht man sich ein. Diese Gedichte mit ihren oft in den Textkörper eingewanderten fettgedruckten Worten, betonten Worten, geben Laut. Sie erinnern uns an unsere Sehnsucht nach allem, was sich bewegt, nicht festgeschrieben ist. Auch dies ist eine Antwort auf die Frage: was wollen Gedichte, was können sie heute sein?
Ton. Betonung. Ohrenwelt.
Mit Auge und Ohr kommen wir nach dem Streunen zum Träumen. Auf ganz eigene Weise ist es mit diesen beiden Sinnen verbunden. Träumt man, sieht das Auge nur die Welt des Traums. Das Ohr hingegen gehört in beide Reiche. Es hört im Traum und nimmt zugleich wahr, was vor dem eigenen Kopf geschieht. Während das Bewusstsein sich vergisst und in einer anderen Welt wiedererfindet, sortiert das Ohr seine Doppelungen. Von einem lauten Geräusch in der Umgebungswirklichkeit wachen wir auf. Manchmal erwachen wir aber auch von Lärm im Traum. Dann hat das Ohr die Grenze verwechselt. Der Funke des Schreckens oder der Freude flog.
Sieht man mit Sandigs Gedichten Träume auf diese Weise an und entdeckt, wie das Ohr zwischen ihnen und der Außenwelt vermittelt, entdeckt wie es, anders als das Auge, Berührung erlaubt und fordert, versteht man sofort etwas vom Dichten. Das Bewusstsein entspannen – schwingen an Fügungen wie „diese sage geht ihren eigenen pfad“, „die von anfang an erratene anzahl dieser körper“ oder einem einzelnen Wort: „plumpsack“. Die Beine heben vom alltäglichen Boden für einen anderen Grund.


aaaaaaaaaaaaaaaaweißer als sonst
gegen abend, durchschnitten den hof kleine
tiere im flug und der staub lag am glas und
ein kind war sehr still und etwas, das einfiel
im schlag, das heiß war im grund und sich
dunkelte, aufschlug, ein kind riss die augen

(streumen)

Man könnte, um Dichter zu unterscheiden, von Gestik sprechen. Gestik: wie jemand durch und mit Sprache Welt erzeugt. Wie der Verknüpfung nachgeht von Wirklichkeit, Subjekt und Laut. Sandigs Geste hieße „benennen und suchen“, in eben dieser, scheinbar unlogischen Reihenfolge.
Den Namen setzen: fett. Den Ton geben: entschieden. Umbrechen, erneut suchen, sich aufmachen. Die Syntax gleiten lassen, die Dinge. Sie verketten: mit „und“, Komma eins, Komma zwei. Tier sein im Flug, die Grenzen sind weich. Zeichen zeigen und erzeugen. Rhythmisierung der Sprache, suchend, durch Satzbau, der benennt. Dazu semantische Schiebungen und bezirzende Kräfte des Ohrenreichs. Etwa jene der verwandten Buchstaben „l“, „w“ und „u“

aaaaaund was wir nur haben im luftarmen morgen, uns
hochschrecken
aaaaalässt vom lärm auf der straße, die schwüle des mit-
tags, geschrei
aaaaavon irgendwoher. und dass wir uns drehen im licht in
den laken
aaaaaim halbtraum, nicht wagen zu zeigen, wer wach ist,
wer blickt
aaaaaund wer durst hat, und dass wir einander die rücken
zukehren
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund still sind und atmen uns ab

(streumen)

Im Licht in den Laken. Man träumt Gedichte nicht einfach und schreibt sie dann auf. Sie nehmen nur etwas von der Gestalt von Träumen an: die Erweichung der normalen Filterung, der Ein- und Ausblendungen, die wir manchmal „Wirklichkeit“ nennen, und manchmal „wir“.

brandenburg
alle wege hierher waren zügig und blau.
vor rehen wurde auf schildern gewarnt;
das grünen der bäume fiel in die augen,
jedes tier in den ästen hielt sich sichtbar
und still. in richtung der fliehenden kronen
warfen wir unsre köpfe zurück, in scharen
flogen knospen im licht, die stämme waren
mit gleißender farbe markiert, hinter den
kurven die kreuze. NATUR sei wurfziel
der jungen von hier, sag ich dir. vergiss
mein nicht, gibst du mir zurück, erinnerst
du dich an die kronen im anderen jahr, an
unseren laufschritt, das tosen der blätter,
die brandung am kieswerk, die bagger,
den see

(streumen)

In den Pronomen kulminiert Sandigs „benennen und suchen“. Stets fasst ihr „wir“ eine wirkliche Mehr-Zahl – es ist eine einbezügliche Geste. So steht es im Gedicht und außerhalb, meint den Leser mit. Über die Grenze der Textwelt springt es ohne Aufhebens hinweg, leise und dadurch effektiv. Manchmal spaltet es sich auf in ein Ich und Du, ein Gespräch im Gedicht. Das, zu seinem Ende, nirgends hin will. Aufhört, aufhorcht bei einem Ding, einen Aufschwung nimmt, einen Lauf – hinaus auf den See. Als spreche Puck, der Geist aus Shakespeares Midsummer Night’s Dream:

I we shadows have offended
Think but this and all is mended,
That you have but slumber’d here
While these visions did appear.

Oxforder Collegegarten: Rasen, Büsche, kleiner See, rosalilafarbene Dämmerung. Puck sprach die letzten Worte des Dramas, lief Richtung Ufer davon, erreichte es, lief weiter in die Dämmerung hinein, lief auf dem See, bis wir ihn nicht mehr sahen.
Sandigs Gedichte können dies ebenfalls, in Kürze, ohne Zierart. Man beginnt, tiefer auf Grund zu gehen, als sei dies normal, auch wenn man merkt, dass alles sich verschiebt auf ein Ufer zu. Das Wasser spiegelt und verwandelt sich im Auge. Als wäre man selbst von außen bei sich, wäre als „du“ ein Äußeres im Inneren, das spricht, aber wie wollte dieses Ich sich anders ansehen als über ein Du, das, wenn es auf seinen Körper von innen schaute, also sich sähe, nichts sähe als das sprechende Ich?
Streumen. Gemalt wie zwei Hände, die sich gegenseitig zeichnen. Sich selbst-verständlich als Plural und Einzelnes, als Zeichen, das treibt, aber ohne Zersplitterung, „nur“ im Gestus der Frage, die verharrt und Stille erzeugt. Bis man taucht, über Innenraum, nach unten sinkt und zugleich einen Schatten nach oben wirft, aus Sprache, zu uns.
Liebe Ulrike Sandig: ich wünsche Ihnen und uns weiterhin solche Orte. Orte, die Bewegung sind und in unseren Sehnsüchten liegen. Herzlichen Glückwunsch zum Lessing-Förderpreis 2009.

Ulrike Draesner, Ostragehege, Heft 53, 2009

 

Dankwort zur Verleihung des Lessingförderpreises

am 17. Januar 2009 in Kamenz

Sehr geehrte Damen und Herren,

jetzt sitzen Sie hier so vor mir. Sie sind sehr viele und ich bin hier vorne allein und habe noch nicht mal einen richtigen Beruf. Ich habe eher eine sonderbare Angewohnheit als einen Beruf, eine Macke, eine Meise, eine Mischung aus Kommunikationsschwäche und Mitteilungsbedürfnis, ein Mittelding zwischen Angriffslust und Fluchtverhalten und außerdem einen sonderbaren Spaß an allem, was sich aussprechen lässt. Diese Rede lässt sich auch aussprechen – trotzdem stehe ich einigermaßen hilflos vor Ihnen. Das liegt daran, dass ich mit ihr einen Zweck verfolge: Ich will mich für die Ehre, in diesem Jahr mit einem der beiden Förderpreise zum Lessingpreis dieses Freistaates ausgezeichnet zu werden, bedanken. Danke sagen fällt schwer und klingt steif und konform, geben Sie’s schon zu! Gedichte fallen mir leichter, weil ich in ihnen keinen Zweck verfolge. Gedichte sind die Störfelder unserer Wahrnehmung, sie erfüllen dann ihren Zweck, wenn sie gar keinen verfolgen. Das ist paradox, aber das Gedichte schreiben ist es sowieso: Wenn ich schreibe, bin ich allein. Das Publikum gibt es noch nicht. Allerdings gibt es mich, die sich gar nicht so sehr vom Publikum unterscheidet, wie das Publikum es gern hätte. Ich schreibe Gedichte, um mit dem, was mich umtreibt, nicht allein zu sein. Ich setze Zeichen von mir. Ich setze mich an den Tisch, der die Sprache ist und über den hinweg wir, Sie und Ihr und ich, über den hinweg wir einander ansehen, so ähnlich hat es Ulrike Draesner mal ausgedrückt, ich setze mich also mit Ihnen zusammen an einen Tisch und teile mit Ihnen, was mich umtreibt. Denn Sie und ich, wir sind uns ja ähnlich, wenn es darum geht, was uns erbost, was uns belustigt, was uns beglückt und was uns verstört. Möglicherweise am stärksten verstört Sie und mich dieses letzte Alleinsein, in dem wir erst alle, die uns gleichgültig sind, dann unsere Liebsten und am Ende auch noch uns selbst verlieren werden. Dass uns die Begrenzung, die wir alle teilen, erst recht einsam macht, ist wieder paradox. Aber immerhin ist das Gedicht mein Analogiezauber gegen das letzte, das große Alleinsein. Und vielleicht wirkt gerade das auch bei Ihnen. Denn Sie sind ja wie ich, und wenn ich von mir spreche, spreche ich eigentlich von Ihnen. Ich spreche mich aus, treffe aber, hoffentlich: Sie. Aber stopp, was rede ich hier von Gedichten, darum geht es gar nicht. Es geht um Texte, die die Fähigkeit haben sollen, die Grenzen Ihrer und meiner eigenen Persönlichkeit aufzulösen, indem sie genau diese Grenzen benennen. Es geht um Texte, die das Alleinsein verkleinern. Es geht um Texte, die mitteilen, was mitgeteilt werden muss. Es geht um mehr als das eigene Leben. Es geht um mehr als um Sprache. Es geht um Haltung. Ein Text, der sich in meiner eigenen Verstörung verstrickt, kann keine Haltung beweisen. Haltung beweisen können Romane, Hörspiele, Erzählungen, Artikel, aber eben auch Gedichte. Nein, das Gedicht ist nicht die anspruchsvollste Form der Literatur. Das Gedicht ist nur besonders alt, besonders kurz, besonders vertrackt und besonders eitel. Für die Rückendeckung, die man braucht, wenn man sonderbarerweise trotzdem Gedichte schreibt, danke ich meinen Eltern Heiner und Almut Sandig mit meiner ganzen Tochterliebe. Für den Wahnwitz, Gedichte auch zu veröffentlichen, damit sie ihren Zweck überhaupt erfüllen können, danke ich meinem Verleger Peter Hinke und seiner Lebensgefährtin Frauke Hampel. Für seine eigenen Gedichte, die er mir in der Endphase meines zweiten Buches zugemailt hat und in denen er mir die Leviten las, danke ich meinem Lektor Thomas Kunst. Und für die geschenkte Zeit, denn Zeit ist Geld, für die Zeit, weiter den Kopf über die Tastatur zu hängen, auf der Suche nach eigenen und fremden Texten, seien es Gedichte oder was auch immer sich aussprechen lässt – auf jeden Fall aber auf der Suche nach Texten, die gerade stehen für eine Form des Zusammenlebens, des sich gegenseitig Erinnerns, des Teilens und der Einforderung von Rückgrat, für diese Zeit und diese Ehre danke ich dem Freistaat Sachsen.

Ulrike Almut Sandig, Ostragehege, Heft 53, 2009

 

 

ULRIKE ALMUT SANDIG

Flammen Ingo
Waldpraxis

mittags fiel der wolf um,
panik ergriff ihn,
er ging in die
waldklinik.

Peter Wawerzinek

 

 

 

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Ulrike Almut Sandig – Ein Porträt.

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