HABEN UND SOLL
Haben und Soll stehen in verschiedenen Spalten.
So wissen sie nie, was sie voneinander halten.
Soll das Haben dem Soll auf die Schulden schielen?
Soll das Soll vom Haben ein Trinkgeld kriegen?
Ursula Krechel bestimmt ihren neuen Gedichtband „für Erwachsende“. Das eingeschmuggelte „d“ schenkt dem Prozeß des Erwachsenwerdens eine unvollendbare Reife. Und so wie Erwachsende ihre kindliche Wurzel nicht preisgeben, zehren Krechels Gedichte von der kindlichen Lust am Sprachspiel. Wobei kindlich nicht mit naiv zu verwechseln ist. Mit Buchstaben zu zaubern ist weniger leicht, als wir gemeinhin glauben.
Krechel ist eine vielseitige Sprachbegabung. Sie hat für Bühne und Rundfunk, hat Lyrik, Prosa und Texte für die Frauenbewegung geschrieben. Mit ihren „kakaoblauen“ Versen reiht sie sich in die Tradition der Unsinnspoesie, die Ende des vorigen Jahrhunderts mit Morgensterns „Galgenliedern“ erblühte. Die 28 Gedichte des Bandes öffnen die Wundertüten der Sprache, kleine Mischungen aus Hintersinn und poetischer Tücke. Was Erwachsende so beschäftigt, zeigt sich am betreffenden Gegenstand. Tierisches und Geschlechtliches steht natürlich an vorderster Stelle. Sämtliche Register der Wort- und Reimkunst werden gezogen, der Satzbau nähert sich der Witztechnik an. „Gehen zwei Hoden…“ (Weiterlesen in „Alpenlied“). Frage- und Antwortspiele befreien den gängigen Sinndiskurs von etlichem Ballast. Man sehe die „Katze beim Abendrot“:
die Maus ist tot
die Nacht so schwarz
Was hat’s gebracht?
Ob man nun an Relativierungen hängt oder ihrer überdrüssig ist, in „Katze und Kamel“ kommen beide Einstellungen zum Zuge.
Das gibt es: Einerseits. Punkt.
Andererseits hören sie sich gerne singen
die Ohren angespitzt, Katze und Kamel
aber bloß im Radio.
Die Verse vom „Tankwart“ sind ganz auf seinen, den Laut „a“ getrimmt. Gelegentlich werden Vergleiche durch Lautreim erzwungen, das ist dann etwas für die, denen Vergleiche ohnehin nicht passen. „Vergleiche einen Regenwurm mit einem Sturm. / Ist der eine länger, ist der andere dicker?“. Den Stellenwert solcher Alternativen weiß ein anderes Gedicht wieder anhand einer Lauterweiterung zu bedenken. „Damen oder Daumen: keine Frage / die graue Haare wachsen läßt“. Manchereins mag sich bei Aussagen dieser Art durch den dichterischen „Kakao“ gezogen fühlen. Wem der Buchstabenspuk nicht geheuer ist, dem gelte der Rat:
gib ihm schnell
ein Fläschchen 1
schon ist es weggegaukelt
Allen anderen erschließt sich über Krechels anagrammatische und phonetische Versetzungen eine Quelle unerschöpflichen Vergnügens. Zumal dann, wenn die Eingriffe ins sprachliche Material auf der Formulierungsebene des Gedichts als brennende Frage wiederkehren.
Johanna Bossinade, Deutsche Bücher, Heft 4, 1989
Ein Gedicht und sein Autor: Ursula Krechel und Jan Wagner am 17.7.2013 im Literarischem Colloquium Berlin moderiert von Sabine Küchler.
Andreas Platthaus: Keine Magermilch, und bloß keine Kreide
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12.2017
Landesart: Ursula Krechel zum 70.
SWR, 2.12.2017
Ursula Krechel – Neue Dichter Lieben, Komposition und Klavier: Moritz Eggert, Bariton: Yaron Windmüller, Expo 2000 Hannover.
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