Urs Allemann: schœn! schœn!

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Urs Allemann: schœn! schœn!

Allemann-schœn! schœn!

ITALIENISCH DIE ERSTE

Statt abzuspritzen fing er an zu weinen.
Das Zimmer sagte: Ich verlass das Haus.
Ameisen Wörter auf der blossen Haut.
Die Sphinx im Puff erspart zur Nacht den Freier.

Der sah wie das in den und die sich teilte.
Im Spiegel kroch ein Mann durch eine Frau.
War Wurzeldreck flog oben aus dem Baum.
Um Rumpf als Kopf um Kopf als Aug muss kreisen.

Glückt Schalenbildung wird die Träne Ei.
Insekten Sätze fräss das Fleisch das faule.
Über der Haustür stand: Hau ab dein Leib.

Er wollte ihr dass es ihn gab gern glauben.
Wunschzettel-Jokes: Der das die Raum Ich Zeit.
Steig Lachfirst dem im Trauerkeller schaudert.

 

 

 

Urs Allemanns Poesie ist von radikalem Formbewusstsein:

Form ist die Art und Weise, Inhalte von hoher Affektspannung nicht nur sag-, sondern vor allem auch erlebbar zu machen. Nach den Oden in seinem vielbeachteten „Holder die Polder“ versammelt Urs Allemann in „schœn! schœn!“ zur Mehrzahl englische, französische und italienische Sonette neben einigen Gesängen, Elegien und auch ganz freien Formen, in denen er die Alp- oder (und?) Wunsch-Träume der (auch körperlichen) Liebe, die Phantasmen des sich öffnenden und schliessenden Mundes bindet. Der Eindruck der Gewalt in diesen Gedichten ist Ausdruck strengster formaler Kontrolle und damit der Verschränkung von Gefühl und Geist. Was ohnmächtig erlebt wird, ist hier durch die poetische Ordnung sag- und sangbar geworden.
„Als ,Kauder- und Schauderwelsch‘ apostrophiert Urs Allemann in einem seiner neuen Gedichte deren Sprache und damit (zugleich selbstironisch und in Lesers Namen) seinen übermütigen, aberwitzigen Umgang mit Wort und Satz: Wie er sie in die Mangel nimmt, zersetzt, zerfetzt; und wie er die Fetzen wieder zusammenfinden lässt, zu verblüffenden neuen Wörtern und Sätzen, solchen von des Autors und seiner ruchlosen Muse Gnaden. – Nichts hingegen verrät die Formel ,Kauder- und Schauderwelsch‘ von der strengen Form, der die Gedichte sich unterziehen (natürlich auch, um dagegen zu verstoßen), auch nichts von der plötzlichen Stille einzelner alarmierend einfacher und verständlicher Sätze und Verse inmitten der Sprach-Turbulenzen (der Gedichtband als Ganzes ist auf ein Leiserwerden zu komponiert). Und sie verrät vollends nichts vom ,Erkenntnisgeklirr‘, das auf Schritt und Tritt hörbar bleibt in den Gedichten; denn das sind sie alle ebenfalls – zerbrochene, zersprungene Erkenntnis, deren Bruchstücke die einstmals unversehrte ahnen lassen.“ Heinz Schafroth

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2003

 

Krachschwatzen? Schwachkratzen?

− Schön! Schön! Neue Gedichte von Urs Allemann. −

Körper, klar, in der Dichtung wäre das an sich nichts Neues. Diskurstrainiert zeigen sich deutsche Dichter schon eine ganze Weile lang. Der Körper als Speicher, als Medium der Erinnerung oder gar als Sensation. Geschenkt, das haut uns längst nicht mehr vom Hocker, das dürfen wir inzwischen schlicht erwarten und als beherrscht verstanden wissen. Anders ist es aber, wenn Pindar ins Spiel kommt, Antike als Provokation, wenn der Schatz der Moderne, die gute alte Fragmentierung von Körper und Welt, zum Beispiel ein asklepiadeisches Versmaß bekommt, wenn die Krachgeschichte von heute auf einmal mit dem „Silbenschutt“ rund wird: dann gibt es einen Sprachkörper, neue Dichtung – und die ist „schoen! schoen!“ So der Titel von Urs Allemanns neuem Band mit Gedichten. Mit der puren Affirmation des titelgebenden Ausrufes ließe sich eigentlich gut der Rest dieser Besprechung bestreiten, mal lauter werdend, mal eindringlich nachdrücklich – würde das nicht das Objekt der Begierde dem Ruch eines artistischen Automatismus aussetzen. Wovon diese Gedichte wahrlich frei sind. Wie in dem vorangegangenen Band „Holder die Polder“ von 2001 stehen nun auch nicht mehr die Oden und Elegien im Vordergrund. Den Hauptteil des Bandes machen französische, italienische und englische Sonette, außerdem Sonette im Freemix (niemand, der in Zukunft noch über den „Autor als DJ“ faseln will, sollte das mehr in Unkenntnis von Allemanns metrischem Scratchen tun: „Krachschwatzen“ oder „Schwachkratzen“ lautet die Frage). Schließlich noch jambische Formen und ein paar kleine Gedichte. Es bleibt ein „Surren im Ohr“. Wenn es zu platzen scheint – „schoen! schoen!“ – wird es, verspricht sich der Dichter vom Leser, wiederhergestellt. Woher nimmt Allemann das Vertrauen in seine lyrischen Implosionsformen? Es sind Formen poetischen Erinnerns. Und das bekommt hier eine ebenso vertrackte wie überaus genaue Lautgestalt, einen Sprachkörper. Der wirbelt und stolpert in seiner „Repetierbegehr“, als handelte es sich um ein Video von Bruce Nauman. Dieser Allemannsche Sprachkörper ist eins mit den Desastern des Alltags und der Liebe: die schönsten Ruinen seit langem. Lange nicht mehr hat sich einer mit solcher Intensität auf das metrische Inventar der Dichtung eingelassen und dabei die unserem Sprachdenken und -fühlen innewohnenden, miteinander kommunizierenden Röhrensysteme so offengelegt. Was ist da zu sehen – oder besser: zu hören? Hirnfunkeln, perforierte Welt, „aus Haut zu Tönen hochgewirbelt.“ Das ist Musik, zweifellos; mehr als die Summe der einzelnen Teile, „bewusstseinsfern gestaute Melodien“: „Ein Tropfen der nicht platzte aber viel // verbarg als alles ungesehn drin sang / was ungesungen drinnen dich zerstört / hätte. Sieh doch, Blindspur, der Toten Pass / den Herzstempel.“ Das ist – eine heute kaum mehr gebräuchliche Kategorie der Literaturkritik: – ergreifend. Da singt einer auch Liebesgedichte, singt, wie es ihn zerschlägt, wie alles an und in ihm entzwei geht und wie er entdeckt, daß es nie anders war, solange er allein war – und eigentlich immer noch, wo das Alleinsein sich längst aufgeteilt hat. Urs Allemann spielt nicht auf der „Anbetungsklaviatur“, er ordnet Wolken von Erinnerungsspänen. Was vom Ganzen übrig blieb, läßt sich nicht mehr fügen. Poetische Magnetfelder, wie sie Allemanns Gedichte erzeugen, zeichnen Figuren, die das aushalten: „Ich bin / der ich trotzdem nie sein werde.“

Guido Graf, Die Welt, 6.12.2003

schoen! schoen! – Gedichte von Urs Allemann

Es gibt doch ein politisches Gedicht in Urs Allemanns neuem Gedichtband! Und es gibt doch erotische Gedichte zuhauf! Eines endet mit den Versen: „dass über diese Wange sichs und nützt / doch dem nicht der nicht dir nicht wie du brüllst“. Über drei Strophen führt das Sonett, das nach (fast) allen Regeln der Kunst Metrum und Körperteile verzahnt, auf seinem Höhepunkt ins bekannte postkoitale Desaster. Das vorweg für die, die fälschlicherweise den Eindruck haben sollten, es gehe Allemann nur darum, in „schoen! schoen!“ mit unseren schönen lyrischen Traditionen zu brechen. Die mit seinem eigenen Vers „Das ist doch nicht Literatur was da / dir aus der Brust bricht dieser öde Brocken“ gegen ihn in Stellung gehen möchten. Das Gegenteil ist der Fall. Allemann führt die Traditionen gar weiter, als uns lieb ist.
Zum Beispiel die Erotik. Man darf sich hier nicht darauf beschränken, sie in den entfernt an Liebeslyrik erinnernden Gedichten zu suchen, in denen es wie im zitierten Sonett buchstabengetreu drunter und drüber geht. Oder in einigen obszönen Einlassungen. Erotisch ist das Fleisch dieser Gedichte: die Sprache. Die Worte, Verse und Strophen praktizieren all die Stellungsspiele, die in seinen „Modi“ Pietro Aretino schon in klingende Oralität verwandelt hat. Das kann bei Allemann heftig und lasziv zu- und hergehen:

Nur die. Nur der. Pfote geschlossen. Nicht,
schweigts, verführbar zur Diastole. Schmutzstück.
Unversickerlich.

Dann auch wieder zärtlich und still: „- auglos hinstürz und du alles in Silbenschutt“. In beiden Fällen ist vom Erotischen nicht einmal die Rede. Das Reden selber ist erotisch: dass sich im Vers etwas entzündet, wie zum ersten Mal. Und unwiederbringlich ist es gleich wieder verbrannt mit Wort, Vers und Strophe. Allemanns Gedichte überzeugen durch diese Unmittelbarkeit, durch ihr Leben – und Sterben.
Sie sind durchaus narrativ: „Erzählgedichte“ heisst eine Abteilung. Sie vergegenwärtigen nur unseren Alltag. „Du wir zwei sind gestorben. Du wir leben weiter. / Ich lachte dich du flattertest mich entzwei.“ Schlichter, auch kruder kann man so etwas ja gar nicht sagen. Ohne grossen Anlass, sozusagen aus dem Stand dichtet Allemann; wenn auch mit fiebriger, so doch immer mit klarer Stimme. Eine simple Situation vor dem Fernsehkasten beispielsweise ist es, die sich in „Italienisch die dritte“ unaufgeregt, aber unwiderruflich auswächst zu einem universalen Martyrium:

bis aus dem Bett stürzt was sich wegzuknipsen
behutsam aus verlornen Programmen
die Flimmervariante des Entleibens

ins fremde Hirn aus Ton geknetet… Risse
wenn plattgemacht du Lieb auf dem Asphalt es
kleben sahst was ein Igel war kein Zeichen

Verzerrt am Grund, unter Wasser, ist das Vertraute (auch unser eigenes Gesicht!) noch sichtbar, nur greifbar ist es nicht mehr.
Eine weitere radikalisierte Tradition: Orpheus. „Ai Fräuleins schlagen Sie den tot bitte, Werfen Sie / die Augen die Eier in den Kotkübel. Machen Sie / dass dies hier Milch gibt oder sonstwie abfliesst / in Richtung Zukunft. Bis das Surren aufhört“, heisst es in „Vice versa“. Aber aus dem Mund des von den rasenden „Fräuleins“ zerrissenen Sängers „surrt“ es weiter, bei Orpheus und Allemann. Aus den „Schnittstellen“ dieser Verschnittenen blühen Schmerzworte, die „disiecta membra“ des Poeten: „Der das die Raum Ich Zeit“. Bausteine und Schutt sind bei Allemann einerlei. Wo unsere Worte zerbrechen, fängt die Sprache seiner Gedichte erst an.
Aber Vers und Dichter kommen nur gegen einander voran. Das „Surren“ legt sich quer: „schluckspuck“. Weder Schlucken noch Spucken, sondern Hervorbringen und nicht Herausbringen. Jedes Wort würgt in des Dichters „KörperSchädelMaul“. Mitten in der Ansprache, im Anheben der Stimme, wühlt es sich zurück, der witzelnde Unernst in der Schlusswendung macht es nur deutlicher:

dann klirrn dem Satz der um endlich aus sich heraus zu
in sich zurücksprengt Wörter weg. Atonalysisches Winterdisk-
urselchen. Beisszapfenhäxl.

Schöpfung und Zerstörung wirbeln durcheinander. Geburt und Tod vermählen sich: „Verzeih mir wenn ich dauernd an den Mond / denke. Rausgeschlüpft bist du. Aber tot.“ Gewalt ist die andere Seite der Erotik.
Tradition spiegelt sich auch in Allemanns Handwerk. Er gehört zu den Lyrikern, die sich alte Formen zurückerobern. Er braucht das klassische Sonett oder die Elegie, um sich selber zu disziplinieren. Aber auch um sich zu befreien. Wie beim Rodeo reitet er auf seinen störrischen Versfüssen, verzweifelt und doch gleichzeitig erfüllt von einer spitzbübischen Freude über das „Erkenntnisgeklirr“, das sie anrichten. Manchmal ist es dann nur noch ein Manöver oder eine Wendung der letzten Sekunde, was den krachenden Absturz verhindern kann:

Das Repetierbegehr
Decksport Copy-Pride Burts. –mals die Stimme zerrs
her ins Licht dass ich ange-
schwärzt ihr Durchschlag das Bodenlos.

Allemann ist nicht einer, der „das Wort ergreift“. Er wird ergriffen. Babylonisch durcheinander redend, überrennen seine Verse die Zeilen und Strophen, da bringt er kaum einen Fuss dazwischen. Vielleicht noch ein Komma am falschen Ort:

Aber wenn die Schwester
o ist mir eine! Das Unpflügbare den o des Einbruchs des Überstiegs
Furchenmusik!
Glückszeitacker freispreizt
dann erscheint dort wenn des Greis, ach, glatzschädels nimmer
Abergotts Abglanz.

Mit ungeheurer Wucht erkämpfen sich diese Zeilen ihren Raum, stürmen, drängen, schlagen Haken, rufen frech dazwischen, trödeln, machen Umwege, lassen ihren Dichter wo auch immer liegen. Nie hat Urs Allemann in seinen Gedichten das letzte Wort; stets steht bei ihm zuletzt das Wort.

Samuel Moser, Neue Zürcher Zeitung, 10.2.2004

Das Erkenntnisgeklirr

„Genuine Poetry can communicate before it is understood“ – lautet eine Maxime von T.S. Elliott. Bevor der Leser eine komplexe Form gedanklich durchdrungen hat, spricht etwas zu ihm. Erst mag es ein Gestotter sein, ein Gestammel, Fetzen, die er hört, aber instinktiv gleitet er auf die Bahn des Gedichtes.
Urs Allemann seziert in seinem neuen, bei Urs Engeler erschienenen Gedichtband „schoen! schoen!“ die Worte und ihren Inhalt, um in einem einzigartigen Rhythmus wieder fliessen zu lassen, was er auseinandergezerrt hat. Er stottert, stammelt, zerfetzt. Er entleert Sinn. Er wirft dem Leser eine Wortflut zu, die mitreisst, verwirrt, aufwühlt und manchmal aussen vor lässt.

„Es ist ein Erkenntnisgeklirr dass die gläsernen Äpfel zerschellend  /…“ , so beginnt das erste Gedicht und es ist ein Geklirr von Tonarten, Rhythmen und Bildern, welches sich durch die folgenden zieht.

Die Eishaut abzög ob ich ein Wasser wund
und ungesungen du mir im Mund Musik
TRY Knochenfluss CRY Schädelschmelze
wenn es heraus uns ein Dampf und fröre 

Allemann klirrt mit den Worten. Erst lesen sich seine Gedichte wie in einer anderen Sprache, man hört neue Töne, wird vom Rhythmus der Zeilenbrüche und Wortfolgen aufgeschreckt, liest noch einmal. Erkenntnis folgt später, findet sich bruchstückweise, in manchen Gedichten leichter als in anderen, manchmal gar nicht. Aber es wäre keine grosse Dichtung, würde beim ersten Mal Lesen der ganze Text schon erschlossen, blieben keine Rätsel, keine Neugier möglich. Bevor die komplexen Formen gedanklich durchdrungen werden, spricht etwas aus ihnen.
Man muss sie wieder und wieder lesen, muss sich ihnen widmen, diesen Sprachgebilden, die weit entfernt an Thomas Kling erinnern, an dieselbe eigensinnige Freiheit, mit den Worten zu experimentieren. Aber es bleibt nicht beim Experiment. Allemann zwingt seinen Gedichten strengste Formen auf, es bleibt niemals beim assoziativen Gedankenstrom, sie sind genauestens gearbeitet. Die Erkenntnis, die dieser Arbeit voraus zu gehen hat, scheint in Urtiefen zu gründen, erinnert ans Unterbewusstsein, an Traumwelten, unbenanntes Material, aus dem er die Fetzen und Träumereien für seine „Sprach-Turbulenzen“ fischt und sie dann zu Papier bringt. Meist sind es althergebrachte Formen wie Sonette, Oden, Elegien, die als Gefässe dienen, die Struktur geben für den Inhalt, Bündelung der irren Bilder.
Allemann unterteilt den Band in vier Abschnitte: Elegien, Oden, Gesänge bilden den ersten, französische, italienische, englische, Freemix-Sonette den zweiten und längsten, Jambenstricke und andere Erzählgedichte den dritten und kleine Gedichte den kürzesten letzten Teil. Inhaltlich mischen die vier Blöcke alle möglichen Themen von körperlicher Liebe über Vergänglichkeit, von Abschied und Tod zur Reflektion übers Schreiben.
Was den Gedichten eins ist: ihre Gewalt. Die geballte Ladung Gefühl, sei es Wut, Ohnmacht oder Verachtung, die uns entgegenschlägt. Als gäbe es dafür nur diese eine Form des Ausdrucks. Die körperliche Gewalt, als schlüge eine Faust aus dem Text, Intensität und Dringlichkeit verstärkend.

Woher nicht weiss wohin ich auszubluten
wenn Stöpsel raus Gebärbruch über Fliesen
herztot im Brunstschweiss freigeschwemmt Verlierer
Musik uns hoch Absturz aus schnitt ein Krudes 

oder:

Mit hundervierundfünfzig Schlägen zwingn wir
dich das Gelalle sein zu lassen – denk was
du willst wenn wir was um dich war gesprengt hamn
in dirs rimackondollysiern s gelingt nicht

Man muss sich in die Gedichte verbeissen, in diese Quaderstücke von Bildfolgen und ums Ohr gehauene Fetzen. Man muss sie laut lesen, schnell lesen, streng, später leiser, zurückhaltender. Man muss den Mund weit öffnen beim Lesen, muss genau lesen, muss die Klangfetzen im eigenen Körper nachhallen hören. Man muss sich das Abstrakte persönlich machen. Muss sich den Inhalt erst erarbeiten. Aber wer sagt, gute Dichtung sei leicht?
„schoen! schoen!“ ist keine Schnelllektüre, kein Buch, um zu versinken oder sich verzaubern zu lassen. Viel mehr rüttelt es auf, macht wach, vielleicht sogar aggressiv und vermag trotzdem zu unterhalten. Bei aller Komplexität behält Allemann den Humor. Er nennt Gedichte „Ein elegisches Erde-zu-Erde-Gesäusel“ oder „Ein elegisches Marionettentheater“, er zensiert das Geschlechtsorgan und braucht Schreckfickrequisiten. Eigene Wortkompositionen verraten Allemanns offenes Verhältnis zum Wort, er lässt sich nie festmachen.

… Atonalysisches Winterdisk-
urselchen. Beisszapfenhäxl.

Gegen Ende des Buches fallen vermehrt einfache, klare Sätze, kurze Verse, die Paukenschläge vom Anfang werden leiser, der Zugang leichter.

Du wir zwei sind gestorben. Du wir leben weiter.
Ich lache dich du flatterst mich entzwei.
Andersrum. Im Fall du bist wirklich mein Herz – bist du auch bereit
zu schlagen oder rumpelst du bloss leise 

Es ist eine versöhnende Geste, diesen von Heftigkeit strotzenden Gedichtband so ausklingen zu lassen. Und doch werden wir in unserem Eindruck nicht getäuscht, denn er endet mit den Zeilen:

Kleine Gedichte. Piranhas. Taucht einer den Fuss
in den Abend dass der Spiegel rot wird.

Nathalie Schmid, www.rubikon.ch, 2004

Der Sound der Ode

− Urs Allemann ist durch seinen Prosatext „Babyficker“ bekannt geworden, heute schreibt er hochkomplexe Gedichte. −

Georg MairSie singen sogar beim Lesen. Geht das nicht anders?

Urs Allemann: Ich weiß in der Regel schon beim Schreiben, wie ich ein Gedicht vortragen werde. Als ich aber eines meiner Gedichte zum ersten Mal gelesen habe, habe ich gemerkt, das will ich singen, es ist mir immer eine bestimmte Melodie durch den Kopf gegangen. Zuerst war es mir peinlich, ich bin kein Sänger, mein Gesang klingt technisch sicher grauenvoll. Aber die Reaktionen zeigen, dass es kein Fehler ist, beim Lesen zu singen.

MairFolgt man der Art und Weise, wie Sie Gedichte vortragen, sind Sie ja ohnehin ein Sänger.

Allemann:Versteht man das Dichten als ein Singen, bin ich ein Sänger. Eines meiner Gedichte trägt den Titel „Hinterhergesang“. Es ist ein Gesang im Sinne von antiken Autoren wie Pindar, dessen Gedichte man auch als Gesänge bezeichnet.

Mair: Welches Potenzial liegt in dieser Rückkehr zu alten Formen?

Allemann: Der Ausgangspunkt war die Lektüre der Oden von Hölderlin, die mich immer begleitet hat. Es war mein Wunsch, so etwas selber zu machen, und ich habe dann begonnen, die Odenliteratur zu studieren. So bin ich von Hölderlin auf Klopstock und von Klopstock auf Horaz und die Sappho gekommen. In den alten Formen steckt ein riesiges Potenzial. Die Moderne war mit diesen Formen zu früh fertig. Wie kann man, habe ich mich gefragt, eine Ode, eine Elegie oder ein Sonett schreiben, ohne klassizistisch zu werden. Das heißt nicht jetzt auf einmal wieder so schreiben wie Hölderlin, sondern nach einer modernen, eigenen, zerrissenen Sprache suchen, die sich auf der Höhe der Jetztzeit befindet und sich mit den alten Gefäßen verbindet. Meine größenwahnsinnige Fantasie war es, dass sich die Moderne und die alten Formen aneinander regenerieren könnten, ohne jetzt alle Skrupel und jegliche Sprachskepsis über Bord zu werfen. Heute meint man ja, man könne ohne Skrupel und Sprachskepsis daherschreiben. Es kann auch in der Dichtung nicht so sein, dass man einfach die Moderne wegräumt und unbeschwert Sonette, Oden und Elegien schreibt, aber die antiken Formen und die Sprache der Jetztzeit könnten sich aneinander neu entzünden.

MairDas war für eine bestimmte Zeit Ihr Weg?

Allemann: Für eine bestimmte Zeit. Und für diese Zeit muss man sich Illusionen darüber machen, dass dieser Weg tragfähig ist. Nachher wird man wieder bescheidener.

Mair: Und was ist jetzt Ihr Weg?

Allemann: Ich probiere Gedichte aus, wo ich wiederum Teile der alten Formen benutze, aber das Ganze noch stärker zusammenstürzen lasse, nur noch als Ausgangspunkt benutze. Es ist so etwas wie der Versuch, Oden, Sonette und Elegien zu dekonstruieren.

MairLernt man, diese antiken Formen zu schreiben?

Allemann: Man muss sie ins Ohr bekommen. Ich habe mir Oden innerlich laut vorgelesen, um ihren Sound zu ergründen. Das Odenversmaß muss einem wie selbstverständlich werden, damit sich die entsprechenden Einfälle einstellen können. Man muss sich in einen Zustand versetzen, wo man den Klang der Ode im Kopf herumträgt wie einen Schlager. Eines meiner Gedichte beginnt mit dem Satz „Der schwarze Balken vor dem Geschlechtsorgan“. Das ist erst einmal ein ganz normaler deutscher Prosasatz, aber wenn man durch die Schule der Ode gegangen ist, wird einem klar, das ist ein Alkaikus, der dem gleichen Metrum gehorcht wie die Hölderlin-Ode “Nur Einen Sommer Gönnt, Ihr Gewaltigen”. Hat man diesen Ton im Ohr, ist der Körper bereit, diese Struktur mit Wörtern zu füllen.

MairSie schreiben mit dem Körper?

Allemann: Man trägt das Gedicht im Körper. Damit es sich aber im Körper entwickelt, gehört viel Lesearbeit dazu, damit der Körper die Präsenz der Ode als selbstverständlich empfindet.

MairWie kommt das Gedicht vom Körper aufs Papier?

Allemann: Indem man das Gedicht im Kopf weiterspinnt, wenn sich erste Einfälle einstellen. Einfälle generieren Einfälle. Wenn ich zum Beispiel aufwache – der Morgen nach dem Schlaf, wenn ich noch im Bett liege, ist für mich eine produktive Zeit – nah am Traum, noch in der Dämmerung, beginnen sich die Wörter im Kopf zu bewegen.

MairIn Ihnen gärt immer ein Gedicht?

Allemann: Manchmal herrscht auch Dürre, aber in guten Zeiten läuft man immer mit einem Gedicht im Kopf herum.

MairIst es ein Zustand, in dem man high ist?

Allemann: Es kann zu einem solchen Zustand führen, wenn viele Einfälle zusammenschießen, es kann sein, dass das Gedicht von einem Besitz ergreift und man nicht mehr davon loskommt, bevor man nicht fertig ist.

MairDas heißt, das Dichten ist ein fröhliche Tätigkeit?

Allemann: Das Dichten hat die merkwürdige Eigenschaft, dass es trotz der Beschäftigung mit äußerst unerfreulichen, schmerzvollen, depressiven, schwarzen, gewalttätigen Vorgängen, durch die Sprache, in der es sich niederschlägt, einen sekundären Lustcharakter bekommt. Ich glaube, dass Samuel Beckett beim Niederschreiben seiner schwärzesten Texte durchaus so etwas wie Spaß hatte. Diesen perversen Zustand, wenn man so will, kann man nicht leugnen, ein schwarzes Gedicht setzt nicht voraus, dass man zum Zeitpunkt der Niederschrift unter Depressionen zu leiden hatte. Das Dichten ist so etwas wie ein manischer Zustand, in dem es einem glückt, die depressiven Materialien, die man mit sich herumschleppt, in Kunstwerke umzuwandeln.

MairSind Sie jemand, der spielt?

Allemann: Es gibt nichts Vorgegebenes, nichts, was unantastbar ist, weder der Satz noch die Satzzeichen noch grammatische Strukturen. Alles ist dazu da, um verletzt zu werden, und steht gleichzeitig als Regel immer im Hintergrund, damit der Leser weiß, wogegen der Dichter verstößt. Und alles setzt sich dann vielleicht auf einer höheren Eben wieder zusammen. Im Moment beschäftige ich mich damit, was die tragende Struktur eines Gedichtes sein kann, wenn man auf die metrischen Gebilde wieder verzichtet. Wie macht man dann etwas, was trotzdem nicht beliebig ist?

MairWovon handeln Ihre Gedichte, wenn Sie versuchen in den klassischen Formen die Jetztzeit einzufangen?

Allemann: Sie handeln von Bewusstseins-, von Affektzuständen, von Erinnerungen, die nur auf dem Weg über dieses Sprachmaterial als solche kenntlich werden. Das sind auch Erinnerungen an Nichterinnertes, das über dem Weg des Gedichts einen Weg zur Sprache findet. Das hat viel mit Kindheitserfahrungen zu tun, auch mit frühen Kindheitserinnerungen, Gesehenes, Gehörtes, Klänge, Bilder werden über viele Jahrzehnte aufbewahrt und suchen sich immer neu einen Weg in die Sprache. Von Liebeserfahrungen, Einsamkeitserfahrungen, Gewalt, Trauer handeln die Gedichte, so weit sie überhaupt von etwas handeln können. Ich würde eher sagen, sie drücken diese Erfahrungen aus, es ist der Versuch, eine Sprache für die Affekte zu finden, die sich von Alltagssprache abhebt.

MairDas Lebensmaterial sucht sich einen Weg?

Allemann: Das Lebensmaterial und vor allem die gefühlsmäßige Reaktion auf dieses Lebensmaterial. Mir kommt es sehr darauf an, dass in den Gedichten eine Vielfalt von auch widersprüchlichen Gefühlen präsent ist – ein großer Zorn zum Beispiel, aber auch eine große Zärtlichkeit.

MairKann man daraus schließen, dass Gedichte eine Form der Therapie sind?

Allemann: Ich glaube nicht an eine Heilfunktion von Literatur, aber sie bietet die Möglichkeit, das Leiden auszudrücken, ihm zur Sprache zu verhelfen. Aber es ist ein Irrglaube, dass der Schmerz verschwindet, wenn er benannt worden ist.

MairSie sind ja vor Jahren mit dem Prosatext „Babyficker“ bekannt geworden. Hängt Ihnen der Text nach?

Allemann: Es gibt zum Beispiel bei Buchhändlern deswegen noch immer eine gewisse Berührungsscheu.

MairSie haben damals beim „Bachmann-Wettbewerb“ einen Preis bekommen und sind massiv angegriffen worden.

Allemann: Ich hätte es nie für denkbar gehalten, dass man so auf einen literarischen Text reagieren würde, es war schier unglaublich, wie man mich als Person mit diesem Text identifiziert, welche Motive man mir unterstellt hat. Ich hatte mir vorgenommen – und mich dabei vielleicht auch übernommen – zu diesem grauenhaften Thema einen Text zu machen, von dem die Leute nachher sagen würden, es ist ein schöner Text. Das war vielleicht auch ein Stück Hybris, der Ästhetik das zuzumuten.

MairSie waren lange Zeit Literaturredakteur bei der Basler Zeitung. Wie ging das zusammen, rezensieren und Gedichte schreiben?

Allemann: Ich habe fast gar nichts geschrieben, ich habe unseren Literaturteil gemacht, die Rezensionen ausgewählt, bestimmt, welche Bücher besprochen werden, die Richtung vorgegeben. Ich fand es nicht vereinbar, Literatur zu schreiben und über Literatur zu schreiben. Das ist eine zwielichtige Rolle, wenn man das macht.

MairWarum?

Allemann: Kritiken schreiben ist mir zunehmend schwer gefallen, weil ich meinen eigenen Sätzen immer weniger geglaubt habe.

MairKritik verschwindet ohnehin zunehmend aus den Zeitungen. Sie sind ja von Ihrer Zeitung entlassen worden.

Allemann: Der Text wird nur mehr als kurzer Transmissionsriemen für ein Buch betrachtet. So als könnte man bei Kunst und Kultur reine Information betreiben, aber das geht nur, indem man interpretiert und Stellung bezieht. Heutzutage wird zunehmend über Bücher geredet, die Selbstläufer sind. Ich bin altmodisch, man sollte über Bücher reden, die noch nicht in der Öffentlichkeit angekommen sind.

MairSie sind offensichtlich altmodisch?

Allemann: Ich finde, man kann neumodische Gedichte eigentlich nur schreiben, wenn man altmodisch ist.

Interview mit Georg Mair im ff-Südtiroler Wochenmagazin, September 2004

 

 

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Nachruf auf Urs Allemann:

 

 

 
 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Urs Allemann

 

Urs Allemann zu Gast bei Züri Littéraire im Kaufleuten.

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