– Zu Karl Mickels Gedicht „Kindermund“ aus dem Band Karl Mickel: Eisenzeit. –
KARL MICKEL
Kindermund
Was ist das für ein Krach! Was muß ich, leider, hören?
Die Eltern sind entzweit und wollen sich zerstören
Und mich mit ihnen mit! Oh wollet doch bedenken
Von Schuld ist keine Spur die Sach ist einzurenken!
Daß du, Papa, studierst sollst du, Mama, nur loben
Wenn du, Mama, bist müd sollst du, Papa, nicht toben.
Wer heut nicht weiter lernt ist morgen nicht zu brauchen
Die Wissenschaft geht fort: da müssen Köpfe rauchen.
Was soll die Frau im Haus? wo Menschen sind, ist Leben
Im Leben wird sie klug und wird sie müde eben.
Der Staat, der seid ihr selbst will Arbeitszeit verkürzen
Das Angebot erhöhn die freie Zeit euch würzen
Mit Liebe, Kunst und Sport: was ist zuvor zu leisten?
Mehr Produktivität! das wissen doch die meisten.
Was heute kostet Kraft ist morgen unsre Freude
Daß ihr die Kraft besitzt: erfreut euch das nicht heute?
Warst du, Mama, nicht froh als sie Papa genommen
Zum Fernstudenten an? Wie bist du heimgekommen
Papa, mit Blumen! als Mama der Orden schmückte.
Jetzt schreit ihr Ach und Weh als ob euch all nichts glückte!
Mit dem berechtigten und notwendigen Interesse an den Lebensverhältnissen der Schriftsteller und Intellektuellen in der DDR, das in der Bundesrepublik seit der Ausbürgerung Wolf Biermanns herrscht, ist allzu leicht ein anderes Interesse in den Hintergrund gedrängt worden: das Interesse, die Texte dieser Schriftsteller zu lesen und auch da zur Kenntnis zu nehmen, wo sie nicht offenkundig die Konflikte zwischen Bürger und Staatsmacht widerspiegeln. Zu entdecken wäre nämlich eine literarische Vielfalt, ein Formenreichtum, besonders in der Lyrik, ein produktiver Umgang mit dem klassischen Erbe, wie er bei kaum einem westdeutschen Schriftsteller zu beobachten ist.
Das Jahr 1964 war für die jüngere Lyrik in der DDR ein Datum, das alle Kennzeichen des Aufbruchs, des Neuansatzes wie auch des Vorläufigen trägt. Der Lyriker Volker Braun forderte programmatisch:
Kommt uns nicht mit Fertigem. Wir brauchen Halbfabrikate.
Die Generation der 20- bis 30jährigen meldete sich zu Wort, und dies vehement. Begünstigt wurde das Auftreten der jüngeren Autoren durch eine allgemeine Lyrik-Freundlichkeit. Dieser Neu-Ansatz, der durchaus und pointiert als Generationswechsel in der Lyrik verstanden wurde, entbehrt nicht der Ironisierung in den Gedichten selbst. Die „Wirklichkeit“, die freilich häufig in den Gedichten anders aussah als in den offiziösen Bildern, wurde wichtig in ihrer geschichtlichen Dimension, das Konkrete wollte ins konkrete Bild gefaßt werden. Man darf nicht vergessen, diese Generation ist die erste, die in der DDR aufgewachsen ist; es ist eine gesellschaftspolitisch exzellent geschulte Generation.
Was 1964 in den Gedichten aufgebrochen war, sollte schon 1966 wieder in der Theorie zurückgenommen werden. Formalismus, Hermetismus hießen die Stichworte in der großen Lyrik-Debatte der Zeitschrift Forum. Ausgelöst wurde die Debatte durch die Anthologie In diesem besseren Land, herausgegeben von Karl Mickel und Adolf Endler: eine auf hohem theoretischen Niveau geführte Debatte, die vor allem deutlich machte, daß unzweifelhaft diese neue Generation von Lyrikern ihre Sprache und ihren entschiedenen Formwillen gefunden hatte.
Der Neuansatz in der Lyrik, für den Autoren wie Volker Braun, Karl Mickel, Rainer Kirsch, Wolf Biermann (der übrigens in der Anthologie auffällig fehlt) stehen, ist vor allem thematisch bestimmt: in der Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des Staates, in der Formulierung des Anspruchs auf Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen – gemäß der Schulung dieser Autoren im dialektischen Materialismus. Ästhetische Ansprüche wurden höher geschraubt; die Lyriker, subjektiv, sich in poetisch flüchtigen Bildern einem direkten Zugriff entziehend, verneinten, daß sich Fortschrittlichkeit und Volkstümlichkeit im Gedicht aufeinander reimen müssen. Das Material, das sie verwenden, ist kostbar gefaßt, kompliziert und anspruchsvoll. Abgelehnt wird eine volkstümliche Literatur für Jasager, in der die Methoden, sich der Wirklichkeit und den eigenen Denk- und Erfahrungsstrukturen zu nähern, programmgemäß festgelegt sind und das Vorgegebene im Sinne des letzten Parteitages nur noch „fertiggedichtet“ werden muß. Anders als die gleichaltrigen Autoren in der Bundesrepublik lösten sich die jüngeren Autoren in der DDR aber weniger von historischen Formen. Sie studierten sie, beherrschten sie und wendeten sie produktiv an, wie es Karl Mickel in „Kindermund“ tut.
Mickel schreibt:
Ich denke nicht daran, einfacher zu schreiben.
Wer so hochgemut den Widerspruch zwischen einer komplizierten Wahrnehmung und dem Beharrungsvermögen der Rezeption erträgt, läßt aufhorchen. Die Begriffe „Entschlüsselung“ und „Verschlüsselung“, die die Forum-Debatte ins Spiel gebracht hat, hebt Mickel auf. Die in der Tradition Bechers festgeschriebene Lyrik, die ihren Schlüssel in sich selbst trägt, tautologisch die Verhältnisse verklärt, von denen sie spricht, ist weit weg und ebenso weit die zur Miniatur zusammengeschmolzene subjektive Aussage, die Günter Kunert und Reiner Kunze auf sehr verschiedene Weise in die DDR-Lyrik einbrachten. Ihr neuer Reichtum an Formen und Themen ist auch ein Reichtum, der sich gegen die plane, alltägliche Armut von versteinerten und später vereisten Verhältnissen richtet.
Karl Mickels Repertoire reicht vom einfachen Vierzeiler bis zu komplexen metaphorischen Gebilden, von der direktesten und geradesten Rede bis zur verschränkten Zitatparaphrase. Er geht spielerisch und manchmal auf eine krude Weise beherzt mit dem um, was man in der DDR so schön das „klassische Erbe“ nennt: ein Lehrmeister, ein Sprachzuchtmeister, der (noch) keine Schüler hat, vielleicht auch keine haben will.
„Kindermund“ variiert den „Nebenwiderspruch“, die häusliche Misere, die bleibt, nachdem der Sozialismus als Staatsmacht außer Frage steht, nachdem der Ruf nach mehr Produktivität die Utopie von der allseitig gebildeten und emanzipierten Persönlichkeit hinter sich gelassen hat. Deshalb bricht in viele Gedichte von Karl Mickel eine ganz andere, innere Realität ein: sie handeln von Träumen, oder Traum und Wirklichkeit werden zu Widergängern.
Der Alexandriner, den Mickel in „Kindermund“ verwendet, dem er mit schöner mechanischer Regelmäßigkeit wie bei einem blechernen Aufziehspielzeug die sechs Beine hebt und senkt, ist der Vers der klassischen französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts. Corneille und Racine haben ihn verwendet, Opitz hat ihn in die deutsche Literatur eingeführt; auch die barocke Lyrik liebte den Alexandriner. In einem Brief an Goethe beschreibt Schiller die Wirkung des Alexandriners:
Die Eigenschaft des Alexandriners, sich in zwei gleiche Hälften zu trennen, und, die Natur des Reims, aus zwei Alexandrinern ein Couplet zu machen, bestimmen nicht bloß die ganze Sprache, sie bestimmen auch den innern Geist dieser Stücke, die Charaktere, die Gesinnung, das Betragen der Personen. Alles stellt sich dadurch unter die Regel des Gegensatzes, und wie die Geige des Musikanten die Bewegungen der Tänzer leitet, so auch die zweischenklichte Natur des Alexandriners die Bewegungen des Gemüts und der Gedanken. Der Verstand wird ununterbrochen aufgefordert und jedes Gefühl, jeder Gedanke in diese Form wie in das Bett des Prokrustes gezwängt.
Die Regel des Gegensatzes: hier ist der alltägliche Krach zwischen Mann und Frau, die ihre Arbeit und ihr gemeinsames Leben nicht mehr „einzurenken“ in der Lage sind, im steifen Versmaß überhöht. Der Kindermund, der üblicherweise Weisheit kund tut, vertritt das Prinzip einer pragmatischen Vernunft, ein aufgeklärtes Prinzip gegenüber den starrköpfigen Eltern. Mickels Gedicht, mit scheinbarer Naivität höchst kompliziert gesetzt, antwortet darauf mit einem barocken Wehgeschrei, das aus dem kleinen, vernünftigen Kindermund eigentümlich grotesk klingt. Wissenschaft und Leben, Arbeitszeit und freie Zeit, Vater und Mutter, Liebe, Kunst, Sport versus Produktivität: das Gedicht ist voller Gegensätze, voller Begrifflichkeiten, die „zweischenklicht“ auseinanderstreben. Und trotzdem gelingt es Mickel, mit einem einzigen Konjunktiv nach so vielen sentenzhaften Indikativsätzen ein Stück Utopie aufblitzen zu lassen:
Als ob euch all nichts glückte.
Glückt es, glückt es nicht? Zweischenklichte Wahrheit.
Mit selbstverständlicher und keineswegs übermütiger Kühnheit stellt der Lyriker Rainer Kirsch fest, daß es unter den Autoren der mittleren Generation in der DDR heute elf oder zwölf gibt, die gute Gedichte schreiben, und daß dieses Phänomen „auch im Inland kaum zur Kenntnis genommen, viel weniger gewürdigt oder auf seine Gründe untersucht“ worden ist. „Unter jenem Dutzend“, schreibt er weiter, „sind drei oder vier, deren beste Arbeiten höchstem Anspruch standhalten. Karl Mickel gehört zu ihnen ohne Zweifel. Ihrer Methode gemeinsam ist Genauigkeit in der Behandlung des Gegenstandes – das Charakteristische regiert das Ästhetische –, scharfes, am Marxismus geschultes Reflektieren der Epoche und das bewußte Weiterarbeiten klassischer poetischer Techniken. Wenn deren Hauptkategorien Strenge und Einfachheit sind, und wir einräumen, daß Einfachheit nicht an umlaufenden Vorstellungen von Verständlichkeit, sondern an der Durchleuchtung eines Gegenstandes zu messen sei, ist Mickel ein klassischer Dichter.“
Und dann setzt Kirsch dem geschätzen Kollegen eine schöne Parenthese:
Man verzeihe die Formulierung. Ich möchte aber erinnern, daß Georg Heym mit 25 ertrank, und Brecht im Alter von 40 in einem Gedicht sich „der Klassiker“ genannt hat. Der Gedanke, daß unter uns bedeutende Dichter lebendig herumlaufen und Bier trinken, ist für Mecklenburger, Sachsen und Berliner gewiß schwer zu ertragen, aber wir lernen ja alle dazu.
Solcher Optimismus, dazuzulernen, ist in der Literatur beider Deutschland nicht alltäglich. Man muß ihn auffinden – wie die Klassiker unter uns.
Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982
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