− Zu Dorothea Grünzweigs Gedicht „vom finden und verlieren“ aus Dorothea Grünzweig: Die Auflösung. −
DOROTHEA GRÜNZWEIG
gedicht vom finden und verlieren
es ist genau ein jahr her dass der kater kam
er passte gerade in die kuhle der hand
und jetzt ist wieder sommerende
der kater ist seit einer woche weg wir suchen ihn
am rand der dunkelheit des herbsts entlang an jedem abend
sein fell hat solche spuren hinterlassen dass unsere haut
fellplatten zeigt fellinseln wie wenn wir
in ein anderes sein hinüberwüchsen
im letzten jahr ist diese liebe
so über busch und baum gewachsen
hat den verstand die blöße des verstands bedeckt
auch bei dem älteren kater wuchs die liebe
dass eine totenstille eingetreten ist sie lauert auf
packt bei den ohren es hilft nicht viel wenn wir uns
hinter schloss und riegel bringen
die totenstille trommelt mit den fäusten an die wände
wir warten auf miauen auf anrufe von nachbarn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie uns melden
das tier schlich durch die scheune oder
ein kater ist das eurer hockt im hof
der ältere kater flieht und was er schon ein jahr
nur schleppend tat weil er die nähe mehr genoss
von seinesgleichen jagt jetzt verbissen und füllt
das loch der einsamkeit mit maulwürfen und mäusen
wir trugen am anfang im wechsel den kater auf der brust
machten aus hemden jacken sänften
wir stillten ihn mit unseren fingerspitzen
spiegelten uns in ihm und wogen uns wir waren leicht
die fellinseln traten hervor die wir auch augen nennen
und wenn der mond seine fülle zeigte fingen sie an
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu glänzen
wir suchen den kater wir werden von bildern gescheucht
eindrücken auf bauch und brust
tatzen die einen saugtanz auf uns vollführen
apfelbäume mit tigerästen
schlafflausch in koffern in waschmaschinen
wie wenig wir bereit sind
wir hatten von weither und immer wieder
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavon vergänglichkeit geredet
vom willen mit einem verlust andere kommende einzuüben
der wendet sich zu trotziger verzweiflung
wir sehen den kater in silos stürzen und bei lebendigem leib
wir sehen den strom nach ihm schnellen
wir sehen ihn erstarren vor einem fuchs
es ist die angst die so abholde haltung zum verlust
die das gefährdete als schlussstein definiert von
dem das leben überdomenden gewölbe
DER WALD IST rufwald watwald
wir klopfen an häuser und hütten
wir hören von streunenden füchsen marderhunden iltissen
von abgetauchten katzen die später wieder
auf bäumen gefunden wurden und die gesichter der eltern
bei rettungsversuchen zerkratzen
aaaaaaaaaaaaaaakatzen denen untreue köpfe wachsen
die lieber in der wildnis vor die füchse gehen
wir hören von katzenkadavern bei häusern
von habichten die in die höfe stoßen und armlängen
von den bauern entfernt hühner fasanen fassen
vjell dreht sich gegen die wand
ich presse den kopf zwischen vjells schulterblätter
wieder tröstet sein schulterlaub
aber die heulhürde nehme ich nicht
solch ein druck an der stirn hinter ihr bilder
ich sehe das baumgrün
die mascara umrandung der kateraugen
wie er auf die hand in die handkrippe gebett war
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf seinen rücken
und verblüfft und prüfend seine lider hob
wenn wir den namen uljas sagten uljaskulta uljakseni
die bauchblässe die überkreuzten tatzen
die zerbrechliche andacht des schlafs
weckten den wunsch vor dem tier niederzuknien
die dinge merken auf ihren namen sie dösen
und sind nach innen gewandt
hören sie dass man sie ruft fangen sie an zu schnurren
sie öffnen die laubgrünen augen
es ist eine einladung in ihre nähe zu dürfen
sie haben uns in den blick genommen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahaben uns erkannt
weil wir es schafften ihren namen zu wissen
ja wir hatten den eindruck der kater
wenn er aufsah durchschaute uns fand uns leicht
und verlässlich durch unsere namenskundigkeit
und sorglos in den schlaf zu nehmen
dort im beschirmten beschloss er
auch weiter und immer bei uns zu leben
wie auch die dinge wenn wir ihre namen sagen
uns als würdig bezeichnen ihren bauch zu kraulen
das gesicht in sie zu drücken
bei dem kater konnte man die freude spüren
gähnen räkeln pfotenlecken
wir waren in seinen augen namenskünstler
UNS SUCHT DAS wort verschollen heim
es bricht den boden auf die harten schollen
wie die fliegenpilze sich durch das erdreich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaameißeln im garten
hoffnung ein see der langsam verlandet
die ufer kriechen aufeinander zu
wenig übrig bleibt von der hoffnung er komme zurück
er stehe einfach am morgen im hof
springe wie wenn nichts gewesen wär über sechs tage
mache einen satz über die zeit
wir lassen den wörtern freien lauf
sie rennen auseinander ballen sich zusammen
und wir verwechseln
kater mit vater und durch vater kommen wir auf
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamutter und auf kind
kater kind mutter vater und kommen auf geschwister
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf finden und verlieren
die wörter greifen ineinander sie holen aus
oft ist das suchbild ausgetauscht
die von den wörtern mitgezogenen geschehnisse
wir denken an sätze über die zeit all derer
die uns verlassen die wir verloren haben
wir schleifen jahr um jahr den schmerz mit uns herum
da fliegen sie wenn wir den gartenweg träumend
heraufschlendern plötzlich zum fenster
da schweben sie plötzlich auf spielplatzschaukeln
da treten sie lichtüberströmt grad aus dem sommercafé
und rufen und winken sind ganz die alten oder
wir treffen sie im aufzug eines wolkenkratzers
beiläufig erklären sie wo sie grad waren
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund es erweist sich
ihr weggang war eine arbeitsreise schlichter ausflug
oder der sarg war keiner gewesen
nur eine friedliche dem leben dienende genesungslade
wir schnüren die schuhe gleich wird die suche beginnen
wir rufen den namen
hat das tier ihn schon verworfen
sind wir im besitz der falschen schlüssel
untaugliche namen die uns im stich lassen
hinter denen leere liegt wie bei wertlosen worthaufen
wie bei gedichten die uns gar nichts öffnen
EIN TRAUM ERSCHIEN der sich mit bildern
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeiner sommerreise speiste
ein traum um das verlorene tier
als wir auf einer anhöhe jene kapelle der romantik
genährt von einer linde fanden
deren stamm so aufgefächert war in weiche zweige
dass das gebilde an die kirchwand reichend
einem euter mit zitzen glich
am chorturm die erkerapside trug figuren aus
einem stein gehauen mit dem tragenden gesims
mischwesen halb mensch halb tier
aaaaaaaaaaaaaaaaaamenschfische menschbären
es waren uns die figuren durchs mark gefahren
wir spürten es müsse sich nicht nur um abwehrfiguren
sondern auch um das wissen handeln
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawoher der mensch komme
das fell der schuppenanzug unter seiner haut
am dritten tag hing eine weitere figur an der apside
es war ein durchscheinender traum ich wusste
dass ich träumte dass so der traum etwas bewege
und sah die einen menschen aus dem bauch
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahievende katze
das tier hatte menschliche arme brust und kopf aber
der rest war der kater die wildkatzenmaßerung
auf rücken und gesäß schwanzbusch und
weiße pfotenkappen nicht zu verwechseln
auch falls der kater heimkommt soll die gestalt im
traum ein zeichen sein von dem verlorenen tier
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain uns
zeichen wie nach geburten eingepflanzte
namensbäume damit sich
baum- und menschenleben ineinanderzweigen
gut ists das tier in einem bild zu sehen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabewahrt in stein
in seinsklang gekommen mit einem menschen und
schützend bei dem zwitterwesen baum und kapelle
gut ists verschollene wörter wiederzufinden
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain neuer nachbarschaft
vereint zu sein mit ihnen in einem übers land
von einem aussichtshügel schauenden
aaaaaaaaaaaaaaaaauns überraschenden gedicht
HEUTE RÜCKEN DIE mähdrescher an
heuschrecken die talsohle kahlfressend
ein kadaver wird vielleicht freigelegt oder
schläft das tier noch in dem wiegenden getreide
oder ist von einem schlangenbiss gelähmt
doch gepackt vom heilschlaf beim schlawittchen
und könnte übersehen werden
am abend wird der wald jenseits des tals durchkämmt
den namen stopfen wir in rauen mengen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain die schultertasche
die bauern fragten ob das tier auf seinen namen hört
wir werden jedem eine handvoll geben
jederzeit können wir auf den kater stoßen
auf das tote oder sterbende tier
wir rufen den namen wir stellen fressnäpfe hin
wir wachen auf in den verlust das eine mal mit
grünen liedfetzen das andere mal mit welken
VJELL UND ICH schaun bilder an vom mittelalter
wo ein mensch sie sagen hier den tod verübt
es fährt die seele ihm als däumling aus dem mund
wir stelln uns vor dass bei der ausleibung
der seele einer katze ein fellwisch hinauswitscht
aaaaaaaaaaaaaaaaaazwischen den zähnen
und tarnfarben in baumhöhlen in felsspalten haust
heute warten wir
die vermisstenmeldung liegt in den briefkästen
es ist später morgen die zeit
aaaaaaaaaaaaawenn die bauern ihre post holen
in den wäldern hängen die namen und schellen fort
vom verlorenen verschollenen und
langsam werden sie zu uljasflechten
am tag kein anruf die totenstille drückt herein
packt unseren kopf und rüttelt ihn
äugt in die leere unsrer ohren und ist zufrieden
DIE LAUTE SIND zurückgekehrt
das wort schall warf sich aufs wort verschollen
das machte eine demutsgebärde trollte sich
ich stand an der spüle dachte an all das elende
schwunglose spülen der nächsten wochen
warf blicke zum garten zum apfelbaum
blicke zu den ästen ohne teure last
sagte uljas vor mich hin uljaskulta tule takaisin
wie schon die ganze vergangene woche
da werden meine waden angerührt
ein kitzeln von spinnweben oder streifenden fliegen
ich merke es kaum dann ein scharfes miauen
das in die waden pickt ein fellwisch
erst mein ich es ist ein durch die welt geisterndes
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaades katers seelchen
wie oft haben wir das wort kater mit vater verwechselt
es sind geschichten von verlust von angst zu verlieren
und von vater kamen wir auf kind und mutter
kamen auf geschwister und auf finden
und die worte sprangen weiter brachten einen
schwall von bildern der uns überschwemmte
die seele des katers in der dämmrigen küche
aber als ich danach und sie mir entschlüpft
und ich wieder danach greife
und sie fassen kann ist sie ganz fest
nur furchtbar mager und ich heb sie schließ die augen
und öffne sie wieder da weiß ich renn zu vjell
es ist der kater in die obere kammer
setz das tier auf den boden
vjell beugt die knie sagt nichts lacht nicht
mit seinem hang zur inwendigen freude
schiebt sich vor zu dem tier
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas rollt sich auf den rücken
vjell presst sein gesicht in den bauchpelz des erschienenen
wir holen den älteren kater wir schließen die tür
draußen überm dorf verfängt sich ein gewitter
wir liegen zusammen
es ist ein gefühl der restlosigkeit
wie wenn worte zurückkommen und alles aufgehoben ist
nichts verschollen verloren nichts vermisst
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund wieder
denk ich an das brennen an die lieblichkeit
bei einem jäh hereingeschneiten umfangenden gedicht
wir holen wein wir feiern uljas den namen
laubgrüne augen uljas das tier auch das tier in
unserem körper feiern die flucht der totenstille
ich frage vjell ist das ein traum
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaabitt ihn mich zu zwicken
wir feiern die nähe von kater und vater mutter
geschwister und die brücke zu den wörtern finden kind
wir füllen den napf wir holen uns selber zu essen
wir sehen das leben wie es den kater greift
und sanft vorschiebt über die jahresgrenze
wir schlafen ein der schlaf zeigt ein gewann
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus verödeten äckern
dann fängt das wasser zu strömen an
bald wird das tal ein see erfüllen
auf dem see erscheint ein boot
aaaaaaaaaaaaaaaain dem vjell und ich sitzen
und ich sehe es ganz sicher dass es
weißbehaubte tigerruder hat aus fell
und saugtänze vollführt über das wasser
WIR SAGEN IN DEN NÄCHSTEN TAGEN ZUEINANDER
sagen es wieder und wieder wie von weither
wir müssen mehr bereit sein zu verlust
am anfang hieß verlieren lösen freiwerden
wir dürfen das was wir verlieren
nie nie als schlussstein definieren von
dem das leben überdomenden gewölbe
müssen verstehen das ist nur ein verlust
und kommen viele bis zum großen ganz am schluss
dann müssen wir auch in das schweigen gehen
das stärker ist und sprechender als jegliches gedicht
DER ÄLTERE KATER IST MEHRERE NÄCHTE SCHON FORT
er ist nie länger als einen tag weggeblieben
wir schlafen auf dem rücken mit hohen kissen
wir tasten im halbschlaf an das bettende ob er
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahereingeschlichen kam
der schlaf zerbröselt unter unserem warten
wir werfen träume als netze aus
ziehen aus dem schlaf sein bild
wir hüten das fell unseres körpers
hüten die inseln die augen
wir werden am abend die suche beginnen
das wort verschollen ist zurückgekehrt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas wort verlust
Eine Katze ist kein Gedicht, und es gibt, weltweit gerechnet, gewiss viel zu viele Katzengedichte. Glücklicherweise aber gibt es dieses Gedicht vom Finden und Verlieren, in dem nicht nur eine, sondern mehrere Katzen ihre Leben treiben, Tiere und Menschen sich ineinander spiegeln, und das Gedicht, zumindest dieses eine konkrete, möglicherweise eine gefundene Katze ist, die indes, ein wenig um die Zeitachse gespiegelt, wieder verloren geht.
Vermutlich handeln, weltweit gerechnet, noch mehr Gedichte von Verlust als von Katzen, aber dass einem ein Gedicht dieses akute (schneidende, scharfe, akzentuierte) jetzige Gefühl gibt, selbst etwas verloren zu haben, es mit allen Herzfasern Lebensfasern Fellstellen zu suchen und zu vermissen, es wiederzufinden und wieder zu verlieren, dass es dabei auf gute Weise tröstlich und schmerzlich zugleich ist, weil es das Vergehen der Zeit nicht nur bespricht, sondern in sein springendes, manchmal stockendes und manchmal verbindendes Atemaussetzen aufnimmt, dass es die Spiegelung eines Kirchenraumes betritt, der, so aller Glaube, ebenfalls vom Verlieren und Gefundenwerden handelt, bis das Leben des Verlorenen und der Suchenden sich in Worten und Bildern als Projektionen des Findens umeinander drehen, bei ständiger Aufrechterhaltung des Pulses – und zwar nicht nur des Wortpulses des Gedichtes, das wäre vorausgesetzt, sondern auch des Pulses dessen, der mit pochendem Herzen liest – das ist selten.
Ich könnte auch sagen: Ich mochte die Spiegelungen und vor allem den Weg. Die Findens-Prozession. Und ich staune, weil das Gedicht so exakt seine Mitten hält. Es erzählt eine Geschichte – am Ende weiß man, dass es mehrere sind und tut dies so, dass in der Geschichte ein Schaukeln entsteht, das zunimmt, je länger man liest (gern auch das zweite, dritte und xte Mal). Ein Schaukeln wie Finden und Verlieren, weil Gefundenes allemal wieder verloren geht (selbst wenn es nicht verschwindet – es verwandelt sich „bloß“), während Verlorenes sich gern wiederfinden lässt, wenn man etwas (Er)Findungsgeist investiert – wie beim Lesen. Mir gefällt oder schmeichelt die Mehrfädigkeit des Gedichtes, weil sie mich einlädt, in einen mir nicht vertrauten, aber nicht unbekannten, in verschiedenen Schichten von Wirklichkeit und Zeit um eine Dringlichkeit gebündelten Raum zu treten. Indem das lange, sich durch Lese-Such-Findenszeit streckende Gedicht vom Verlieren, Suchen, Finden, Gefundenwerden und Verlieren spricht, von einer und mehreren Katzen, die als Kater, Stein, Bild, Vorstellung oder Vergangenheit wörtlich durch die Verse scheinen, von einem und mehreren Leben und Sprachleben, von einem Leben als Mensch und als Paarmensch – und immer zugleich, was man aber nicht sofort bemerken muss (und auch das machte mich geneigt) vom Finden dieses Gedichtes oder überhaupt eines Gedichtes im Wortbewegungsfeld und „Gestrüpp“, im Bildwust und der Wüste des inneren Lebens.
Begeistert war und bin ich, weil die Gedanken beim Lesen dieser Fast-Prosa so mühelos angestoßen und freigesetzt werden als wäre das nichts. Sie beginnen zu gleiten und sich um das Licht des niemals harmlosen „Findenundverlierens“ zu drehen. Man kann sich daran verbrennen, fasst es nicht. Aber mithilfe des Gedichts vom Finden und Verlieren schwirrt man heran und wieder fort, sucht, verliert und findet selbst, tastet Möglichkeiten ab. Der Kopf begann mir auch davon zu schwirren, wie selbstverständlich die ersten Zeilen, die ich als Prosa wiederschreibe: „Es ist genau ein Jahr her, dass der Kater kam, er passte gerade in die Kuhle der Hand“ drei Verse weiter übergehen in ein metaphorisches Sprechen wie es doch nur in Gedichten „erlaubt“ ist:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawir suchen ihn
am rand der dunkelheit des herbsts entlang an jedem abend
sein fell hat solche spuren hinterlassen dass unsere haut
fellplatten zeigt fellinseln wie wenn wir
Weil also die Gedanken beim Lesen so schön zu gleiten begannen und sich schweifend wie Motten ums Licht des Gedichtes allmählich um dessen Zentrum ordneten: geweitete Gefühlsgedanken zum Entdecken, Suchen und Vermissen. Finden, sagt der eine, gelingt, wenn etwas neben etwas anderem gesehen wird – wo es durchaus stehen mag, auch wenn es nach der Ordnung im Kopf dort nichts zu suchen hätte. Was mich daran erinnerte, wie ich einst den Ehering meines Mannes vollkommen unfindbar im Bad versteckte, indem ich ihn der Zahnbürste überstreifte. Man sah ihn deutlich, ja, wusste man, wo er war, konnte man ihn nicht mehr nicht sehen, so leuchtete er, aber mein Mann verzweifelte fast bei der Suche.
Grünzweigs Gedicht ist in neun, mit Großbuchstaben beginnende Erzählsuchschritte gegliedert. Noch im ersten sagt es über das Verlorene: „wir spiegelten uns in ihm und wogen uns“. Wer etwas finden will, muss, durchaus paradox, das Ersehnte in sich aufnehmen und ihm nachgehen. Suche ist eine Art unsichtbarer, aus dem Menschen herausgestreckter Spiegel, auch Wortspiegel, denn wie oft wird ein Name gerufen oder werden Fotos mit Beschreibungen ausgehängt. Wer verloren hat, gibt das Gedicht mir ein, der „sucht etwas heim“, doch wird er, um dazu imstande zu sein, zuvor von eigenen Ängsten heimgesucht. Er selbst geht ein Stück verloren – er gerät sich ins Netz von Projektionen: schon allein der Verlust, allemal aber der Wunsch zu finden, zwingen ihn dazu, Geschichten zu erfinden. Nur dann bekommt die Suche einen Weg, die „Rettung“ ein Ziel. Und ob der Suchende die „heulhürde“ nimmt? Sich Erleichterung schaffen kann? Verlieren bedeutet Druck und Wiederholung, sagen die vom Gedicht in mir auf mich selbst losgeschickten Suchgedanken. Zugleich flüstern sie, während ich lese: und was habe ich hier verloren? Was habe ich hier zu finden?
Dorothea Grünzweigs Gedicht öffnet diese Fragen und (be)schreibt einen großen, waldigen, von vielfachen Lebewesen durchzogenen Raum, in dem man umhergehen kann, um sich für sich selbst zurecht-zu-finden. Das Gedicht ist „lang“, ich meine „gestreckt“, um diesen Raum zu geben. Hinter- und Vorderbilder lässt es ineinander umspringen – „ich sehe das baumgrün / die mascara umrandung der kateraugen“ – zu gleitenden Zusammensetzungsideen und Dehnungen. So zeigt, sagen die freigesetzten, sich im Schwing- und Pausenrhythmus des Gedichtes entfaltenden Gedanken, die Suche nicht das Gesuchte, sondern sein Bild. So sind Suchen und Finden Bildvorgänge und zugleich eine Spiegelung in jenen hinein, der sucht. Die Suche zielt auf das Verlorene, trifft aber das Verlorengeglaubte. Im Groben mag beides identisch sein, im Feinen ist es das nie. Nur nebenher handelt die Suche davon, was gefunden werden kann, immer aber gibt sie preis, was der Suchende glaubt, besessen zu haben: „wir werden von bildern gescheucht“.
Wer etwas verloren hat und davon spricht, zeigt eine wunde Stelle. Entblößt, schutzlos, verletzt. Ich mochte und mag sofort und so fort, wie Grünzweigs Gedicht in scheinbar selbstverständlicher Mischung von „Prosa“ und Metapher, von Alltag und Wagemut versucht, die schwankenden Gefühle des Verlierens-Suchens-Vermissens-Hoffens und des Findeglückes zur Klarheit zu bringen. Es wägt Worte neu – nicht gesuchte, sondern gefundene Worte wie „abholde“, „genesungslade“, „schlafflausch“, „rufwald“, „watwald“ oder „verschollen“ selbst, verbunden mit Schelle und Schall. Manche von ihnen sind ihrerseits Gedanken, andere machen fühlbar, dass Erinnerung auch Körpergedächtnis ist, „rufwald watwald“, und Verlieren eine Verwandlung des Körpers bedeutet, wie Finden auch.
Rollenzuschreibungen werden durchlässig. Finden bedeutet, sagt der nächste Gedanke, der aus dem Gedicht gleitet, dass das zu Findende sich finden lassen will. Im zweiten Teil des Gedichtes nehmen „Dinge“ ihr Gefundenwerden selbst in die Hand. Sie haben hier ein Wörtchen mitzureden, auch wenn wir sie bei ihrem Namen rufen – und manchmal erhört werden. Spätestens nun beginnt die Katersuche in Hintervorderbildern ins Schreiben von Gedichten hinüberzuchangieren, und gewiss ist „vom finden und verlieren“ ein poetologisches Gedicht – ein wenig wie das Augentapetum der Katze, das für das gelb reflektierende Schlitzblitzen ihres Blickes verantwortlich ist. Es ist, was widerscheint aus den Worten und der erzählten Geschichte – was zurückstrahlt, wenn man es sucht.
Das gedicht „vom finden und verlieren“ wird ein Echoraum. Namens- und Wortmagieideen treiben darin ebenso ihr Wesen wie Hölderlinklänge und Gedichtgedanken: „gut ists verschollene wörter wiederzufinden… in einem übers land / von einem aussichtshügel schauenden / uns überraschenden gedicht“. Dieses überraschende Gedicht handelt von Fragen nach Übersetzungen und Sprachinkongruenzen, von Seelenbildern des Mittelalters neben Mähdreschern, der Verflechtung des Verlustes mit all jenen, die ihm vorausgingen, und jenem einen, großen, der kommen wird. Es wirft sein Lasso aus nach der Abhängigkeit von Gefühl, Körper und Wort bei unseren gleitenden Versuchen, die Welt zu verstehen.
Der eigene Puls beschleunigt, umfangen von der „lieblichkeit“ des jäh hereingeschneiten, fast verlorenen, dann geretteten, jedenfalls unverschollenen Gedichtes, das man vermisst, wenn man es zu lange nicht wiederliest. Beim Lesen indes erinnert es an eigene Verluste und Findungen, das eigene Gefühl der Restlosigkeit, wenn alles aufgehoben ist für Sekunden (Lieblichkeit), bis, weil nichts stillsteht, der nächste Kater verschwindet, die Zeit, nach ihrem eignen Schwanz tatzend, springt, und für zurücklässt das Wort „verlust“.
In seiner hinterrückigen Vieldeutigkeit.
Ulrike Draesner
Liebe Ulrike Draesner,
für Ihren schönen Essay, sein behutsames und gründliches Ausloten meines Gedichts, dem für mich auch durch seine Sprache Erhellenden, will ich Ihnen danken. Sie nennen mir Wesentliches, bereichern es durch Ihren persönlichen Blickwinkel, lösen ein Weiterblühen aus. Um das Wort ,Verlust‘ bauscht sich ein noch verschlungeneres Labyrinth. – Die zur Heimführung dienende Suche.
Suche, Suchsucht, nach dem vermissten Vielgestaltigen als Heimsuchung. Die schillernde Bedeutung dieses Worts. Das immer nur vorläufige Finden, die Verwandlungs- und Verlustlastigkeit der Welt, die es zu erkennen gilt, ihre einstige Aufgipfelung.
Und es stimmt: das gedicht „vom finden und verlieren“ hat, wie Sie betonen, auch einen poetologischen Zug, geht es ja um Zustände des sich Vollständigfühlens oder um ihr Gegenteil. Restlos aufgehoben sein in einem Gedicht oder Mangel leiden, verwaist sein. Und es geht um die Tatsache, dass rund um das poetische Sprechen das Schweigen liegt wie um die Zeitlichkeit der Tod oder anders: die unbegrenzte Zeit.
− Mehr sei nicht gesagt. Die Gefahr des Zerpflückens ist groß.
Lieber möchte ich Ihnen von einem Gedicht scheiben, das Sie wahrscheinlich kennen, und das – wenn auch von weither und ohne dass es mir bei der Niederschrift des meinen bewusst war – auf seine Entstehung wohl eine Wirkung gehabt hat. Denn es hängt seit circa zehn Jahren in meinem Arbeitszimmer an der Wand. Ich prägte es mir ein, verlor es aus den Augen.
Wenn Gedichte sich bilden, gibt es ja eine lange, manchmal jahrelange Zeit der Vorbereitung, dann eine Phase der Zubereitung, die Inkubationszeit, bis der Augenblick gekommen ist, dass es auf die Welt soll. Ich denke, das Gedicht „One Art“ der bewundernswerten Elizabeth Bishop gehört für mich in jenen ersten Zeitabschnitt.
Es landeten anfangs beiläufig, beim Vorübergehen, Übersetzungskritzeleien neben den an der Wand hängenden Strophen. Die Refrainzeile der Villanelle: ,The art of losing isn’t hard to master‘ ließ mich darüber nachsinnen, wie man das Kernverb des Gedichts, ,to lose‘, im Deutschen wiedergeben sollte. ,Verlieren‘ im Deutschen ruft nicht unmittelbar auch das ,Lösen‘, ,Freiwerden‘ und ,Lassen‘ auf, welches im englischen Wort mit anwesend ist. Denn das Adjektiv ,loose‘, wird gleich gesprochen und ,let loose‘ liegt nahe. Das mittelhochdeutsche Verb ,verliesen‘ (ahd. farliosan) mit seinem ,s‘ würde freilich die Verwandschaft mit ,los‘ und ,lösen‘ eher offenlegen, an Ableitungen wie ,auflösen‘ und ,erlösen‘ erinnern und vielleicht, lautlich und inhaltlich, die Eckhartsche ,gelâzenheit‘ mit ins assoziierende Spiel bringen.
Ich notierte damals ,die Kunst des Loslassens‘ aufs Blatt an der Wand, hob also etwas heraus, was dem Original innewohnt. Und auch jetzt, wo ich die Übertragung des gesamten Gedichts für diesen Beitrag versuche, bleibe ich dabei. Allerdings setze ich an den Stellen, wo es weniger um die Kunst des sich sich-Loslösens, als um ein Beraubtwerden geht, ,verlieren‘. Dadurch entsteht ein Wechsel. – Etwas mußte aufgegeben werden, um etwas anderes zu gewinnen. – Ich entschied mich nicht für die, auch rhythmisch mögliche Refrainzeile ,Verlieren lernen ist kein schweres Stück‘ – wegen der größeren Fassungskraft des englischen ,to lose‘. Auch ist das Wort ,Kunst‘ unerlässlich.
Vermutlich haben meine absichtslosen Überlegungen zur Übersetzung des Hauptverses von „One Art“ damals, neben dem Begrübeln der Abgrundfluchten, welche, erst versteckt gehalten, bei dem radikalen Tonwechsel der letzten Zeile von Bishop’s Gedicht aufreißen und über denen es geschrieben ist, dazu beigetragen, dass es heute das gedicht „vom finden und verlieren“ gibt.
Dorothea Grünzweig
Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012
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