AN DEN RAUM
Ein Himmel ist der Waldweg,
Darauf die Sterne kreisen −
So nahe sind sie −
Auch abseits im All,
Zwischen den Gräsern
Und unter den Büschen.
Winde sind Füße;
Und manchmal hältst du sie still,
Um keinen Stern zu zertreten.
Manche erlöschen davon.
Hinter dir leuchten sie auf,
Da du vorbei bist.
Wie Geäst knackt unter dir Donner,
Du streckst eines Blitzes Arm aus
Und greifst einen Glühwurm
Und legst ihn auf den Wolkenteller deiner Hand.
Davon wird es dort hell und tagt.
Und so bestimmst du die Tage,
Die Wetter, den Wuchs einer Erde,
Die da in dir auch irgendwo sein muß.
Und sei’s an den Sohlen des Weltalls.
deren Eigenart schon deutlich ausgeprägt ist. Das heißt aber nicht, daß seine Gedichte „perfekt“ sind. Darf man Greßmanns Gedichte überhaupt unter dem Gesichtspunkt der formalen Reife abklopfen? Eine merkwürdige Frage für einen Kritiker. Und darf man die Philosophie, die Greßmanns poetischer Weltordnung zugrunde liegt, streng wissenschaftlich auf ihre Haltbarkeit prüfen? Ich wäre nicht so verwirrt, wenn diese Poesie trotz aller Einwände, die sich melden, nicht in so bezwingenden Farben strahlen würde.
Der Fall ist selten, wenn nicht einmalig in der neueren deutschen Lyrik. Greßmann scheint ein „naiver Lyriker“ zu sein, wie es „naive Maler“ gibt, ein Henri Rousseau unter den Poeten. Die Forderung „Kumpel, greif zur Feder!“, die dazumal in Bitterfeld erhoben wurde, hat viele verborgenen Talente ans Licht gelockt. Wir wurden vor manches unerwartete Problem gestellt, Greßmann aber gibt uns Rätsel auf. Doch ist es nicht zweifelhaft, daß ein literarisches Phänomen wie Greßmann nur unter den befreienden Bedingungen der Kulturrevolution sichtbar werden konnte.
Der Pariser Henri Rousseau war Zöllner, der Berliner Greßmann ist oder war als Bote tätig. Beide sind als Künstler Beherrscher einer Welt, in die man nur eingelassen wird, wenn man sein altes Märchenbuch als Paß vorweist. „Er hatte eine kindliche Auffassung von der Welt“, heißt es bei Roger Shattuck über Rousseau, „und seine ernsthafte Wunderlichkeit appelliert an das Kind in uns“. Auch in Greßmanns Gefilden verliert der nüchterne Aktenverstand bald Weg und Steg. Die Firma, Personifikation aller Firmen, heißt Irma, die Zeitungen, „Blätter“, fallen vom Pressebaum; der Frühling, ein Vogel, richtet den Kopf hoch: „Davon ist der Himmel so blau“.
Gut, unser Verstand wüßte sich in diesen Fällen noch zu halten, indem er von Reimwitzen und spielerischer Erfindung spräche, an denen man seinen kurzen Spaß haben kann. Er wäre getäuscht, er wäre um die Substanz dieser Lyrik gebracht. Wer sich auf Greßmanns skurrile Protokolle einläßt, muß damit einverstanden sein, daß es den Pressebaum ebenso wirklich gibt wie die Schneekönigin, er muß akzeptieren, daß die Firma (nicht nur des Reimzwangs wegen) Irma heißt und nicht etwa Erna oder Liselotte.
Es ist vielleicht unbequem, es wird unheimlich. Wenigstens für die Dauer der Lektüre sollte sich der Leser nicht dagegen sträuben, wenn in Greßmanns Gedichten Zeit und Raum, Mikrokosmos und Makrokosmos in Verhältnisse zueinander treten, die aller Naturwissenschaft spotten. Die Erde wußten wir es nicht immer insgeheim und aus alten Zeiten? – unsere Erde ist „sehr unten“ am Raum, „vielleicht an den Sohlen des Weltalls“. Der Leser nickt, Greßmann hat ihn gewonnen?
Leicht, von subjektivem Idealismus zu sprechen, schwer, sich der Magie Greßmanns zu entziehen! Woher haben nur die Visionen des Lyrikers ihre Kraft? Sie werden wahrscheinlich gespeist von der Spannung zwischen einem „naiven“ Weltbild und der Beunruhigung des Dichters durch die Mitteilungen der modernen Naturwissenschaften. Das macht, glaube ich, die bedrängende Aktualität dieser Gedichte aus. Wir können sie „verstehen“, weil wir Menschen ebenso Anteil haben (noch) an den Vorstellungen der Höhlenbewohner wie an den Erkenntnissen, die uns aus den teuersten Laboratorien zufließen. Eine Erklärung – also doch keine Kapitulation! – des Kritikers, wird sie Greßmann annehmen?
Kürzlich, auf einer Bank am Hausvogteiplatz legte er mir dringlich nahe, daß es sich bei seinen Gedichten um Idyllen handle. Greßmann teilt seine Gedichte in zwei Hauptgruppen ein. Die ältere Gruppe ist den natürlichen Idyllen, der märkischen Landschaft, die jüngere den künstlichen Idyllen, der Großstadt Berlin gewidmet. Wer mit mir nicht zufrieden ist, möge sich an Greßmanns Interpretation halten. Denn sicher liefern ihm die Mark und die Hauptstadt die Materialien für seine poetische Weltschöpfung. Absonderlichbleiben – die Gedichte trotzdem. Absonderlich – und eine Offenbarung für manchen Leser, hoffe ich. Pseudo-naive Pose und effektvolle Koketterie kennen wir aus neuen Gedichten zur Genüge, sie haben ihre Saison gehabt. Greßmanns Ursprünglichkeit verweist sie auf die Plätze.
Adolf Endler, Vorwort
Nur halb hat den grünen Becher geleert
Wer am Ende des Weges
Dem Trank noch nachtrauern will
Doch das dunkle Haus schon betreten muß
Und wie viele haben die Vorladung
In Herrn Charons Maskenverleih zu erscheinen
In den Händen – und Durst.
Meditationen über den Tod und über das Reich der Toten waren viele der letzten Gedichte des seit seiner Jugend lungenkranken Uwe Greßmann, der 1933 geboren wurde, in den Jahren nach 1960 der seltsamste Lyriker der DDR war, am Mittag des 30. Oktober 1969 starb. In der S-Bahn fuhren wir vor die Tore Berlins zur Trauerfeier („Im Raum eines Abteils / Wo das Leben von angeschalteten Sonnen / Taghell leuchtet und wächst / Und dann und wann ein bißchen schaukelt“), auf der Greßmanns Verse „Raumfahrt“ vorgelesen wurden; eine S-Bahnfahrt wird da zur Fahrt in Charons Nachen, zum Flug im Raumschiff, zur Himmelfahrt:
S-Bahnen dunklen Himmels sind vom Wind berauscht
Auch wenn nahe und ferne Böschungen von Sternen wie begeistert vorüberschwärmen.
Ein zweites Gedicht kam zum Vortrag: „An Arkadia“, Kinder im Spielzimmer „holen den Baukasten,… / Und machen es den Erwachsenen nach / Und bauen tatsächlich eine Zivilisation auf.“
So hatte auch Greßmann kindlich und naiv und mit tiefem Ernst seine eigene und sehr differenzierte Welt erschaffen, eine Welt mit Himmel und Hölle, mit Lebenden-Land und dem Reich der Toten, mit dem Reich der Urmunen (abgeleitet von Urmutter) und dem Lande Schilda; Länder und Landschaften, durch die eine Vielzahl von Gestalten wandert, nicht zuletzt jene Gestalt, die „Volkes Mund“ heißt, Volksmund, mit der sich Greßmann selber meinte. 1969 sprach man die Schlußworte von „An Arkadia“ über dem Sarg des Schöpfers dieser Welt, die erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aus dem Nachlaß auftauchen wird, Arkadia, von dem es nun traurig hieß:
Dein Spiel ist zu Ende,
Arkadia; wie schade um dich.
In der Presse erschien ein einziger kurzer Nachruf: 30 Zeilen in der Zeitschrift Sonntag hoben die „Arbeitsleistung“ des Dichters hervor, was umso notwendiger scheinen mochte, als nur ein geringer Bruchteil der von Greßmann zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten gedruckt wurde. Die Lyriker der DDR freilich wußten, daß Greßmann der Poet mit der aktivsten Phantasie unter ihnen war. So allein erklärt sich die Bestürzung nicht nur der jüngeren Lyriker über den Tod eines Dichters, von dem nur ein einziges schmales Bändchen (Der Vogel Frühling) sichtbar geworden war, außerdem ein halbes Dutzend Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, ein Dutzend Nachdichtungen zuletzt noch. Elke Erb hat die Gründe unserer Bestürzung angedeutet, als sie in der Zeitschrift Sinn und Form schrieb:
Zunächst einmal ist seine Sprache frei von jeder Konvention und Anlehnung, ja, nimmt nicht einmal durch Zitat, Parodie und dergleichen einen Kontakt zu anderer Dichtung auf.1
Man kann von [Günter] Kunert, [Karl] Mickel, [Volker] Braun Linien zu Brecht ziehen, man kann sie durch Linien miteinander verbinden – Greßmann scheint nahezu voraussetzungslos ans Werk zu gehen oder doch seine Vorbilder in poetischen Landschaften zu finden, die heute kaum noch ein Mensch besucht. Es war die Ursprünglichkeit Greßmanns, die wir bewunderten. Obwohl die frühe und kurze Begegnung mit dem Surrealismus für ihn wichtig gewesen ist, schien er direkt und unvermittelt aus der Anonymität des Volkes zu sprechen, in der Tat, wie er es selber glaubte, „Volkes Mund“. Es gibt in der gesamten Lyrik der DDR kein zweites poetisches Œuvre, das so autochthon ist wie das Uwe Greßmanns; und er entwickelte es, ohne jemals seine „poetische Unschuld“ zu verlieren. Greßmann wurde von manch einem als poetisches Gewissen unseres Landes empfunden.
Er ist künstlerisch von niemandem abhängig (…). Er steht ganz für sich, nur für sich mit seinem Stil, seinem Handwerk, seiner Vision, seiner Inspiration, die nur ihm eigen sind.
Wort für Wort könnte man die Charakterisierung Henri Rousseaus durch Albert Sarraut auf Greßmann beziehen.2
Fragt jemand, ob Rousseaus Gemälde „perfekt“ sind? Darf man Greßmanns Gedichte unter dem Gesichtspunkt der formalen Perfektion betrachten? Der Fall ist selten, wenn nicht einmalig in der neueren deutschen Lyrik: Greßmann scheint – noch wird darüber diskutiert – ein „naiver Lyriker“ zu sein, wie es „naive Maler“ gibt. Der Pariser Rousseau war Zöllner, der Berliner Greßmann Bote. Beide hatten also ein intimes Verhältnis zu Ordnung und Organisation der Gesellschaft; es geriet ins Seltsame durch „eine kindliche Auffassung von der Welt“ (Roger Shattuck über Rousseau), eine „ernsthafte Wunderlichkeit“, die „an das Kind in uns“ appelliert. Die Firma, Personifikation aller Firmen, heißt bekanntlich Irma; die Zeitungen, „Blätter“, fallen oder werden gepflückt vom Pressebaum; der Frühling, ein Vogel, richtet den Kopf hoch:
Davon ist der Himmel so blau.
Wenigstens für die Dauer der Lektüre darf sich der Leser nicht dagegen sträuben, wenn in Greßmanns Gedichten Zeit und Raum, Mikrokosmos und Makrokosmos in Verhältnisse zueinander treten, die aller Naturwissenschaft spotten. Die Erde – wußten wir es nicht immer insgeheim? –, unsere Erde ist „sehr unten“ am Raum, „vielleicht an den Sohlen des Weltalls“. Der Leser nickt, Greßmann hat ihn gewonnen? Leicht, von subjektivem Idealismus zu sprechen – schwer, sich der Magie Greßmanns zu entziehen! Reimwitze und spielerische Erfindung allein würden uns nicht in diesem Maße faszinieren. Es handelt sich um einleuchtende Visionen, die gespeist werden von der Spannung zwischen einem „naiven“ Weltbild und der Beunruhigung des Dichters durch die Mitteilungen der modernen Naturwissenschaften, eine Spannung, an der wir alle Anteil haben; Greßmann lebt in den magischen Vorstellungen der Höhlenmenschen des Paläolithikums, wie er sich auch mit ausgedehnten und gründlichen Studien die Spekulationen der Geisteswissenschaften, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften erschloß, um sie auf fast unglaubliche Weise seinem phantastischen Kosmos und seiner Kosmogonie zu integrieren.
HINTERHOF RECHTS, PARTERRE, in Untermieter Greßmanns Zimmerchen in Berlin-Pankow – wenn Greßmann von seinen Botengängen im Stadtzentrum heimgekehrt war, war er in die größere Welt heimgekehrt, in der ahistorische Phantasie ihr Schöpfungsspiel beginnen konnte:
Und der Herr lächelt die Tapeten
An den blauen Raum und nickt
Und da zwischen Fuß und Teppich
Das ist die Unterwelt…
Greßmann hat die Asche aus dem Ofen gekratzt, nun werden, wie es in seinen Versen heißt, „Streichhölzer entzündet und Kometen“ und „des Kienspans züngelnde Flamme / Knistert von Sternen / Und funkt / Signale / An alle / An alle/ Welten…“ Greßmanns Streichholz, Greßmanns Kienspan, Greßmanns eisernes Öfchen! Und „dieser Ofen / Steht ja nicht nur einer Philosophenschule Modell / Da er vom Weltfeuer entflammt ist.“ Eine Untermieter-Kosmogonie: Greßmann selber legte uns freilich Mitte der sechziger Jahre nahe, daß es sich bei seinen Gedichten um I d y l l e n handle. Davon ausgehend, teilte er seine Gedichte in zwei Hauptgruppen ein. Die eine, die ältere Gruppe, sei den natürlichen Idyllen der märkischen Wälder- und Seenlandschaft gewidmet, die andere, die jüngere Gruppe, den künstlichen und „geometrischen“ Idyllen der Großstadt Berlin. Gewiß lieferten ihm die Mark Brandenburg und die Stadt Berlin wesentliche Materialien. Aber die Phantasie des Dichters sprengt permanent das enge Programm der Idyllik, dem er zu folgen glaubt. Des Dichters Gang ins Wohnungsamt verwandelt sich unversehens in einen Flug durch Galaxien, und schlendert er durch die rauschenden Blätter des Waldes, dann ist es ihm, als raune das Volk zu seinen Füßen.
War Greßmann ein Kauz?
Ein Dezennium Botengänge im Lärmkreis des Alexanderplatzes, ausgeschickt vom staatlichen Handel zur Brunnenstraße, zum Luxemburgplatz, in die Friedrichstraße, zum Hausvogteiplatz. Immer wartete man darauf, ihm zu begegnen, immer schien er uns entgegenzukommen, die Passantenströme zerteilend, wie schwebend, der lange Mantel wie zwei Flügel, ein seltsamer, ein seltener Vogel mit prophetenhaft strahlenden Augen. „Die Straßen sind des Stadtbaumes Äste“, so kann man in dem Gedicht „An Arkadia“ lesen, „Wie Blätter wogen die Lichter daran.“ Verzauberung der Welt steht am Beginn seiner Welt-Neuschöpfung. War es die Weltflucht eines Geschlagenen? Aber er wirkte keineswegs gedrückt, sondern eher stolz. Eine Lektorin spricht vom „pharaonischen Selbstbewußtsein“, das sie gespürt habe. Es war das Selbstbewußtsein dessen, den vielfältiges Unglück nicht hatte besiegen können. Schon seine Kindheit muß höllisch gewesen sein. Greßmann spricht von „sagenhaften Eltern“:
Von Dornen hatte
Ich eine Wiege.
Pflegeeltern, Kinderheim. Fünf Jahre lang war eine Tuberkulose-Heilstätte in den Wäldern sein Reich, aus dem er mit 21 Jahren vertrieben wurde. Er wurde Kugelschreiber-Montierer, dann Bote (unpoetisch „Poststellensachbearbeiter“). Der ihn zuerst als Dichter erkannte ( wenn er ihn wohl auch mißverstand), war Paul Wiens. 1962/63 brachte Wiens in der Zeitschrift Neue deutsche Literatur zwei Gedicht-Serien zum Druck. Seitdem ging sein Name wie ein Gerücht von Mund zu Mund. Greßmanns einziger Band, Der Vogel Frühling, erschien 1966 und konnte – kein alltägliches Schicksal von Lyrik-Bänden in der DDR – alsbald in zweiter Auflage erscheinen.
ES WURDE GERÄTSELT, wie Greßmann zu seiner poetischen Methode gefunden habe. Otto zur Linde? Alfred Mombert? Jene fast vergessenen vor-expressionistischen Kosmogoniker, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur Gruppe der „Charontiker“ zusammengefunden hatten? Man suchte also in den abgelegensten Winkeln der Poesie unseres Jahrhunderts nach möglichen Anregern. Greßmann kannte auch sie nicht, als wir ihm Gedichte von Mombert zeigten, fühlte aber sofort Verwandtes, wie er auch eine gewisse Verwandtschaft zu den frühen Gedichten Rafael Albertis (in der Nachdichtung Erich Arendts), zu „Seemann an Land“ empfunden haben muß, in dem eine – wie bei Greßmann – durch krankheitsbedingte Isolation aktivierte Phantasie zur Geltung kommt, ähnlich der tagträumender Kinder, die sich an fleckigen Blumentapeten, dem gemaserten Holz der Schränke, an wehenden Fenstervorhängen entzündet. (Im Nachlaß fanden wir ein Gedicht, „Einsamkeit“, das wahrscheinlich aus der Beschäftigung mit Alberti erwachsen ist und das, obwohl nicht ganz selbständig, aufschlußreich ist: „Masern des Holzes / Wogen wie Wasser / Meer du erstarrtes; / Wann sahst du den / Letzten Matrosen / Vorüberfahren?“) Aber Albertis Lyrik mag von Greßmann hauptsächlich als Bestätigung für die Richtigkeit eines schon lange vorher von ihm selber gefundenen Weges begriffen worden sein. Daß er eine eigene Stimme hatte, erlebte er, ehe diese Gedichte in der DDR erschienen, nämlich 1958, wie einen Schock. Ein Buch über moderne Lyrik war ihm in die Hände gekommen, in dem er sich selbst wiederfand, der sich allmählich von schülerhaften Versübungen „in der Art von Goethe, ganz epigonal“ zu einer eigenen Handschrift hingearbeitet hatte. „Was war es denn, was dich 1958 besonders stark getroffen hat?“ fragten wir ihn. „Der Surrealismus!“ (Aber seine Gedichte sind nicht surrealistisch.) „Und welcher Dichter?“ Er nannte Rimbaud. (Doch wird man nach direkten Auswirkungen Rimbauds auf Greßmanns Verse vergeblich suchen.)
Das Gespräch fand ein halbes Jahr vor Greßmanns Tod statt. Als wir die Aktentasche bekamen, die er ins Krankenhaus mitgenommen hatte, fanden wir darin Teile eines sehr deutschen Projekts: Skizze und erste Entwürfe an dem zweiten Teil eines dramatischen Gedichtes „Faust“, dessen ersten Teil Greßmann noch fertigstellen konnte. Freilich hat der „Faust“ Uwe Greßmanns mit dem Goetheschen nur sehr wenig gemein. Es ist ein so singuläres Werk wie vielleicht Alfred Jarrys König Ubu, obwohl schwerlich auf einer Bühne aufzuführen, bestenfalls mit verteilten Rollen zu lesen: Ein Konglomerat aus erzählenden Gedichten, Szenen und Dialogen, aus sehr poetisch formulierten Bühnenanweisungen schließlich, die zuweilen wie Anweisungen für ein Ballett wirken. Es geht in diesem Stück, wie man sich denken kann, um Gott und die Welt; Gestalten treten darin auf wie Don Juan, Kohlhaas, Teufeline, Gevatter Tod und DER HERR, auch allegorische: Weltschmerz, Liebe, Gewerkschaft usw. Glücklicherweise ist dieses Werk zusammen mit allen anderen Manuskripten Greßmanns auf Drängen einiger jüngerer Lyriker der DDR von den Archiven der Deutschen Akademie der Künste in Berlin gesichert worden. (…) Wir sind sicher, daß eines Tages auch eine Gesamtausgabe seiner vollendeten Arbeiten ans Licht kommen und Greßmanns dann überschaubare „Welt“ nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland Freunde finden wird.3 Denn dieser Dichter gehört wahrhaftig nicht zu d.en Ephemeriden. Sein Werk zählt zu den größten Absonderlichkeiten und Kostbarkeiten der deutschen Lyrik in unseren Jahrzehnten. Auf die Frage aber, welchen Nutzen diese Poesie für uns haben könnte, hat Greßmann selber die Antwort gegeben, als er uns mit seiner kalligraphisch gebogenen Schrift 1967 die Widmung in den Vogel Frühling schrieb:
Die Dinge haben einen Sinn, weil sie uns so erfreuen.
Adolf Endler, 1969/70, Schreibheft, Nr. 83, August 2014
− Der Dichter Uwe Greßmann. −
[…]
Einer
Ging, die Hand in der Tasche,
Sagte zu sich:
aaaaaaaa„Schau, wie die Laterne
aaaaaaaaAm Himmel scheint
aaaaaaaaAbends.“
Und −
Über das Wasser gebeugt −:
„Vergeßt mich nicht!“
Der Dichter Uwe Greßmann wird im schlimmen Jahr 1933 in Berlin geboren. Vom 13. Lebenstag an verbringt der Junge – von zwei kürzeren Adoptivintervallen unterbrochen – die Kindheit in Waisenhäusern und in Pflegeheimen. Ein ungeliebtes und ungeborgenes Menschenkind, das jedoch – herausgefordert durch eine schwere Lungentuberkulose, die er ab 1949 mehrere Jahre lang in den Beelitzer Heilstätten zu besiegen sucht – bisher ungeahnte geistige und künstlerische Kräfte mobilisiert, um der tödlichen Krankheit zu widerstehen. „Die Krankheit“, so schreibt er in einem der Lebensläufe, „kam wie ein rettender Engel, der mir alle inneren Auseinandersetzungen verschaffte […] die Literatur ersetzte die fehlenden Eltern mit ihrem ernsten Rat“.
Ein umfassendes autodidaktisches Studium der Philosophie und Literatur setzt ein, stellt sich seelischem und körperlichem Leiden entgegen und hilft – für eine kurze Zeitspanne – gesunden. Es wird den Dichter bis an das Lebensende begleiten und ein Quell seiner poetischen Kraft bleiben. Die Journalliste seiner Bibliothek umfasst belletristische, mathematische, historische und vor allem auch philosophische Bücher. So unter anderem von Johann Gottlieb Fichte, Immanuel Kant, Gottfried Wilhelm Leibniz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jean Jacques Rousseau und Giordano Bruno. Neben Werken der klassischen griechischen Dichter stehen Werke von Marc Aurel, von Johann Jakob Christoffel Grimmelshausen, Friedrich Gottlieb Klopstock und Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, Gotthold Ephraim Lessing und Heinrich Heine, Jean Paul, Bertolt Brecht und Rainer Maria Rilke, um nur einige wenige zu nennen. Wir finden Alexander von Humboldts Kosmos, die Götterlieder der Edda, das Nibelungen- und das Rolandslied, das Gilgamesch-Epos und vieles andere mehr. Eine sehr anspruchsvolle und umfangreiche Leseliste für einen Autodidakten mit Volksschulabschluß, der in spartanischer Abgeschiedenheit all diese Bücher durcharbeitete – die Anstreichungen und Notizen in den Büchern belegen es −, ein großes Pensum für einen Menschen, der bereits mit 36 Jahren die Welt verlassen muß. Ohne die Liebe zum literarischen Erbe wäre Greßmanns Poesie kaum gereift. Unmittelbaren Ausdruck findet dies im Gedicht „Zeit und Raum“:
[…]
Und kehre gerne ein ins Antiquariat;
Und ich sehe zu euch zurück,
Die ihr in den Jahrhunderten steht.
Denn ich werde euch singen und mich, die kommende Zeit.
Dem ereignisarmen äußeren Leben – Greßmann arbeitet als Montierer, später als Bote und Sachbearbeiter – steht indessen eine nunmehr an Erfahrungen und Empfindungen, an poetischen Visionen und ungewöhnlichen Bildkompositionen reiche innere Welt gegenüber, die sich im lyrischen Werk artikulieren wird.
„Ich, Mensch, ein kleiner Kosmos, wie Philosophen sagten, / trug die Erde am Schuh und in mir die Idee der Schöpfung;…“ – so der poetische Anspruch des Dichters. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Im Essay „Wie entsteht ein Gedicht?“ denkt Uwe Greßmann über den Entstehungsprozeß von Lyrik nach. Für ihn sind es der Standort, von dem aus der Dichter die Gegenstände betrachtet, und die Distanz, die die Eindrücke bestimmen, aus denen sich dann ein Gedicht formt – bei ihm häufig reimlos, metrisch ungebunden, rhythmisch geprägt.
Will ich also die Poesie der Straßenbahn erleben, gehe ich zwischen den Gärten der Großstadt umher. Und da möchte ich meinen: Die Großstadt gebe in der Ferne ein Konzert, wo in den Kurven Straßenbahnen Geige spielten. Doch stehe ich an der Ecke und warte auf die 46, ist es wieder Lärm und Alltag und stört. […] Betrachte ich den von der Straßenbahn gewonnenen Eindruck als Feier, wenn er mir gegenüber im Hintergrund, und als Alltag, wenn er mir gegenüber im Vordergrund ertönt, entsteht […] die Feier im Alltag, das heißt dann soviel wie: Vergiß vor lauter Sorgen des Alltags die kleinen das Herz erquickenden Dinge nicht. Sei ein Künstler des Lebens und freue dich mit, etwa wenn der Dackel mit der Zeitung im Maul angeschwanzwedelt kommt und die kurz bevorstehende Ankunft des Herrn im Anzug ankündigt.
Das Gedicht gestaltet seelische Vorgänge des Dichters, die durch seine Begegnung mit der Welt und der daraus gewonnenen emotionalen und intellektuellen Erfahrung entstehen. Außen und Innen fügen sich so zu einer neuen Weltsicht, die im Gedicht ihren Ausdruck findet.
Und nun hören wir dieselbe Platte nochmals, aber in neuer Besetzung. Und obwohl wir die Instrumente dieses Ständchens, nämlich Straßenbahn und Geige, kennen, ist ihr Spiel doch ein heiteres. Denn ein Geigenspiel in den Kurven der Straßenbahn, wer hat das schon gesehen? So etwas gibt es doch gar nicht. Gewiß. Doch in der akustischen Täuschung, die ich im Verhältnis zur Straßenbahn in einem bestimmten Abstand wahrnehme, höre ich die Geige in den Kurven spielen. Nur eine Täuschung, sicher; aber sie ist die Poesie des Sinnenlebens, ohne die der Mensch wohl kaum Poesie erleben könnte […]
1966 gelingt, wie Holger J. Schubert formuliert, „in der DDR-Lyrik die Entdeckung eines Naturtalents: Der Mitteldeutsche Verlag veröffentlicht Uwe Greßmanns Gedichtband Der Vogel Frühling.
Greßmann, dem „Originalgenie“, wie Adolf Endler ihn nennt – im Sinne des Sturm und Drang, das autonom seine Regeln für Kunst und Leben entwirft −, gelingt es, mit seinen ungewöhnlich phantasievollen Bildschöpfungen, seiner reichen Metaphorik, die Einheit von Mensch und Natur, von Erde und Weltall poetisch Gestalt werden zu lassen. Vergleichbar vielleicht der visuellen Poesie und unbefangen kindlich-naiv aufgefassten Natur in den Werken des Malers Henri Rousseau. „Beide“, so Adolf Endler, „sind als Künstler Beherrscher einer Welt, in die man nur eingelassen wird, wenn man sein altes Märchenbuch als Paß vorweist“.
Das Märchen, der Traum und der Mythos: alle drei Gestaltungsformen sind Ausdruck der Archetypen, der Urbilder kollektiver Menschheitserfahrung. Im Märchenspiel Der blaue Vogel von Maurice Maeterlinck sagt der Eichbaum zu Tyltyl, dem kleinen Sohn des Holzknechts: „Ja, ich weiß, du suchst den blauen Vogel, das heißt das große Geheimnis der Dinge und des Glücks.“ Wie bei Maeterlinck, so erleben wir in Greßmanns Lyrik eine märchenhaft beseelte Natur, ins Kosmische geweitet, in der Erde und Mond, Sonnenstrahlen und der Sturm menschliche Züge erhalten, die Zeit im Radio wohnt und der dunkle Raum schwarz sieht. Wo die Nacht auf der Himmelsbank sitzt und den Sternen – wie die Mutter den Kindern – die Geschichte vom Mann im Mond erzählt, die Erde mit dem Mond spricht und der Wald ein Sänger ist. Von Uwe Greßmann gilt, was der Dichter Novalis in „Die Lehrlinge zu Sais“ von dem Lehrer sagt:
Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein. – In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge zusammen zu bringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wusste, wo und wie er dies und jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in den Satten nach Tönen und Gängen umher.
Uwe Greßmann holt den Kosmos ganz unmittelbar in unser Haus, in unser Leben. Er, der Kosmos, wird uns vertraut. Wir stehen sozusagen auf du und du mit ihm. Erfahren seine Ordnung nicht als uns feindlich gesinnt sondern als uns zugewandt, in stiller Übereinstimmung mit den uns eigenen, innewohnenden Gesetzen.
„Es gibt eine Unschuld des Gemüts“, so Günter Kunert, „welche die Welt so anschaut und erkennt, wie sie wünschbar wäre, ja wie sie vielleicht sogar potentiell ist und wie nur wir, in stärkerem oder geringerem Maße von den Mittätern der Historie um unsere Unschuld gebracht, sie nicht mehr zu sehen vermögen: nämlich mit angstlosem Staunen“.
Den blauen Vogel von Maurice Maeterlinck, das Sinnbild für die Suche des Menschen nach dem großen Seinszusammenhang, dem Urgrund und Wesen der Schöpfung, diesen blauen Vogel, den Tyltyl im Auftrag der Zauberin sucht – oder auch die blaue Blume des Dichters Novalis – das „mythische Element“ finden wir auch in Uwe Greßmanns Gedichten.
Der Mythos als Wesen von Literatur und Kunst:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
– wie im Gedicht von Joseph von Eichendorff, so gestaltet auch Uwe Greßmanns Dichtung in der ihr ganz eigenen Art und Weise Menschheitserfahrung, Im Gedicht „Auf den Strecken des Himmels / Teil 4“ formuliert er sein Thema: „Doch auf der Tagesordnung / stand nur ein Thema: / Der Mensch in Mythos und Geschichte.“ Der Mensch also, als Natur- und Gesellschaftswesen, gestellt in Zeit und Raum. Seinem Werk ist Mythisches eigen, findet sich doch der Einzelne aufgehoben im Erfahrungsschatz der Menschheit. Für Georg Maurer sind wir „Ururenkel und Ururahnen zugleich“:
Dabei hat die Kunst noch ein Reservat: Sie erhebt nicht nur den Anspruch auf Ewigkeit, sie hat, wenn sie wirklich Kunst ist, Ewigkeitswert. Das kommt, glaube ich, daher, weil eine echte Befragung der Wirklichkeit zwar immer in der Zeit geschieht, in der jeweiligen Antwort der Kunst jedoch Sinn und Bestimmung der ganzen Menschheit seit ihren Anfängen mitschwingen.
In Studien und später im Gedicht „Eintritt der Götter“ sowie im Entwurf „Der Weltenbaum“ hat sich Uwe Greßmann dem Mythos des Baumes, der zu den ältesten und in vielen Kulturen verbreiteten Mythen und Urbildern der Menschen gehört, zugewandt.
Aber Urmutter und Urvater wohnen zu Ur in dem Garten
Und gehen mit licht gießenden Kannen die Beete lang
Da wächst der Weltenbaum, Sterne glühen an den Ästen […]
Der Mythos vom Weltenbaum erklärt den Bau des Universums und den Platz des Menschen darin. Er ordnet und strukturiert das Universum. Besonders den alten Götterliedern der Edda gilt das Interesse des Dichters. Die germanischen Völker erlebten den Kosmos in Baumgestalt. Der Weltenbaum ist bei ihnen eine Riesenesche, deren Zweige sich über die ganze Welt ausbreiten und Himmel und Erde zusammenhalten. Im Gesang der Völuspa heißt es:
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.
Immergrün steht er über Urds Quelle.
Die Esche Yggdrasil wurzelt im Urgrund, ihr Stamm Midgard trägt die Erde und die Krone birgt die Vielfalt der Erscheinungen der Schöpfung und stützt das Himmelsgewölbe.
In vielen seiner Gedichte oder auch Gedichtentwürfe, wie zum Beispiel „Feier der Götter“, „Alltag der Götter“, „Der Götter sagenhafte Wohnorte“ holt Uwe Greßmann das Universum ins historisch-konkrete Leben, Das eine durchdringt das andere, beide sind ineinander aufgehoben.
„Der unter den Menschen Entwurzelte“, so der Lyriker und Herausgeber Richard Pietraß, „suchte Heimatrecht in Größerem: in geschichtlichem und kosmischem Raum, in Natur und Sage. Sein zähes Streben nach Ordnung und Systematik ist im Sinn solcher Platz suche zu verstehen. “
Dies Streben nach Ordnung, Systematik und damit auch nach Geborgenheit führt den Dichter zur Idylle. „Das Idyll ist für mich der Raum, der mir das Gefühl der Geborgenheit vermittelt“ – schreibt Uwe Greßmann in einem Brief an Paul Wiens. Und Adolf Endler erzählt:
Kürzlich, auf einer Bank am Hausvogteiplatz legte er mir dringlich nahe, dass es sich bei seinen Gedichten um Idyllen handle. Greßmann teilt seine Gedichte in zwei Hauptgruppen ein. Die ältere Gruppe ist den natürlichen Idyllen, der märkischen Landschaft, die jüngere den künstlichen Idyllen, der Großstadt Berlin gewidmet.
Wobei Idyll bei Greßmann auch ein „ausgeglichenes Raumerlebnis“ meint, das, wie er formuliert, „als solches natürlich bedingt ist und in der Stadt gemäß ebenso gegeben sein kann wie im Grün der Natur […]“ Die Mark Brandenburg und die Stadtlandschaft Berlins liefern so das Material für seine poetischen Weltschöpfungen.
Besonders der vom Menschen geschaffene städtische Raum findet Eingang in sein Gedicht. Der städtische Alltag, die städtische Landschaft werden in Symbolen, die dem Reich der Natur entlehnt sind, dichterisch aufgehoben. Eine schöne Bestätigung hierfür bietet das Gedicht „Moderne Landschaft“, in dem Stahlbäume auf den Bürgersteigen wachsen und elektrische Tiere „mit Menschen im Herzen“ vorüber brüllen und die steinerne Landschaft der Stadt die Funktion einer Mutter übernimmt. Wirklichkeit und Ideal widersprechen einander nicht. Vielmehr erhält die Realität, indem sie besungen wird, den Ritterschlag der poetischen Allgemeingültigkeit, des „So ist es“. Der Dichter begreift, dass es den unschuldig-heiteren Blick der früheren Hirtendichtung auf die Natur nicht mehr geben kann. Sie ist geprägt von den Umwälzungen des industriellen Zeitalters. Der Dichter versucht nun auf sehr poetische Weise, in der Idylle die Trennung von Natur und Gesellschaft aufzuheben. Greßmanns Gedichte kehren nicht zurück nach Arkadien sondern führen in einer poetisch-phantastischen Synthese Natur und Zivilisation zusammen. Greßmanns Arkadien findet sich mitten im Alltag.
Uwe Greßmann steht in der Tradition Friedrich Schillers, der der Idylle in seinem Essay „Über naive und sentimentalische Dichtung“ und der darin enthaltenen Abhandlung über die Idylle eine große geschichtsphilosophische Dimension gibt.
Die Idylle formuliert die Sehnsucht nach Ganzheit, Dauer und Harmonie. Die Aufgabe des Dichters besteht nun darin, dieses Ideal einer möglichen Vollendung dem Leser vorzustellen, ihn an das Ideal zu erinnern.
„Die Natur“, so Schiller, „macht ihn [den Menschen] mit sich eins, die Kunst [Kultur] trennt und entzweyet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück“.
Ausgehend von der Entwicklung des Menschengeschlechts von der ursprünglichen Einheit mit der Natur über die Entfremdung durch die Kultur und Zivilisation, ist es das Ziel der Idylle, den Menschen hin zu neuer Einheit und Harmonie auf einer höheren Ebene zu führen.
Er [der Dichter] führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit […] sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben […] Der Begriff der Idylle ist der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer freyen Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur, kurz, er ist kein andrer als das Ideal der Schönheit auf das wirkliche Leben angewendet.
Der Menschheit wird hier der Weg von Arkadien durch die Geschichte hin nach Elysium vorgezeichnet und gleichzeitig als Aufgabe, als unendlicher Prozeß vorgestellt.
Die elysische Idylle bezeichnet das goldene Zeitalter, die Sehnsucht nach Frieden, Menschlichkeit, Harmonie, Einklang mit der Natur, eine Sehnsucht, die so alt ist wie die Menschheit selbst.
Sie findet sich, um nur einige zu nennen, in der großen Prophetie des Jesaja – der Messias, den er ankündigt, wird auf Erden Gerechtigkeit und Frieden herrschen lassen – ebenso wie in der Dichtung Werke und Tage des böotischen Dichters Hesiod, in der der Mythos von den fünf Weltzeitaltern entfaltet wird. Wir finden die Idee in der Arkadien-Dichtung, der Bucolia, des Vergil, besonders in der 4. Ekloge, in der zum ersten Mal das goldene Zeitalter in der Zukunft der Menschheitsgeschichte aufscheint.
Schon kehrt die Jungfrau zurück, die Herrschaft Saturns kehrt wieder; Schon wird neuer Nachwuchs vom hohen Himmel herabgesandt. Dem Knaben, der soeben geboren wird und mit dem das eiserne Geschlecht endlich ergehen und auf der ganzen Welt ein goldenes Geschlecht erstehen wird, sei du gnädig, keusche Lucina! Schon regiert dein Apollon.
Sie findet sich bei Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der im Simplicius Simplicissimus der zerstörerischen Welt des 30jährigen Krieges sein Friedens- und Idealreich, seinen Teutschen Helden, entgegenstellt und ebenso bei Gotthold Ephraim Lessing, der in seiner Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts die Entwicklung der Menschen hin zu einem Zeitalter der vollendeten Humanität nachzeichnet.
§§ 85 Nein, sie wird kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist […]
Die Metapher vom goldenen Zeitalter lässt auch der Dichter Novalis im Roman Heinrich von Ofterdingen, im Märchen des Zauberers Klingsohr poetisches Bild werden:
Es war ein mächtiger Frühling über die Erde verbreitet. […] Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Alles schien beseelt. Alles sprach und sang. Fabel [die Poesie] grüßte überall alte Bekannte. Die Tiere nahten sich mit freundlichen Grüßen den erwachten Menschen. Die Pflanzen bewirteten sie mit Früchten und Düften, und schmückten sie auf das zierlichste. Kein Stein lag mehr auf einer Menschenbrust […]
Novalis entwirft hier ein „Reich der Ewigkeit“, das, wie die Welt Uwe Greßmanns, von der Poesie durchdrungen und beseelt ist, in dem Frieden und Liebe herrschen, in dem der Mensch im Einklang mit der Natur lebt. Der Paradiesgarten, der gleichsam auf einer neuen Stufe dem Menschengeschlecht wiedergegeben wird.
Uwe Greßmanns erschöpfendes Studium der Philosophie Immanuel Kants trägt Früchte auch in den Überlegungen zum Gedanken über den ewigen Frieden. Hatte Kant in seinem Entwurf „Zum ewigen Frieden“ formuliert:
Da es nun mit der unter den Völkern einmal durchgängig überhand genommenen […] Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an e i n e m Platz der Erde an a l l e n gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden […]
− so lässt auch der Dichter Uwe Greßmann in seinen Arbeiten zum „Faust“ – Thema seinen Faust – als Völkerpropheten – das Gesetz zum ewigen Frieden verkünden. Er, der Erzieher des Menschengeschlechts gründet das Reich des Friedens: Großeuropa. „Das ist die Völkerfamilie, darin alle fünf Hautfarben als Mitglieder zusammenwohnen.“ Welch eine völkerverbindende Vision! Sie zeichnet ebenso eine Parallele zu Novalis’ Essay „Die Christenheit oder Europa“. Auch hier klingt die Idee einer friedlichen Völkerfamilie, einer Zeit des ewigen Friedens an.
„Die Welt so anschauen und erkennen wie sie wünschbar wäre […]“ – In Uwe Greßmanns Gedichten können wir sie, die Welt, so ganz unmittelbar erfahren – und den Mythos vom Vogel Frühling dazu!
AN DEN VOGEL FRÜHLING
Daunen dringen aus dir.
Davon kommen die Blumen und Gräser.
Federn grünen an dir.
Davon kommt der Wald.
Grüne Lampen leuchten in deinem Gefieder.
Davon bist du so jung.
Mit Perlen hat dich dein Bruder behaucht, der Morgen.
Davon bist du so reich.
Uralter, du kommst aus dem Reich der mächtigen Sonne.
Darum kommen Menschen und Tiere, und: Erde,
Dich zu empfangen.
Da du sie eine Weile besuchst,
Sind sie erlöst und dürfen das weiße Gefängnis verlassen,
In das sie der Winter gesperrt hat.
Und davon kommen die Sänger,
Die dich besingen.
Frühling, du lieblicher.
Du richtest den Kopf hoch.
Davon ist der Himmel so blau.
Und es wärmt uns alle dein gelbes Auge.
Und du siehst uns an.
Und darum leben wir.
Barbara Heinze aus dem Katalog Vogel Frühling. Hommage an Uwe Greßmann, Galerie Pankow, 2013
– Als Uwe Greßmann 1969 im Alter von nur 36 Jahren starb, hatte der Ost-berliner ein einziges Buch veröffentlicht. Eine Ausstellung in Annaberg erinnert an einen der bedeutendsten deutschen Dichter unserer Zeit. –
Wo die Fremde wohnte,
Irrte ihr Sohn, der gehende,
Da umher und fand sie nicht,
Die doch seine Heimat war.
Es ist die eigene Fremde, die Uwe Greßmann in diesen Versen beschreibt. Eine soziale Heimat hatte er wohl nicht. Uwe Greßmann war einer jener Künstler, wie sie nur alle Jubeljahre geboren werden – und meist dann, wenn die Jahre nicht zum Jubeln einladen. Eine Ausstellung im Annaberger Kunstkeller erinnert sensibel und auch humorvoll an den Dichter, dem nur ein kurzes Leben vergönnt war.
Uwe Greßmann kam 1933 in Berlin zur Welt, er verbrachte seine Kindheit und Jugend in Waisenhäusern, in Krankenhäusern und bei verschiedenen Pflegefamilien. Er litt an Lungentuberkulose, der Krankheit der Nachkriegskinder, konnte deshalb weder seine Lehre abschließen noch studieren. Einsam und in ärmlichen Verhältnissen lebend, verdiente sich Greßmann seinen Lebensunterhalt als Monteur, Bote und Sachbearbeiter.
Sein richtiges Leben im falschen lebte er in der Kunst, in der Literatur, der Philosophie, der Poesie, die bei ihm weiter gefasst war als üblich. „… die Literatur ersetzte die fehlenden Eltern mit ihrem ernsten Rat“, schreibt er in einem Lebenslauf. Greßmann las ungeheuer viel, schrieb Gedichte, hunderte Gedichtentwürfe, Dramenfragmente und wissenschaftliche Abhandlungen, in denen er sich unter anderem mit dem Werk von Platon, Hegel, Kant und Marx beschäftigte.
Er arbeitete unermüdlich und mit einer einzigartigen Sprache an der Poetisierung der Welt – liebevoll, staunend, selbstbewusst, originär, in seinem Mitteilungsbedürfnis vielleicht nur den Zeitgenossen Arno Schmidt und Hans Jürgen von der Wense vergleichbar. In seinen letzten Lebensjahren konnte Uwe Greßmann einige Verse in Zeitschriften und Anthologien veröffentlichen; es erschien ein Band mit dem Titel seines vielleicht berühmtesten Gedichts: Der Vogel Frühling. Greßmann ließ Faust in einem dramatischen Entwurf gegen den Krieg antreten, den ewigen Frieden prophezeien und ein Europa gründen, das „die Völkerfamilie (ist), darin alle fünf Hautfarben als Mitglieder zusammenwohnen.“
Mit angstlosem Staunen
Greßmanns Poesie und Kosmopolitismus war den Kunstarbeitern auf dem Bitterfelder Weg eher suspekt, wie die Zuschrift einer Volkskorrespondentin aus Zwickau nach Veröffentlichung eines Greßmann-Gedichts an das SED-Zentralorgan Neues Deutschland illustriert, in der sie versichert: „Die Feier im Alltag liegt nicht im Gekreisch der Straßenbahnen in den Kurven, da gibt es viel schönere Dinge.“ In den 1980er Jahren wurde der Dichter allerdings auch in der DDR mit einigen Veröffentlichungen gewürdigt, Elke Erb, Stephan Hermlin, Adolf Endler, Gerhard Wolf, Günter Kunert und Franz Fühmann gehörten zu seinen Bewunderern. Uwe Greßmann starb am 30. Oktober 1969.
Günter Kunert lobte in einem Nachruf Greßmanns „angstloses Staunen“:
Es gibt eine Unschuld des Gemüts, welche die Welt so anschaut und erkennt, wie sie wünschbar wäre, ja wie sie vielleicht sogar potenziell ist und wie nur wir, in stärkerem oder geringerem Maße von den Mittätern der Historie um unsere Unschuld gebracht, sie nicht mehr zu sehen vermögen, nämlich mit angstlosem Staunen.
Diesem „angstlosen Staunen“ und der einzigartigen Künstlerexistenz des Uwe Greßmann sind die bildnerischen Arbeiten verpflichtet, welche die von der aus Karl-Marx-Stadt/Chemnitz stammenden Wissenschaftlerin Anke Paula Böttcher, dem Dichter Johannes Jansen und der Berliner Galeristin Annette Tietz kuratierte Ausstellung Vogel Frühling in Kunstkeller Annaberg-Buchholz zeigt. Einige der 16 Künstlerinnen und Künstler kannten Greßmann noch persönlich, andere haben sich ihm später auf verschiedenen Wegen genähert. Horst Hussel zeichnet Phantasiefiguren zu einer phantastischen Dichtung; der in Karl-Marx-Stadt geborene Wolfram Adalbert Scheffler skizziert berührend die Einsamkeit Greßmanns. Johannes Ulrich Kubiak (geboren in Annaberg) webt ein feintoniges Aquarell aus Greßmanns Gedanken. Ralf Kerbach zeichnet den „studierenden“ Dichter auf dem Plumpsklo.
Vögel aller Länder
Heidrun Rueda verbindet den „Vogel Frühling“ mit Olaf Schuberts „Zeit für Rebellen“. Wolfgang Leber stellt die Welt auf den Kopf, in der der Dichter ein Fremder bleibt, Christiane Wittig bietet eine poetische Fernsicht an, Osmar Osten fordert „Vögel aller Länder – vereinigt Euch!“ und der Hainichner Günter Hofmann hatte in einem Bild dem verstorbenen Dichter Kerzen in die ganze Stadt gestellt.
Die im Kunstkeller eindrucksvoll gehängten Arbeiten werden Uwe Greßmann (der selbst manchmal zeichnete) auf verschiedene Weise gerecht – sofern sie das überhaupt wollen. Aber allen ist gemeinsam, was Greßmann dem „Vogel Frühling“ schrieb und was nun ihn selbst würdigt:
… du siehst uns an
Und darum leben wir.
Matthias Zwarg, Freie Presse, 29.11.2013
− Uwe Greßmann, der große Dichter der sagenhaften Geschöpfe, würde morgen 80. Hommage in der Galerie Pankow. −
Elke Erb sah „reine und deutliche Güte“, Franz Fühmann einen „der bedeutendsten Dichter, die wir hervorgebracht haben, einen der ganz wenigen“. Karl Mickel fragte sich besorgt, wie „viel“ des kargen Geldes am Monatsende noch für elementare Bedürfnisse blieb, wenn dieser Poet doch nur immer Bücher kaufe: „die Bedürfnisse seines Geistes waren seine elementaren: das war die Lösung“. Und Adolf Endler wählte zur Kennzeichnung des Dichters, „der aufs Größte zielte und für sich selbst auf Größe“, ein Wort aus der Goethe-Zeit: Uwe Greßmann sei ein „Originalgenie“. Für Günter Kunert war er ein Schriftsteller, „der die seelische Substanz besaß, die zu einem Spitzenplatz in der Hierarchie der Literatur berechtigt“. Und Richard Pietraß hat 1982 bei Reclam einen Sammelband zu Greßmann herausgegeben (Lebenskünstler), darin der schöne ihm nachgerufene Satz: „Unverändert geht er unter uns: erhobenen Hauptes; hinter ihm eine Wolke mantelaufgerührten Staubes.“
Uwe Greßmann hat Gedichte geschrieben, in denen die Welt noch einmal kurz daran glauben durfte, unschuldig zu werden oder wenigstens für die Dauer von ein paar Versen ein Bild zu sein, das man gern anschaut. „Von Glocken / Läutet der Himmel / Als wär die Kirche / Gar das All selber.“ Er schrieb Gedichte an die Entwicklung, an die Ewigkeit, an Arkadia, an die Luft, an den Raum, an die Erde, an die Zeit, er bedichtete Eimer und Weltseele, das Reich der Schatten, Seife, Zahnbürste und Handtuch: „Du hängst so an dem Nagel / Als wäre das dein einziger Trost.“ Kinderzeichnungen aus Worten, der Kosmos blickt auf den Kleingarten, der Kleingarten ist ein Kosmos, der Kosmos auch nur ein Kleingarten. Wort, das dem Menschen wie ein Tier zur Seite geht. Das Kreatur ist.
Ein Außenseiter, ein Tbc-kranker Mensch, die Krankheit nahm ihm das Leben erwartungsgemäß elend früh, es war der Oktober 1969 und er erst sechsunddreißig. Gestorben im Herbst – Herbst, der aus der „Wohnung des Waldes“ kommt, „darin einst / Tapeten der Hoffnung grünten“.
Er wusste beizeiten: Ihm würde aller Reichtum misslingen, aber nichts würde ihn mehr täuschen können. Wahrer Reichtum. Der Preis ist meistens: leiden. Greßmann blieb stets ein Umhergestoßener, von Pflegeltern ins Waisenhaus, von Heim zu Heim, von Krankenhaus zu Pflegestätte. „Schlimm, niemandes Kind zu sein und wie ein Anzug durch viele Hände zu gleiten.“ So zitierte sein Herausgeber Holger J. Schubert den Dichter aus dessen autobiografischen Aufzeichnungen. Aber so viel Tapferkeit im Selbstbewusstsein! „Die Krankheit kam für mich wie eine Erlösung, die mir Kraft gab, mich zu finden.“ Der Berliner HO-Bote, der Hegel las. Der Mensch mit dem straff nach hinten gekämmten langen Haar und dem weiten wehenden Mantel, daran frech die Kinder zupften. Der Dichter, der ein „Faust“-Stück schrieb, der auch Zeichner und Maler war – und der in einem Brief an Nelly Sachs schrieb, in jeder Poesie klinge Musik, und „sie singt nicht nur, sie sagt uns auch, was uns Raum und Zeit und Ewigkeit und Freud und Leid bedeuten können“.
Seine Lyrikbände tragen die Titel Der Vogel Frühling, Das Sonnenauto und Sagenhafte Geschöpfe, sie erschienen 1966, 1972 und 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle/ Saale, sind in schönes Leinen gebunden, und Horst Hussel schuf die Schutzumschläge. Nur den ersten Band erlebte Greßmann selbst. Im Jahre 1963 war im ND das Gedicht „Ständchen“ erschienen, darin die Zeilen: „In den Kurven spielen / Straßenbahnen Geigen“. Daraufhin ein Leserbrief: „Es gehören schon sehr starke Nerven dazu, das Gekreische der Straßenbahn an den Kurven als Geigenklänge zu bezeichnen… Ich weiß nicht, was sich der Schriftsteller für Vorstellungen gemacht hat, aber bestimmt nicht solche, die einen Arbeiter bewegen.“
Aber dieser Dichter, der im Kreischen der Straßenbahn die Geige hört, ist ein Erlebnis. Weil er die Dankbarkeit fürs Leben auch an quietschenden Stellen nicht aufgibt. Er erhebt sich über nichts, um sich behaupten zu wollen. Das nennt man wohl Liebesfähigkeit – die einen Einsamen beizeiten töten könnte, würde er von der Poesie nicht wiedergeliebt.
Dieser Dichter ist ein Sonderling, ja – aber doch großartig, wie da ein Mensch zwar im Alltag stolpert und am Leib erfährt, was so gar nicht zum Lachen ist, er aber zum Glück belustigt wird aus unendlicher Ferne, wo das Sagenhafte wohnt. Empfindung ist in diesen Gedichten das beste Selbstgemachte, das sich der Mensch zubereiten kann. Ohne fremde Rezeptur. Diener keiner Macht. Dazu muss man Intelligenz haben, aber gängige Schlauheit überwinden können. Man muss können, aber mehr noch: nichts anders wollen, als vollkommen unmittelbar zu sein. Um etwas zu begreifen von der Welt, achte man auf jene, die damit beschäftigt sind, nichts begreifen zu wollen. So gibt sich die Fülle der Bewandtnisse ihnen und uns hin. Stephan Hermlin nannte diese Dichtung „plebejisch“, Greßmann habe ihn „in Verlegenheit gebracht“ – wie uns immer in Verlegenheit bringt, was über Jahre hin wirklich naiv geblieben ist.
Ein Vergessener? Zuletzt ist alles gleichgültig außer der Stärke, die ein Dichter beim Warten hat. Einer, der schrieb, und wenn’s nur einer wäre, der liest: Das ist, was man Verbindung nennt. Und nie ist es bloß einer, der lesend weitergibt!
Am 1. Mai wäre der Dichter Uwe Greßmann, 1933 in Berlin geboren, 80 Jahre alt. Geigt, ihr Straßenbahnen, kurvend euer Ständchen!
Ein Mann geht durch die Stadt. Er geht schnell. Er ist Bote, verdient sein karges Brot bei den Gaststätten Berlin-Mitte. Ein Mann, hager, von hohem Wuchs, mit klarem, offenem Blick, hoher Stirn, leicht vorgestrecktem Kinn, winters wie sommers in einen weiten grau-grünen Lodenmantel gehüllt, der sich in einem starken Gegensatz zu seinem dünnen Leib zeigt, auf dem Kopf ein dunkles Pelzkäppchen, fällt auf in seiner Umgebung. Aber der Mann ist mehr, viel mehr als ein Bote. Der Mann, der auch in seiner freien Zeit auf langen Fußwegen oder mit der Bahn durch die Stadt streift, ist ein junger Dichter, einer der begabtesten, originellsten Dichter in diesem Land. Sein Name: Uwe Greßmann.
Dieser Dichter hat den Kosmos im Kopf; Sonne, Erde, Mond und Sterne, den Staat, die Gesellschaft und Wirtschaft, Idyllen, den Kinohimmel, den Pressebaum „…auch in den Blättern des Pressebaums ist dann zu lesen…“ (aus „Werbung“), … Und er ist der Bote des Frühlings, angestellt beim Vogel Frühling, den er besingt:
… Daunen dringen aus Dir
Davon kommen die Blumen und Gräser.
Federn grünen an dir
Davon kommt der Wald…
(aus Der Vogel Frühling).
Erinnerung – Es war Nacht. Irgendwann Anfang 1969. Wir kamen aus dem Lyrikclub Pankow, Vinetastraße, wo, wie jede Woche, junge Leute ihre neuesten Gedichte vortrugen. Unter den Zuhörern Uwe Greßmann, der kerzengerade auf seinem Stuhl saß, die anderen überragend, aufmerksam zuhörte und gelegentlich kritische Anmerkungen machte, die den Texten gut taten. Wir kamen also aus dem Klub und gingen zur Straßenbahnhaltestelle Berliner Straße. Wir redeten eine Weile, wahrscheinlich über Kunst, Gedichte. Der Frühlingsbote lud mich ein, ihn in seinem Zimmerchen zu besuchen und an einem vereinbarten Tag seine Zeichnungen zu betrachten. Ich hatte diesen Wunsch geäußert. Die Straßenbahn kam. Er liebte die Straßenbahn, wenn er aus der Ferne hörte, wie sie um die Kurve fuhr. Aber jetzt war keine Kurve weit und breit zu Stelle. Die Straßenbahn konnte ihre Kunst nicht hören lassen. „… In den Kurven spielen Straßenbahnen Geige…“ (aus „Ständchen“). Es war das letzte Mal, dass ich Uwe Greßmann sah.
Das Geigenspiel der Straßenbahn in der Kurve ist für den Frühlingsboten eine Feier, wenn er es aus der Ferne, in den Gärten der Stadt, hört. Und er besingt auch andere gewöhnliche Dinge des Alltags: die Seife, das Handtuch, die Zahnbürste, den Eimer; das macht, dass die Dinge menschlich werden und er redet zu ihnen:
Du seifst mich ja schön ein
Und schäumst vor Wut,
Weil ich dich in der Hand habe
Und du deine Abreibung kriegst.
Und wie weich du dann wirst
Obwohl du doch so hart sein kannst.
Aber was ist das schon?
Ich halte mich über Wasser
Und Wanne, wenn ich den Stöpsel ziehe,
Und trockne mich ab.
Da, sieh mich an, Seife,
Ich bin sauber.
Und du ?
(„Die Seife“).
Erinnerung – Es war am 1. Mai 1968. Schriftstellerbasar im Kino International. Romanciers, Lyriker, Übersetzer hatten sich versammelt, saßen an Tischen, signierten, verkauften ihre Bücher, redeten mit ihren Lesern. An einem der Tische saß Uwe Greßmann. Auf dem Tisch ein kleiner Stapel seines ersten Gedichtbandes Der Vogel Frühling. Ich kaufte ein Exemplar und bat ihn, mir etwas hineinzuschreiben. In seiner wundersamen Vogel-Frühlings-Kalligrafie schrieb er: „Ich bin der letzte / Und komme zu ernten / Was ihr gesät habt.“ (aus „An den Herbst“) Ich rätselte über diese Verse und auch die Geheimen, die das Buch ein Jahr später in die Finger bekamen, rätselten.
Der Frühlingsbote schreibt Verse über Schilda, das Land, in dem er lebt. Es sind groteske, auch ironisch satirische Gedichte über die Zustände in Schilda:
… (Spruch auf der Stirn des Eingangstoren Schildas):
‚Der du eintrittst du hast hier nichts zu lachen
Hier gilt der tierische Ernst
Willst du hier Witze machen
Kriegst du damit du es lernst
Anständig eines auf die Nuß
Daß du noch später daran denken mußt‘
Du hast hier nichts zu lachen…
(aus „Und so empfingen mich Schildas Witze“).
Lebte der Frühlingsbote heute noch, fände er sich in einem ungleich größeren Schilda wieder und mächtigeren, geschmückten und geputzten oberen Ochsen gegenüber. Es säße vielleicht unter dem unendlich verzweigten Pressebaum und stritte mit den Blättern. Oder aber er schriebe weiter gegen Schilda an. Letzteres wäre sehr wahrscheinlich.
Uwe Greßmann hat ein kurzes Leben. Er wächst in Kinderheimen und bei Pflegeeltern auf. Seine leibliche Mutter kümmert sich wenig um ihn. Über seine Kindheit schreibt er im „Lebenslauf (1)“:
Schlimm, niemandes Kind zu sein und wie ein Anzug durch viele Hände zu gleiten. Gefall ich nicht? Könnte ich mich an irgendwen halten. An einen Bügel etwa. Ich hänge an ihm wie an einem Vater.
Er leidet zwanzig Jahre lang, seit 1949, an Tuberkulose, unterbrochen von Phasen, in denen es ihm besser geht. Als er endlich eine eigene kleine Wohnung in der Gaillardstraße in Pankow beziehen kann, wird er sich nur ein knappes Jahr daran erfreuen.
Ziehen viele in
Andere Straßen
Auch, weine nicht.
Altes Haus, ich
Bleibe noch.
(„Trost“)
Wenn er aus dem Fenster sieht, blickt er auf einen Friedhof. Dort wird sein erstes Grab sein.
Erinnerung – Ich war eingeschlossen. Zwei Meter bis zur Wand, vier Meter bis zum Fenster. Das Fenster unerreichbar hoch. Durch die Klappe wurde die tägliche Zeitung gesteckt. Eines Tages darin ein Nachruf: Uwe Greßmann war gestorben.
Uwe Greßmann stirbt mit sechsunddreißig Jahren am 30. Oktober 1969. Sein erstes Grab erhält er auf dem Friedhof Pankow II an der Gaillardstraße. Nach fast fünfundzwanzig Jahren wird er umgebettet und auf dem Friedhof Pankow III an der Leonard-Frank-Straße beigesetzt.
Manchmal flüstert es dort aus der Erde: Ich bin der Letzte und komme zu ernten, was ihr gesät habt.
Am ersten Mai 2013 hätte Uwe Greßmann seinen 80. Geburtstag feiern können.
(…) Das ist ein guter Mann, das ist ein bedeutender Mann! So A. Endler, einer der Förderer des Naturtalents Uwe Greßmann (1933–1969), der in den sechziger Jahren wirr und leise durch die Hintertür in die Literatur eingetreten war und gleich wieder verstummte. Erst knapp vor seinem Tod erfuhr die Öffentlichkeit von ihm. In den siebziger Jahren erschienen dann vier Gedichtbände aus seinem Nachlaß.
Geboren im schlimmen Jahr 33… Den Vater sah ich nie, die Mutter etwa drei Wochen; sonst lebte ich unter Fremden4 in Waisenhäusern, Kinderheimen, Massenquartieren, Umsiedlerbaracken, Krankenhäusern, Heilstätten. So war er in den sechziger Jahren aufgetaucht wie einst der Heimkehrer Beckmann in Borcherts Draußen vor der Tür:
Groß und unbeschreiblich dürr, mit langem… strähnigem Haar… einer Art Gasmaskenbrille im eckig gelblichem Gesicht und grünem Lodenmantel, der fast bis an die Knöchel reichte… und er wohnte… in einer engen, elenden Kabuse zwischen Schmutz und meterhoch getürmten Scharteken, auch eigenen potenten zeichnerischen Versuchen… und es stank dorten martialisch…
Und er sprach andauernd von Hölderlin und Rilke, von alten Persern, Ägyptern und Chinesen, von Homer, Kant und Hegel, lebte mit einer lebensbedrohlichen Perlonplombe in der Brust und war gezeichnet von mehreren Todkrankheiten. Und er schrieb Idyllen! Die er beharrlich rezitierte. In ihnen drängte er mit nahezu stupider Besessenheit allen Schmerz und alles Leid, die furios in ihm hausten, zurück. Er schrieb Schilderungen friedvoll bescheidenen ungetrübten Daseins harmlos empfindender Menschen unter Sonnen, Monden, Sternen. Seine Verse waren ein Triumph über persönliche Erbärmlichkeit und Miserabilität.5 (268/695 ff)
Er war ein Naiver, ein Henri Rousseau der Poesie, aber mit messianischem Sendungstrieb, und damit war er unversehens zwischen die Fronten der Lyrikkrieger geraten, und er betrachtete diese Auseinandersetzungen ungläubig, als bekriegten sich da Schildbürger einer sonderbaren Population, die sich im Planeten geirrt hatte: Zeit und Raum, Mikrokosmos und Makrokosmos ineinander verschoben. Eine Waise, die das bittere Leben zum altklugen Weisen gemacht hatte. Ein Schwejk gar?
Deine Mütze ist ja blutrot. Steuermann.
Und steht man auf Deck der Erde
Sieht man doch vielleicht aus
Den Augen hier:
Wie du erschöpft scheinst
Und gestochen von der Wolken glühendem Messer
In die Knie sinkst, den Tag zu enden
Und da:
Wie du trotz der Wunde,
Die selbst die ferne Kajütenstadt noch rötet,
Aufstehst, du Glanzvoller,
Und abends und morgens derselbe bist,
Als machte es dir nichts aus,
Das Steuer in den Händen weiter zu halten…6
Das war doch potenzierte Potatenkritik hinter skurriler Maske! Da tat doch einer nur unschuldig, wenn der Die Firma (jeder in der DDR wußte, daß damit die Stasi gemeint war) Irma nannte und ihre Geschäftchen in den Toilettenbereich verbannte:
… die Leute sagen:
„Na das kennt man ja schon:
Das ist so ihr Geschäftchen:
Wovon sollte sie auch sonst leben??“
Und die Toilettenfrau verdient da ihr Geld auch…
… kann sie es verhindern,
Daß ihr die Hygiene aufs Dach steigt?7
Das war doch nur scheinbar so leicht und heiter und spielerisch hingesagt. Da sprach doch die Erfahrung eines Paria mit. Doch nur selten drang die Misere pur in die Zeilen, meist hielt er sich Thalias Maske vor. Im Nachlaß dann erst die Demaskierung, das direkte Eingeständnis von Schmerz und Todeserwartung:
Nur halb hat den grünen Becher geleert
Wer am Ende des Weges
Dem Trank noch nachtrauern will
Doch das dunkle Haus schon betreten muß…
Aber nur eine Maske ja kannst du sein
So oder so und nicht anders…8
Eine elegische Heiterkeit hinter der Narrenmaske. Ein Bajazzo, der sich an manchen grotesken Alogismen wärmte. Versteckt zwischen Heiteretei und Nonsens plötzlicher Tiefsinn, nicht von der überlegen-kultivierten Art eines Morgenstern, eher von der Art eines berlinischen Rigoletto, der unterm Mantel seine Gilda birgt. Oder: Da sang einer eine Ode auf das Quietschen der Straßenbahn, das er von fern für den Klang einer Geige hielt.
Er starb zwei Jahre nach dem Erscheinen seines ersten Gedichtbandes. Der Rest war der Nachlaß eines 36jährigen.
(…)
Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995
Steffen Popp: Uwe Greßmann: „An den Vogel Frühling“
Marie Luise Knott: Du richtest den Kopf hoch
perlentaucher.de, 27.10.2014
Franz Liebig über den Dichter Uwe Gressmann (1933–1969), dessen lyrisches Werk und Existenz in der Berliner Nachkriegszeit.
Und so empfingen [uns] Schildas Witze
Die Autoren Andreas Koziol und Richard Pietraß im Gespräch über Uwe Greßmann
(Kurzer Ausschnitt der Veranstaltung vom 18.4.2013 in der Galerie Pankow)
Moderation: Martin Jankowski (Berliner Literarische Aktion)
FÜR UWE GRESSMANN
Summton des Sommers
Ah wie die Abende
Schwellen
Türen pendeln
Blättergeläut
Der Himmel erscheint
Gestempelter Tag
Taubheit tasten die Bäume
Ich warte
Im Vorraum
Vor dem Gesetz
Den Antrag zu stellen
Auf Schweigen
Summton
Stumme Erhebung
Ich schreite
Durch eine Tür
Gleich setzen
Auf blauschwarze Kissen
Die Stempel
Besiegelter Tag
Gezeichnet: die Zeit
Ein Abgang
DER NÄCHSTE BITTE!
Peter Gehrisch
HOMMAGE AN U. G.
Einmal aber, du schaukelst durchs Leben
schlecht und recht
da kommt einer
will deinen Fahrschein sehen.
Du aber kannst ihn nicht finden
in deinen Taschen
und weißt doch:
du hast ihn gehabt.
Oder du findest ihn
aber er erklärt ihn
für NICHT GÜLTIG
verweist dich des Lebens
das weiterrast
nur du bleibst zurück.
Gerd Adloff
Hans-Dieter Schütt: Straßenbahns Geige
nd, 30.4.2013
Peter Will: Der Bote des Frühlings – Uwe Greßmann
Das Blättchen, 13.5.2013
„Vogel Frühling“ – Uwe Greßmann zum 80. Geburtstag
Galerie Pankow, 10.4.2013–2.6.2013
Michael Mäde-Murray: Die Welt umdeuten
junge Welt, 30.4.2023
Durch Zufall entdeckte ich in dem Band” Der magische Weg” sein wunderbares Gedicht vom Vogel Frühling.
Schon dieses Gedicht hat mich zutiefst berührt und betroffen gemacht. Und als ich dann seinen Lebenslauf las, war ich erschüttert: Ich habe bis 1979 in der DDR gelebt und mich immer für Literatur interessiert (ich war Opernsängerin), und ich habe nie seinen Namen gehört oder gelesen!
Nun bin ich achtzig Jahre alt und glücklich über die späte Begegnung!