– Zu Sergej Jessenins Gedicht „In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern“ aus dem Band Drei russische Dichter. Alexander Block, Ossip Mandelstamm, Sergej Jessenin. –
SERGEJ JESSENIN
In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern
In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern,
Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen.
Ich laß die Kate Kate sein, bin fern,
ich streun, ein Dieb, umher im Heimatlosen.
Tag, wie dein Licht sich lockt, so will ich gehn,
im Irgendwo will ich zur Ruh mich setzen.
Was mir bevorsteht, Freund, ich kanns schon sehn:
ich seh am Stiefelschaft dich’s Messer wetzen.
Die gelbe Straße, vor mir läuft sie hin,
der Frühling, er läuft mit, das Wiesenblond, die Helle.
Den Namen grub ich tief in meinen Sinn,
und die ihn trägt, sie jagt mich von der Schwelle.
Ich weiß, mich führts zurück zu Vaters Haus –
Mein ganzer Trost: daß fremde Herzen hüpfen…
Ein grüner Abend kommt, ich zieh die Jacke aus,
am Ärmel mich ans Fensterkreuz zu knüpfen.
Die Weiden hängen grau, das Zaungeflecht
steht schief – sie müssen Kummer haben.
Mich Ungewaschnen bettet man zurecht,
die Meute bellt – sie haben mich begraben.
Und oben schwimmt der Mond, er schwimmt und schwebt,
und läßt, wo Seen sind, seine Ruder fallen.
Und Rußland lebt, wie’s immer schon gelebt:
am Zaun, da tanzt es, und die Tränen rollen.
Übersetzung Paul Celan
Esenin wurde 1895 als Bauernsohn geboren, 1913 kam er nach Petersburg, wo er in allen literarischen Kreisen Aufsehen erregte. Als er 19 Jahre alt war, erschien seine erste Gedichtsammlung, in der sich die Begegnung mit dem 15 Jahre älteren Dichter Aleksandr A. Blok spiegelt. Zugleich scheint in dieser Sammlung aber auch die Eigenheit Esenins auf, seine Hinwendung zum Seelenhaften, Ländlichen, sein Wunsch, an einer Heimat festhalten zu können. 1916 schloß er sich einer Gruppe von Bauerndichtern an. Längere Reisen führten ihn nach Berlin, Brüssel, Venedig, Paris und in die Vereinigten Staaten; sie täuschen eine Weltläufigkeit vor, die er nicht hatte. 1923 ging der ermüdet und enttäuscht Heimgekommene zweimal in den Kaukasus, dann lebte er wieder in den großen Städten Moskau und Leningrad. Im Dezember 1925 machte Esenin seinem kurzen Leben ein schnelles Ende.
„Ich bin der letzte Dichter des Dorfes“, beginnt ein berühmtes Gedicht von Esenin, und diese schmerzhafte Erkenntnis prägt sein ganzes Werk. Er sucht eine schwermütige, volkstümliche Melodie, die doch längst auf dem Weg ins 20. Jahrhundert, in den Literatencafés der Revolutionszeit, in denen der schöne, weizenblonde Esenin seine Triumphe feierte, dünn und brüchig geworden war. Von der russischen Revolution erhoffte er sich die Wiedergeburt eines Bauernparadieses, aber in den Auseinandersetzungen zur Festigung der Sowjetmacht war kaum Raum und Zeit für einen poetischen Frieden über Weizenfeldern. Die junge Sowjetrepublik brauchte Traktoren, Kraftwerke, Streichholzfabriken. Diese Entwicklung sah Esenin zwar mit dem Kopf ein; mit seinen Gefühlen, seiner Poesie wehrte er sich.
Die tiefe Verletzung, von der auch „In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern“ zeugt, kommt aus dem Bewußtsein eines unwiederbringlichen Verlusts. Es ist nicht einfach der Gegensatz zwischen Stadt und Land, der sich auftut, zwischen einer forschen Progressivität, die in den Metropolen angesiedelt ist, und dem immer Gleichen, aber auch Haltbaren. Dem Besonderen einer eng umgrenzten Welt, „Heimat“ genannt, steht ein Ungefähres entgegen, ein „Irgendwo“. Heimat erklärt sich aus dem Verlust. Erst das „Heimatlose“, in dem der „Dieb“ herumstreunt – Was hat er gestohlen? Hat er sich selbst die Heimat gestohlen? – macht die Heimat zu einem Gut.
Dem widerspricht die apodiktische erste Zeile des Gedichts. Die Trennung von der Heimat ist unwiderruflich, und sie ist selbstgewählt. Mit zwei Signalen gelingt es Esenin, das Blatt zu wenden: die Erwähnung des Freundes, der auf Rache sinnt, und die Erwähnung der namhaft Namenlosen, mythisiert wie eine Göttin, die ihn wegjagt. Der Aufbruch führt in einer Kreisbewegung zurück zu „Vaters Haus“. Der Ausgangspunkt des Aufbruchs wird Ausgangspunkt des Verhängnisses.
Esenin ist ein Seher, der nach rückwärts gewandt in die Zukunft schaut. Die Andeutung des eigenen Todes starrt uns hier fremd an. Wie andere Autoren, die freiwillig aus dem Leben geschieden sind, wußte Esenin seine Todesart im voraus und konnte das Weitere imaginieren. An einem düsteren Dezembertag schnitt er sich in einem Zimmer im Leningrader Hotel Angleterre die Pulsadern auf, dann erhängte er sich am Kronleuchter.
„In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern“ wurde 1915 geschrieben. Die Verzweiflung, die Esenin zehn Jahre später überfiel, vibriert hier schon. Die Beschreibung des eigenen Todes und des schütteren Begräbnisses übt eine ungeheure Suggestion aus. Die kalten, leuchtenden Farben im ersten Teil des Gedichts verblassen zum Grau der Weiden. Die Heimat, die am Anfang eine ländliche Buchweizen- und Katenidylle zu sein schien, gewinnt andere Dimensionen, ist Rußland, ist eine enttäuschte Erwartung am Rand, am Zaun. Hat Rußland den Dichter auf dem Gewissen? Hat Esenin ein Land gesucht, das nur seine eigene Utopie war? Die Vision eines anderen Landes, das heimatlich und ekstatisch zugleich ist? Esenin kann sie nur kurze Zeit aufrechterhalten. Die Revolution, die er begrüßt, muß ihn enttäuschen. Sie stillt das existenzielle Heimweh nicht. Etwas in ihm zerbricht. „Der rauhe Oktober hat mich betrogen“, dichtete er. Und:
Offen und gerade heraus gesagt, ist unsere Republik nur ein Bluff… Eine Herde! Eine Herde! Seht ihr denn nicht, und begreift ihr nicht, daß eine solche Gleichheit nichts nützt, eure Gleichheit voller Lüge und Betrug.
Esenins letzte Jahre sind eine einzige Flucht vor der Sowjetwirklichkeit, deren Mangel, deren pragmatische Kühle er nicht ertragen kann. Kurze Zeit ist er mit der gefeierten Tänzerin Isadora Duncan verheiratet. Die kultivierte Weltbürgerin und der russische Bauernsohn können sich kaum verständigen; Esenin produziert öffentliche Skandale und behandelt die gefeierte Diva wie ein Bauerntrampel. In seiner verzweifelten Heimatlosigkeit weiß er sich selbst nicht zu retten, aber er dichtet genialische Verse:
Mit einem Fuß blieb ich im Alten stecken
Und jagte doch den Stahlkohorten nach –
Und haltlos blieb ich liegen auf der Strecke –
Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982
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