– Zu Alfred Kolleritschs Gedicht „UNBESCHREIBBARER als der Mittelpunkt der Erde…“ aus dem Band Alfred Kolleritsch: Einübung in das Vermeidbare. –
ALFRED KOLLERITSCH
UNBESCHREIBBARER als der Mittelpunkt der Erde
ist, daß du nichts sagst.
Wenn du an mir vorbeischaust,
teilt sich der Raum,
zwei Schnittflächen
klammern dich zu.
Das Eis auf dem Tisch vor uns
ist rauh,
die Gläser und Teller
zerspringen darin.
Was ich an den Tag brachte,
das Licht unter den Augenlidern,
nagst du aus mir,
aber deine Hand fängt es nicht auf.
Morgen, sage ich dann, morgen
wird es vielleicht anders sein,
das Eis eine Wolke,
die Gläser und Teller ein Lied.
Der Raum wird
dich aufschürfen,
und ein Schwarm von Sätzen
wird krächzen vor Glück.
Das sagte ich dir,
als könnte ich es dir
niemals sagen.
Dieses zarte, aber in seiner empfindlichen Schönheit fast klassisch wirkende Gedicht scheint von weit her zu kommen. Seine Wörter sind genau gesetzt, seine Bilder streng. Der Raum mit seinen wenigen Utensilien, dem Ich, dem Du, dem Bild des Eises auf dem Tisch, das von Anfang an dem Eis zwischen den beiden Menschen entspricht: mit so wenig Material kommt „UNBESCHREIBBARER als der Mittelpunkt der Erde“ aus.
Alfred Kolleritsch wurde 1931 in der Steiermark geboren und lebt in Graz, Dort ist er Gymnasiallehrer, Mitbegründer des Forum Stadtpark und Herausgeber der Zeitschrift manuskripte, die sich in über zwanzig Jahren ihre eigenwillige Tradition geschaffen hat. Kolleritsch, der über Heidegger promoviert hat, war nie ein Autor, der dem unmittelbaren sinnlichen Zugang zur Welt traute. 1976 schrieb er:
Wörter und Sätze zählte ich zur Außenwelt. Ich selbst war fast stumm, ich hatte Angst, etwas als etwas zu benennen. […] Alles war durchsetzt mit Allgemeinem, mit Sprache, die draußen herumstand wie Wegmarken, Wegweiser oder Aufschriften, in einer Welt, deren Richtungslosigkeit dann für mich diese Richtung nahm.
Wie in Kolleritschs Roman Die Pfirsichtöter die Erzählung von der Küche an die Stelle der Küche getreten ist, so tritt die Benennung des Poetischen häufig an die Stelle des Poetischen. Aber diese Erklärung ist schon schief: das Poetische ist ja kein anfaßbares Ding, der poetische Gegenstand ist mit den Barockpoetiken in die Vitrine der Bibliophilen gewandert. Seither ist das Poetische eine schwer herstellbare Amalgamierung.
Ein Gedicht über das Schweigen zwischen zwei Menschen. Kann etwas Unbeschreibbares unbeschreibbarer werden? Schon die Bildung „unbeschreibbar“ ist höchst ungewöhnlich. Das üblicherweise gebrauchte Adjektiv „unbeschreiblich“ deutet eher auf den Vorgang des Schreibens; der Valeur von „unbeschreibbar“ ist anders, existenzieller: nämlich ganz und gar nicht zu beschreiben, mit keinen poetisch ausgeklügelten Mitteln – eine doppelte Verneinung. Das Du spricht nicht. Daß es nicht spricht, ist „unbeschreibbarer als der Mittelpunkt der Erde“.
Schlägt dieses Verdikt nicht auf das Gedicht zurück? Sollte nicht ungesagt bleiben, was „unbeschreibbar“ ist? Aber wir haben uns schon in die Irre führen lassen von der ersten Zeile. Einer will sprechen, will Nähe, doch das Du fängt die Sätze nicht auf. Ohne Antwort zu sprechen, das fordert mehr und mehr Sprechen heraus, Erklärungen, Begrifflichkeiten. „Zwei Schnittflächen / klammern sich zu“: ein Paradox für Offenheit und Verschlossensein.
Es ist etwas Gläsernes, Klirrendes in den Gedichten Alfred Kolleritschs, als stehe der Kühlschrank der späten siebziger Jahre einen Spalt weit offen, als schmelze etwas, was in der landläufigen Vorstellung besser beinhart gefroren bliebe: ein Tauwetter der Gefühle, das mit einem einzigen Griff – Tür zu! – beendet werden könnte, wollte der Autor es – und er will es ja immer wieder.
Wer in Gedichten den lyrischen Augenblick erwartet, gepreßte Blumen, Blätter, Staub- und Samenfäden, ins Taschentuch gesehneuzte Subjektivität, der ist bis jetzt an Alfred Kolleritschs Gedichten schmerzlos vorübergegangen und mag auch dieses Gedicht verblättern. Wer aber von Gedichten kein Einverständnis erwartet mit dem, was er immer schon gedacht und gefühlt hat, wer immun ist gegen das beständige Kopfnicken, den tic nerveux Allgemeinwissen und Allgemeinerfahrung Besitzender, der wird in Kolleritschs Gedichten lesen, als fahre er in ein Bergwerk ein: die Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Viele der Gedichte – mehr noch in dem Band Im Vorfeld der Augen (1982) als in Einübung in das Vermeidbare (1978) – sind dunkel, bilderlos dunkel. Sie scheuen jede Übereinkunft, auch die mit sich selbst. Nicht daß die Augen sich im Vorfeld der Augen erst an ein anderes Licht, an eine andere Perspektive anpassen müßten: das Vorfeld der Augen ist vor den Akt des Sehens gelagert, nicht im planen Gesichtsfeld, das mit einem einzigen Heben der Hand in tiefe Schwärze zu verwandeln ist. Wer von der Geometrie der Schnittfläche spricht, ein Landvermesser der Gefühle, der will nicht fassungslos sein, versagt sich selbst das Unbeschreibbare.
Das Ich spricht in diesem Gedicht unablässig in ein Schweigen, in die verkühlte innere und äußere Landschaft. Es ist ein magisches Sprechen, ein Be-Sprechen, das immer kühner und hoffnungsfroher wird, je länger es das gegenwärtige Unglück bespricht. Die Phantasie der Verwandlung: das Eis könnte eine Wolke werden, „ein Schwarm von Sätzen / wird krächzen vor Glück“. Für so viel Kühnheit ist in dem Gespräch zwischen dem Du und dem Ich kein Platz, wohl aber in dem Gedicht, das an die Stelle des Gesprächs getreten ist. Es ist ein lyrisches Sprechen, das sich erst dann zur Schönheit einer Formulierung, einer Strophe entschließt, wenn man sie fast schon nicht mehr erwartet: das „Perlenhemd“, die „Todesstraße der Fliegen“, der „Bußgang der Begriffe“, „und ein Schwarm von Sätzen / wird krächzen vor Glück“. Eine schwerblütige Schönheit auf den zweiten Blick. Es ist, als hätte noch nie jemand in einem Gedicht „Abendlicht“ geschrieben. Kolleritsch kann nicht aufhören, sich darüber zu verwundern, daß tatsächlich etwas ist.
Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982
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