AN DIE EWIGKEIT
Geradeaus geh bis ans Ende
Der Weltstadt den Weg wo
Der Sternbaum blüht weithin
Schon siehst du dann einen
Ast über den Städten und Dörfern
Sich neigen Das Himmelstor nennet man
Die seltsame Form des Gewächses
Und harret da lauschen
Und schweigen die Winde
Und Stille verkündet
Und die mit dem Auto hinausfahrn
Entsteigen am Ende der Weltstadt
Dem Lärm und erklären
Nanu? Denn der Sternbaum trägt dieses
Jahr reichlich so sagen die Gärtner
Und wer da hinaufwill
Im Zeichen der Ernte
Nach Sternen zu greifen
Läuft rings herum bis er
Die Stelle gefunden hat und
Stellt die himmlischen Leitern
Hin an das Geäst und
Beherrschet das Reich jener Höhen
1
In einem Brief, den mir Greßmann am 28.5.1967 schreibt, sagt er über seine Dichtung: „Bei oberflächlichem Lesen könnte der Eindruck entstehen: daß in den Kurven Geige spielende Straßenbahnen lediglich in der heutigen Großstadt erlebbar und in diesem Punkt auch Zeugnisse der „Gegenwartsliteratur“ seien. Aber kann es da überhaupt noch Beziehungen zur Überlieferung geben? Scheinbar wohl nicht. Und doch: In bestimmten Zusammenhängen wird man die Beziehung zur Überlieferung erkennen: da die auf das Gegenwärtige beschränkte Schreibweise Vergangenes nur in bestimmten Anspielungen umschreiben kann, verschlüsselt sie auch, was sie sagen will.
Wer zum Beispiel die griechische Sagenwelt nicht kennt, wird wohl kaum einsehen können, daß Volksmund und die ein Konzert gebende Großstadt im „Vogel Frühling“ den sagenhaften Sängern der Griechen Orpheus und Apollo entsprechen.
Setzen wir beispielsweise in dem Gedicht „Moderne Kunst“ für „Stadt“ „Apollo“ ein, so mag uns die nun entstehende Wendung
Aber Apollo, der Pfeile der Pest einst schoß…
Viele des Volkes da traf er…
an den Anfang der Iliade erinnern, wo Apollo Pfeile der Pest ins Lager der Achaier schoß. Und der Tod, der viele dahinrafft, tut es nun im Zeichen der Großstadt nicht mehr mit Pfeilen, sondern mit Verkehrsunfällen. Ob hier in der Großstadt ein Krieg stattfindet, wie der zwischen Trojanern und Griechen? Vielleicht der zwischen Fußgängern und Kraftfahrer? Solche Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart muß ich im Vergleich stillschweigend voraussetzen. Sie zu nennen, hindert mich die Absicht, es von der Gegenwart aus zu sagen. Diese stillschweigende Voraussetzung ist somit die in die Vergangenheit zurückführende Brücke. Das Moderne, das überhaupt „Gegenwartskunst“ ist, kann das Vergangene auch unter dem Gesichtspunkt:
„Es war alles schon einmal da.“ voraussetzen. Sicher, die Geige spielende Straßenbahn gab es früher nicht, wohl aber das Weinen und Lachen der Menschen, das Gehen auf den Füßen. Vergegenwärtigen wir uns, daß Apollo zum Schießen Hände braucht, ja daß er tatsächlich Hände hat; und: daß er damit auch die Tür der Straßenbahn öffnen könnte, lebte er unter uns, so erklärt sich uns auch von selber, was wir voraussetzen müssen: das allgemein Menschliche.“
Das nun mag verblüffen oder irritieren; jedenfalls sagt es etliches aus über den Verfasser und über die „Sagenhaften Geschöpfe“ allzumal.
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„Irma heißt die Firma“, sagte Greßmann im „Vogel Frühling“, und Adolf Endler fügte gewissenhaft hinzu: „… und nicht etwa Erna oder Liselotte.“ Das ist inzwischen hinlänglich bekannt. Aber wußten Sie schon, daß Bäume eine Ausstellung ins Leben rufen und nicht etwa der Kulturbund? Und daß hier, wo sich die Zeiten so in die Quere kommen, der Kalender ein alter Herr ist, ist das schon ein alter Hut für Sie, nachdem Sie mit den „Sagenhaften Geschöpfen“ sich gerade erst befreundet haben? Wie dem auch sei! Daß Faust und der alte Oberförster Hugo sich hier begegnen mußten, das versteht sich jedenfalls von selbst. Oder sind Sie da anderer Meinung?
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Greßmann jedenfalls hatte ein schweres Leben. Der schon berühmte Satz: „Den Vater sah ich nie, die Mutter etwa drei Wochen; sonst lebte ich unter Fremden.“ Ansonsten Pflegeeltern und Waisenhäuser. Waisenhäuser, man ist versucht zu sagen: ohne Zahl. Zunächst das in der Alten Jacobstraße, später Kinderheim Hohen Neuendorf bei Berlin, Auffanglager Küstrin und Demmin, Umsiedlerlager Berlin und Beeskow, Durchgangsheim Volksdorf bei Hamburg. Greßmann flüchtet; kommt in das Kinderheim Wentorf bei Reinbeck. Dann wieder in Berlin: Durchgangsheime, Kinderheim, Lehrlingsheim schließlich: bis 1949. Zwischendurch bei Pflegeeltern (1939 Selbstmord der ersten Pflegemutter, wieder ins Waisenhaus, später bei der zweiten Pflegemutter in Schöningsbruch/Neumark und beim Pflegevater in Augsburg und Eystätten). Dazwischen liegen Stationen, Stationen, Stationen. Dann kommen die Krankheiten. 1949 bis 1954 muß sich Greßmann wegen Tbc in Krankenhäusern und Heilstätten aufhalten. Später ein Nierenleiden und zeitlebens eine akute Schwäche seiner physischen Konstitution. Frühe Unterernährung und Krankheiten haben deutliche Spuren hinterlassen. Psychische Spannungen folgen. Die große Selbstverwirklichung Greßmanns wird seine Dichtung. Sie reicht – niemand hat es treffender gesagt als Greßmann selbst – „vom Kosmos bis zum Klo“.
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Ich hoffe, Sie haben die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich auf den „Strecken des Himmels“ gehörig getummelt; und wenn Sie mußten, durften Sie auch jenes stille Örtchen aufsuchen. Oder wie es Greßmann nennt: „Das Klo“. Die „Sagenhaften Geschöpfe“ haben an alles gedacht. Hoffentlich haben Sie nicht die Fahrt im „Sonnenauto“ verpaßt!
5
Uwe Greßmann konnte nur das Erscheinen seines ersten Gedichtbandes erleben. Bereits Das Sonnenauto erschien postum. Die vorliegende, aus dem Nachlaß des Dichters zusammengestellte Ausgabe stützt sich auf Handschriften und Typoskripte des Autors: je nachdem, was als Fassung letzter Hand in Betracht kam. Der Wunsch des Autors, bei einer Veröffentlichung des Gedichtzyklus’ „Auf den Strecken des Himmels“ auf die Wiederholung dieses Titels bei den einzelnen Gedichten zu verzichten, wurde von mir befolgt. Dieser vollständig erhaltene Zyklus aus dem Nachlaß wird hier in der von Greßmann festgelegten Gedichtfolge gedruckt. Die Numerierung der Gedichte stammt vom Autor. Die übrigen Kapitel des Bandes wurden vom Herausgeber zusammengestellt und nach Gedichten Greßmanns benannt; im vorletzten Kapitel wurde der Titel einer Gedichtzeile entnommen. Hier, im Kapitel „Die große Meckerin“, nahm der Herausgeber die Numerierung der einzelnen Arbeiten vor, die aus einer größeren Anzahl von Witz-Gedichten ausgewählt wurden.
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Greßmanns Habitus war derart leptosom, daß man glauben konnte, der Dichter wäre ein begehrtes Modell Ernst Kretschmers gewesen und sei dessen berühmtem Buch Körperbau und Charakter gerade erst entstiegen. Er hatte große Augen, trug das Haar lang und ungescheitelt und nach hinten gekämmt. In den Gesprächen, die wir miteinander führten, philosophierte er gern über Kant und Hegel und mit der gleichen Selbstverständlichkeit über sich und den Stuhl, auf dem er eben saß, entdeckte verblüffende Zusammenhänge und manchmal ganz für sich auch etwas, das vor ihm schon längst entdeckt worden war.
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Das war der Dichter Uwe Greßmann, dessen Gesicht schön wurde, wenn er sich freute. Er konnte sich freuen wir ein Kind und war dann ganz beseelt von Freude. Seine Phantasie erschloß ihm eine Welt. Wenn wir sie entdecken, spüren wir plötzlich, daß es unsere Welt ist. Aber so haben wir sie bisher nicht gesehen.
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In all seinen Schöpfungen ist Greßmann gleich gegenwärtig. Das macht sie unverkennbar. Daß sie das Leben ernst nehmen, mag einer der Gründe sein für die nicht selten ungewöhnliche Heiterkeit dieser Poesie. Immer wieder stehen wir vor einer erstaunlichen Phantasie. Dabei ist der stete Sinn für die Realitäten des Lebens unverkennbar. Welch ungewöhnliches Denken in Bildern! Kleine Dinge erhalten plötzlich ihre große Dimension. Etwas so Großes aber wie der kosmische Raum wird so wortwörtlich genommen, daß er unversehens dem Raum eines Hauses vergleichbar wird. Wie ein Weltweiser regiert Greßmann im Spiel-Raum seiner Dichtung. Und sein Spieltrieb ist beträchtlich. Wie eigenwillig verbindet er Kosmos und Alltag und Sage und Gegenwart! Die „sagenhaften Geschöpfe“, denen wir begegnen, sind so alt wie die Märchen und Mythen und so neu, wie Greßmann sie erfindet. Sein Faust ist „nicht mehr der Alte, / Wie Sie ihn vom Volksbuch her in Erinnerung haben“, er muß sich nicht (will er Erkenntnis) dem Teufel verschreiben, sein Faust, der „die Dinge gleich Glas durchschaut“, hat (was ihn bewegt) erkannt: auch Kunst, auch Wissenschaft. Greßmann nennt ihn ihren Schöpfer. Seine Dichtung ist ohne Vergleich. Ihr verdanken wir es, wenn wir endlich wissen, daß die Sterne unsere Genossen sind und die Fenster im himmlischen Haus.
Holger J. Schubert, Nachwort
wurde dieser Lyrikband zusammengestellt, der nochmals die schöpferische Kraft des Poeten und die Meisterschaft seiner Dichtung offenbart und unter Beweis stellt.
Bereits Greßmanns erster Gedichtband Der Vogel Frühling war ein literarisches Ereignis. Mitten in der Vorbereitung seines zweiten Bandes starb der Dichter: Das Sonnenauto erschien posthum. Der dritte Band nun, Sagenhafte Geschöpfe, überzeugt nicht zuletzt durch verblüffende Phantasie. Dabei ist der stete Sinn für die Realität des Lebens unübersehbar. Einfallsreiche Bildschöpfungen von hoher Originalität und disziplinierte Gedankenführung, geniale Einfachheit schließlich: All das ist charakteristisch für Greßmanns Dichtung, sei es, daß er uns in Ausstellungsräumen mit „sagenhaften Geschöpfen“ bekannt macht, daß er uns mitnimmt auf den Strecken des Himmels oder uns die Räume im Haus ganz neu sehen läßt, sei es, daß er uns inmitten des Todes ein Versöhnungsstraße entlang führt, die Geschäftsleitung befragt, Volksmunds Einzug in Schilda beobachtet, der großen Meckerin lauscht oder der Herr seine Geschichten erzählt.
Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 1978
− Zu nachgelassenen Gedichten von Uwe Greßmann. −
Uwe Greßmann erlebte als 33jähriger die Veröffentlichung seines ersten Gedichtbandes. Die Publizierung war das Glück für einen Menschen, der wenig glückliche Stunden kannte. In Waisenhäusern groß geworden und auch empfindsam, von dauerndem Kranksein geplagt und auch geprüft, erfuhr er Unbill genug. Dennoch scheute er nie vor dem Leben zurück. Er hat es gehütet und behütet, solange er das konnte. Uwe Greßmann wußte wie gut das Leben ist, das jeden Tag neu gewonnen werden muß. Der Dichter hat viel aus dem gemacht, was er sich, Tag um Tag, gewann. Greßmanns Spur ist da! Kurz, doch nicht ohne weiteres zu verwischen.
Erschien bereits der zweite Band Das Sonnenauto postum, so ist nun in einem dritten Band vereint, was sich im Nachlaß befand und für die Veröffentlichung geeignet war. Holger J. Schubert, der Herausgeber der Nachlaß-Sammlung Sagenhafte Geschöpfe, 112 Seiten, 5, — Mark, der umsichtig-erfahrene Lyrik-Lektor des Mitteldeutschen Verlages, der ein ausgezeichneter Kenner der Lyrik-Szene des Landes ist, hat einen Band auf den Weg gebracht, der mit viel Verständnis für den Autor und aller gebotenen Sorgfalt aufgebaut ist.
Uwe Greßmann, der so viele bittere Ereignisse und Einflüsse abwehren mußte, vertiefte und erhöhte alle Lebensumstände durch seine reine, reiche Phantasie. Mit der Phantasie, durch die Phantasie lebte Greßmann. Sie machte ihn produktiv und so zu einem Poeten. Als Dichter war er nie verlegen. Er war freimütig-besonnen, wenn er für die vielen erschauten Welt-Bilder seine Poesie-Bilder setzte. Bilder, die seine Gedanken freisetzten wie den Vogel, der aus dem Käfig entlassen wird. Den Phantasievollen, der das allgemeine Manko an Phantasie wahrnahm, stimmte der Verlust nicht eben froh. Eher melancholisch gestimmt, versagte sich der Lyriker jedoch allem Lamentieren oder Schwelgen in Tristheit. Die Sprache des Uwe Greßmann ist die Sprache eines Optimisten, eines großartigen Naiven, der natürlich sein konnte, weil er ganz und gar ursprünglich war. Selbst wenn Greßmann Zwiesprache mit dem Tode hielt, dann zettelte er nicht ein Gruselgespräch mit dem Sensenmann an. Er sprach mit dem Freund Selbstverständlichkeit. Nicht mit Beklommenheit liest man die Gedichte über den Tod, sondern mit der ruhigen, besinnlichen Grundhaltung, die die Grundstimmung des Verfassers stets ausmachte.
So wenig der Lyriker ein Romantiker war, so konnte er doch auch romantisch sein. Und das nicht, weil er das Romantiker-Vokabular (Himmel, Nacht, Licht) entschlossen frequentierte. Das nicht, weil er auch einen ausgeprägten Sinn dafür hatte, sich souverän in außerirdischen Regionen zu bewegen: in „himmliehen Häusern / in denen die Sterne Fenster sind“. Die gelegentlich phantastisch anmutende Bilder-Welt des Uwe Greßmann ist phantastisch, wenn sie die bleibelasteten Dinge beflügelt und so vom Fleck bringt. Ohne sich den Bedrängnissen zu verweigern, den Problemen entziehen zu wollen oder gar zu können, die Lyrik Greßmanns ist immer auch ein Versuch, die Entlastung zu probieren. Der Dichter ist romantisch, träumt er die Träume der Wälder, die keine Stille kennen, Flüsse, die ruhelos ziehen, der Wolken, die ihre Unbeständigkeit treibt, des Alls, das jedermanns Stimme auffängt und schluckt. Er ist romantisch in seiner Hingebung zu den „Bräuchen der Wälder“, zu Moos und Gras, zur Natur-Welt an sich. Sie ist die Lebenswelt, der Raum also, in dem leichter zu atmen ist, weil der Atem weiter reicht als von Hauszeile zu Hauszeile, zwischen denen der Atem und auch die Bewegungen kanalisiert werden.
Greßmanns Gedichte sind ein dichtes Vergangenheits-Gegenwarts-Zukunfts-Gewebe mit originalen Mustern und seltenen Strukturen. Die erzählerischen Ambitionen haben den Lyriker bestärkt, sich auch auf Zyklen einzulassen („Auf der Strecke des Himmels“). Sie lassen einen Greßmann erkennen, der von rethorisch-lapidarem, unmittelbarstem Ausdruck sein konnte. Der Herausgeber hat in die Ausgabe auch ein knappes Dutzend „Witz“-Gedichte aufgenommen. Sie sind nicht der Pferdefuß des Lyrikers. Sie sind ein Akzent und bestätigen wie locker der Lyriker die Feder zu führen wußte. Sie bestätigen, daß der sonst so Erzählerische sich auf die knappe aphoristische, humorvolle Pointierung verstand, ohne seine absichtsvoll-ernsthaften Aussagen unter Preis abzugeben. Gegen Greßmanns künstlerisches Versagen stand stets sein verhaltenes Pathos, das dem Wort voll gerecht wird, das bei dem Lyriker für Ergriffenheit stand. Als ein Von-der-Welt-Ergriffener war Uwe Greßmann ein Feststeller, der keine Entscheidungen erzwang, denn sein Leben schwang zwischen „Weltstadt“ und „Himmelstor“.
Bernd Heimberger, Neue Zeit, 21.5.1979
„Den Vater sah ich nie, die Mutter etwa drei Wochen; sonst lebte ich unter Fremden…“ Dieser Satz des 1933 in Berlin geborenen Uwe Greßmann charakterisiert sein Leben. Seine Kindheit verbrachte er in zahllosen Waisenhäusern und bei Pflegeeltern. Die Lehre als Elektroinstallateur mußte er abbrechen, da eine schwere Tbc ihn zu fünfjähriger Bettruhe zwang. Auf diese Weise wurde auch das beabsichtigte Studium an der ABF unmöglich.
Welche Art Lyrik wächst aus einem solchen Leben? Allein die Titel der bisherigen Bände weisen darauf hin: Der Vogel Frühling, 1966 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) erschienen, und das schon postum 1972 herausgegebene Sonnenauto. In dieser Lyrik ist nichts von großem Leid und Tragik, leise Andeutungen ausgenommen. Da wird eine Welt in der Phantasie entworfen, in der in komprimierter und origineller Bildsprache der Kosmos auf die Erde geholt wird und die privaten Räume ausgedehnt erscheinen. Eine poetische Welt entsteht, in der weder Märchen- und Sagenfiguren fehlen, weder der „alte Faust“ noch das reale Leben heute.
Studien zur Literatur betrieb Uwe Greßmann autodidaktisch. Seine ersten Gedichte wurden in der NDL und in Anthologien publiziert, und mit seinem Vogel Frühling wurde er über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. Der sowjetische Literaturkritiker Ratgans schrieb zu diesem Band: Er ist „eine so natürliche und kühne Annäherung von Himmlischem und Irdischem, daß diese Verse ein modernes Weltempfinden ausdrücken – der Himmel ist keine kalte planetarische Welt mehr. Der Mensch geht durch den Sternenhimmel so frei wie über die Erde.“
In den im Band Sagenhafte Geschöpfe, aus dem Nachlaß zusammengestellten Gedichten, führt der Autor den Leser durch „Ausstellungsräume“, die von Bäumen getragen werden. Er geht mit ihm die „Strecken des Himmels“, greift das ewige Thema von Leben und Tod in seiner „Versöhnungsstraße“ auf und wendet sich gleichzeitig den kleinsten, aber notwendigen Dingen des Lebens zu. Greßmann setzt alle Geschöpfe seiner poetischen Welt miteinander in Beziehung, sie sind in allen Gedichten auf irgendeine Art und Weise mit anwesend, sei es der „Volksmund bei seinem Einzug in Schilda“ oder die „Große Meckerin“, die Witzgedichte erzählt.
Diese Lyrik zeigt, wie Uwe Greßmann kraft seiner Phantasie seinen eigenen lyrischen Weltkreis ausschreitet. Und der Leser wird merken, auch wenn sich womöglich seine naturwissenschaftliche oder philosophische „Seele“ sträubt: Alles, was in den Gedichten im einzelnen entsteht, ist ihm bekannt, doch in diesen „sagenhaften Zusammenhängen schon wieder neu und bemerkenswert.
Barbara Wallburg, Neues Deutschland, 26.5.1979
Wer sind Uwe Greßmanns sagenhafte Geschöpfe? Es sind z.B. der Vogel Frühling, der Volksmund, Doktor Faustus, Erde und Himmel (die Eltern des Menschen), Birkenfrauen, die Ansage und die Urmunen (die Völker der Rehe und Hirsche), und sie leben in jenen Ländern, die Schneewittchen und die sieben Zwerge, Dornröschen, der gestiefelte Kater, Rotkäppchen und der Wolf bewohnten – und in die auch Greßmanns Gedichte gehören. Sie selbst sind sagenhafte Geschöpfe. Der damit ezovierte Doppelsinn ist bezweckt und wäre im Sinne des Autors. Auf kauzige Weise wirbeln hier Vorstellungen, Bilder aus Mikro- und Makrokosmos, personifizierte Begriffe aus Alltag, Politik, Mythos und Geschichte durcheinander, setzen sich wie im Kaleidoskop zu Geschöpfen der Sprache und der Phantasie zusammen. Aus „sagenumwobenem Land“, in dem die Weltseele oder der Herr spricht oder die große Meckerin in Witzgedichten und Volksmund in Schilda, erinnern sie an „die alten Tage“, die „alte Lebenskunst“, an den Märchenprinzen, der heute nicht mehr „den Stacheldraht durch will, Dornröschen aus dem Rosenlager zu befreien“, an „die Ideale früherer Tage“, die heute keiner mehr kennt.
Und wer noch wagt es so aufzutreten
Wenn dort nicht gerade das närrische Treiben auf dem Kalender steht
Und erlaubt
einstiges wenigstens ein paar tolle Tage lang
nachzuerleben
Und: aus der Mottenkiste hervorzugraben
Ein Karneval der Sprache, ein Maskenfest der Phantasie sind diese zyklisch, wie im Tanzreigen miteinander verschlungenen Gedichte, und von einem Realismus wie im Märchen, wo noch das Wunderbarste selbstverständlich ist. Wenn irgendwo, dann hat die poetische Phantasie hier die kosmische, weltenumspannende und -schöpferische Perspektive gefunden, mit der nach dem Flug des Kosmonauten Gagarin die Ästhetik des sozialistischen Realismus erweitert wurde und die doch meistens nur zum Verlust der Welt und zu sprachlicher Leere im Gedicht führte. Hier ist Fülle, Sinnlichkeit, Anschaulichkeit im Abstrakten, Heiterkeit, Witz, Magie, ein Verliebtsein in den Menschen als mythisches und geschichtliches Wesen.
Uwe Greßmann, geboren 1933, seßhaft in der DDR, starb 1969 an der Schwindsucht; dieser, wie der vorhergehende Gedichtband Das Sonnenauto, sein zweiter nach Der Vogel Frühling (1966), erscheint posthum.
Gerhard Kluge, Deutsche Bücher, Heft 3, 1979
Helmut Fensch: Morgens gongt die Sonne
National-Zeitung, 18.6.1979
− Die Welt Uwe Greßmanns. −
Motto:
Er war ein Narr. Gewiß das auch.
Denn vor das Außergewöhnliche haben die Götter das
Pathologische gesetzt.
Zum Schutz der Gewöhnlichen.
(Alfred Polgar über Peter Altenberg)
Die vielen Zettel, Papierschnitzel, Notizheftchen in Greßmanns Untermieterbude in Pankow, die der Nährboden, der Humus seiner poetischen Weltschöpfung und seines unveröffentlichten „Faust“ waren. – „Also dichten wir / Auch mit Versen / Unserer Zettelchen“, liest uns Greßmann aus seinen Zettelchen vor, von den Blättchen seine Gedichte: die Gedichte der Blättchen. Welch freundliches gärtnerhaftes Verhältnis Greßmanns zu den Büscheln Papiers rings um ihn herum, zu dem Wust seines alle Maße verspottenden Materials, in den er nur hineingreifen mußte wie in einen Korb voller tropischer Blüten, wenn ihm ein Bild fehlte oder eine Idee, in diesen poetischen Urwald, in diese lyrischen Korallenbänke:
Morgenrot gingen die Sonnen im Raum an
Und eingerahmt im Fensterkreuz
Erstrahlt eine andere Welt
So weit weg draußen auch noch
Klapperten die Müllkästen
(Aus „Faust 1“.)
Es ist eine Untermieterkosmogonie; es ist ein Hinterhof-Faust; es ist eine Souterraindichtung −: In diesem winzigen Raum, in diesem „Raum“ mit Eisenbett, Nachttisch und eisernem Kanonenofen, die allmählich zuwachsen (Bücher über Bücher), knapp überm „All“ des Hinterhofs, hier hat er – es ist die Mitte des Jahres ’68 – fünfzehn Jahre lang gewohnt und phantasiert und geschrieben. Ob die inzwischen achtzigjährige gute Frau Gärtner, die Vermieterin, einen Begriff davon hatte, wen sie beherbergte: einen Schamanen, einen Medizinmann? Da wir auf Greßmann in ihrer Küche warten, klagt sie – „Der Uwe will hier weg, der will weg“ – und läßt die Blicke über die antiquierten billigen Küchenmöbel wandern, die offen liegenden rostigen Bestecke, die angeschlagenen Gewürznäpfchen: „Wer wird das dann alles wohl kriegen…?“, also: erben?, da der Uwe weg will… Hinterhaus rechts, Parterre – wenn Greßmann von seinen Botengängen im Stadtzentrum heimgekehrt war, war er eingekehrt in die größere Welt, in der ahistorische Phantasie ihr Schöpfungsspiel beginnen konnte, kindlich-naiv und mit tiefstem Ernst ihre eigene und sehr differenzierte Welt erschaffen, durchwandert sie von einer Vielzahl dunkel-bunter Gestalten, nicht zuletzt jener, die „Volkes Mund“ heißt oder schlicht: „Volksmund“, mit der Greßmann sich selber meinte; eine Welt mit Himmel und Hölle, mit Lebenden-Land und dem Reich der Urmunen (abgeleitet von: Urmutter) und mit dem Land Schilda, Staatsgebilden, Reichen, Landschaften einer imaginären Landkarte, die Greßmann in sich trug, die er aber auch graphisch und tabellarisch darzustellen versucht und durchgerechnet hat – immer wieder, vermutlich am Ende ohne befriedigendes Ergebnis. – „Und der Herr lächelt die Tapeten / An den blauen Raum und nickt / Und da zwischen Fuß und Teppich / Das ist die Unterwelt…“ (Aber nun wollte er doch weg!) Greßmann und wir im „Raum“ dann, draußen das „All“, wo es kalt ist und dünn geschneit hat, „Draußen im All ist Winter“: Greßmann hat sorgsam die Asche aus dem Ofen gekratzt, nun werden, wie es in seinen Versen heißt, „Streichhölzer entzündet und Kometen“, und „Des Kienspans züngelnde Flamme / Knistert von Sternen / Und funkt / Signale / An alle / An alle / Welten…“ Uwe Greßmann, Aftermieter und Demiurg, unterprivilegiert und allmächtig! Sein Kanonenöfchen – die Wahrheiten aller Poesie sind unwiderlegbar −, zweifellos, es ist „vom Weltfeuer entflammt“, und „dieser Ofen / Steht ja nicht nur einer Philosophenschule / Modell / Da er vom Weltfeuer entflammt ist“. Endlich kann die private Lesung beginnen; denn auch der Drehkuli mit blauer, schwarzer und grüner Mine ist bereitgelegt – Greßmann war Kugelschreibermontierer gewesen und darf als Fachmann betrachtet werden −, tatsächlich Korrekturvorschläge werden erwartet von diesem Weltenschöpfer, auch gründliche Rede und Antwort will man uns stehen, und Greßmann antwortet und erklärt und erklärt, was er offensichtlich für etwas vollkommen Erklärbares hält, langsam und nachdenklich und ein Mann, der den Weg weiß, auch dozierend zuweilen; indem er gleichzeitig einmal in dieses, einmal in jenes seiner zahllosen blauen Heftchen schreibt. – „Im Raum ist nämlich Feuer / Obwohl doch das Jenseits davon / Noch immer auf Eis liegt / Der Welten dort / Und Schlittschuh läuft –“
Er muß fünfundzwanzig gewesen sein, vielleicht noch jünger, als er in den fünfziger Jahren seinen Lebensplan entwarf; die Handschrift befindet sich im Nachlaß (wir lassen die von G. gestrichenen Textvarianten weg):
Am Bett hielt
Mich jahrelang Krankheit
Gefesselt. Ich habe mir meine
Gedanken gemacht und
Geschaut in das Auge der Fremde.
Ich habe das Lager
Der Krankheit verlassen
Und habe auch damit
Die Lehrzeit beendet.
Ich werde von nun an
Bemüht sein, als reger
Geselle Erfahrung
Zu sammeln und möchte
Als Meister die Früchte
Des Lebens genießen
Die Achtung der Menschen
Und Einsicht in Fülle
So etwas wie das Gesamtkunstwerk sollte es wohl werden, bildende Kunst (auch Film etc.), Poesie und Musik vereinend: im „Faust“ kommt Greßmann diesem hybriden Ideal nahe, hätte es vielleicht erreicht, wenn man das Werk auf eine Bühne bringen könnte, was bezweifelt werden muß. Jedenfalls zielt er aufs Größte und für sich selbst auf Größe. Ist das „naiv“ in der Art Rousseaus, wie auch ich gelegentlich behauptet habe? Vielleicht sollte man besser einen Begriff aus der Goethezeit verwenden, aus den Jahren des „Sturm und Drang“, den Begriff des „Originalgenies“, wie man ihn z.B. im Hinblick auf Uli Bräker gebraucht hat. Neben anderem prägte ein irritierend altväterischer Stolz Greßmanns Wesen – als „pharaonisch selbstbewußt“ empfand die Lektorin Ilse Tschörtner seinen Auftritt im Verlag −, ein kaum zu erschütterndes Selbstbewußtsein, und war es denn nicht legitim? Was hatte Greßmann nicht alles im (auf dem) Kasten! Als sehr frühe Dokumente seiner künstlerischen Welteroberung findet man im Nachlaß z.B. eine „Weltgeschichte in Geräuschen phantasiert“ (oder zumindest den Plan dazu), ein Hörspielexperiment von extremer Kühnheit, aber auch eine „Arische Träumerei“, Klavierstück in C zu vier Händen mit Hornbegleitung… Was den weitgesteckten philosophischen Hintergrund seines Œuvres angeht, gab er Mitte der sechziger Jahre dem jungen Ungarn Stefan Dely die Auskunft: „Lieber Stefan! Ich habe inzwischen einen Plan über das System meiner Arbeiten entworfen… Grundlage des Systems… sind genaugenommen die zehn Reiche, die zehn Prinzipien des Göttlichen und die drei Zeitebenen.“ Und auch dieses Element seiner Produktion ist bereits in den fünfziger Jahren gekeimt, als er die ersten Signale solcher poetischen Galaxis empfing und sie notierte; etwa auf einem Blatt, das „Urheimat mit Scheinwerfern“ überschrieben ist und das in Versalien den Satz mitteilt: „Die Höhlen Erdes weisen auf den Ursprung“ in „Licht und Dunkel des Raumes hin.“ Ein anderes Notizblatt im Nachlaß: „Weltgeschichte / Erscheinung. Weltgeist – / Zeit und Raum!“ (Dieses System, wo ist es geblieben bei der Zusammenstellung der bisher drei Gedichtbände Greßmanns, des Buches Der Vogel Frühling und des Buches Das Sonnenauto, des Buches Sagenhafte Geschöpfe? Was wir da vor uns haben, sind die Splitter zerhämmerter Blöcke, zu Kurz-Lyrik zertrümmerte dichterische Riesenquader! Wir sind bis heute eigentlich um Greßmann betrogen mit diesem von Freunden, Lektoren und schließlich von Greßmann selber unter Druck kaputtgefummelten Werk. Greßmann gesprächsweise: „Ich versuchte wenigstens etwas von all dem zu retten! Später…“ (Und ein „Später“ war nicht.) Man versteht Greßmanns Selbstbewußtsein nicht ganz, wenn man nur von seinen Publikationen und nicht auch von seinem Nachlaß ausgeht. Man versteht nicht die erhabene Strenge, mit der er urteilte über das Werk der Lyriker rechts oder links von ihm, bestenfalls kleine Ansätze bei dem einen oder anderen von uns gewahrend, eine Ranke, ein Ästchen vielleicht – Greßmann: der Baum, der Wald. Im Ernst: Er war fest davon überzeugt, daß alle Dichter, wollten sie auf der Höhe der Zeit stehen, nach seiner Methode arbeiten müßten; sonst würde es nichts Richtiges werden. Man nickte, man stimmte zu: Diesem Gesicht konnte man schwer widersprechen; es erinnerte mich an den Kopf eines der Apostel von der Liebfrauenkirche in Trier (um 1250, Sandstein), vielleicht hat sich der Steinmetz in diesem Apostel selber dargestellt. Das Gesicht Greßmanns – war so der Mann, der die Dächer von Notre-Dame mit den Chimères, steinernen Affen, Ziegenböcken, Pelikanen, hockenden kleinen Elefanten, sinnenden Teufelchen bevölkert hat? (Such weiter nach Äquivalenten für Greßmanns Wesen!) Greßmanns Chimères, das sind die des Berlin der fünfziger, sechziger Jahre.)
„Ziehen viele in / Andere Straßen / Auch; weine nicht. // Altes Haus, ich / Bleibe noch.“ Die Verse „Trost“ (in Der Vogel Frühling) gehen auf allerfrüheste Übungen Greßmanns zurück, „Trost“ hießen sie indessen auch schon in jenen Jahren, als Greßmann seinen Gedichten – und einem ganzen Gedichtbuchmanuskript – als Verfassernamen das Anagramm Ewu Nnamßerg beigab: in welcher Zeit diese Texte entstanden, läßt sich leicht aus der Thematik dieses frühen Bandes schließen, in dem es neben einem „Wahlaufruf an die Deutschen in Ost und West“ eine „Hymne an die Partei“, auch Verse auf Wilhelm Pieck und – schwer zu glauben, aber die Wahrheit – ein hymnisches Gedicht auf Jossif Wissarionowitsch Stalin gibt: es ist das unschuldigste Stalin-Gedicht, das je eine deutsche Feder zu Papier gebracht hat, es ist die Unschuld an sich! Dieser Ewu Nnamßerg schrieb also bereits in den fünfziger Jahren, als er gerade sein Zimmer in Pankow bezogen hatte: „Auch wenn viele in / Andre Straßen / Ziehen: bange nicht. // Altes Haus, ich / Bleibe noch bei dir.“ Das Haus, das später ein weinendes werden würde, noch war es ein bangendes – das Verhältnis Greßmanns zu den Dingen, die für ihn Leben haben, die u.U. getröstet werden müssen: als wäre nicht Greßmann, der Bewohner der Mietskaserne, des Trostes bedürftig gewesen? (Natürlich tröstete er im Grunde auf trickhafte Weise, und er verstand sich auf derlei Listen, Überlebenstechniken, Tricks, so half er sich selber…) Als wir ihn kennenlernten, war er des alten Hauses jedoch in einem Maße überdrüssig geworden, daß er, wenn man mit ihm von Mitte nach Pankow wanderte, Bogen und Haken schlug und weite Umwege suchte, um die Konfrontation mit seinen vier Wänden solange wie möglich zu verzögern, die ihn endlich doch abends aufnahmen und umschlossen. – „Ich muß hier raus!“ Als Elke Erb, Rainer Kirsch und ich im Frühjahr 1969 nach Georgien abreisten, hatte er dank der Mithilfe von Bekannten sich endlich den Schlüssel zu einer kleinen Wohnung (1 Zimmer mit Küche) in der Nähe S-Bahnhof Wollankstraße erkämpft: Hinterhaus rechts, vier Treppen; er stellte sie uns vor, freudig bewegt vor allem das „lnnenklo“ – wer hatte so etwas schon? Wir auch nicht! – und den kleinen Balkon mit der verrosteten eisernen Brüstung, der auf ein paar Kleingärten hinunterblickte: „Da wird es in ein paar Wochen, wenn der Frühling kommt, grün!“ O alles entscheidender Wandel, O dramatischer Einschnitt, O neue Lebensphase: die Bleibe mit separatem Eingang – eine „Italienreise“ hätte nicht vitalisierender wirken können. Balkon und Innenklo. Als wir nach ein paar Monaten zurückkehrten, lag Greßmann schon seit Wochen in Buch. Hat er seine neue Wohnung noch einrichten können? „Bewohnt“ hat er sie nicht mehr.
Adolf Endler, aus Richard Pietraß (Hrsg.): Uwe Greßmann: Lebenskünstler, Verlag Phlipp Reclam jun. Leipzig, 1982
(Teilweise vorgetragen am 6. Juni 1983 in den Gewölben der Moritzbastei zu Leipzig, anläßlich einer Veranstaltung des Reclam-Verlags zu Ehren Uwe Greßmann, der am 1. Mai 1983 fünfzig Jahre alt geworden wäre; außer mir sprachen Heinz Czechowski, Elke Erb, Eckart Krumbholz, Jo Schulz und Beate Stanislau. Mein Text, ein wenig provokant wie üblich, erinnert nicht nur an die Einäscherung Greßmanns im Herbst 69, sondern indirekt auch an die vielen, welche seither nach und nach weggegangen sind, so oder so:) – // – Auf Karl Mickel wartete man wie so oft vergeblich; es war der auf muntere Weise undurchsichtige Dr. X., welcher als letzter der Trauergäste langsam, fast ein wenig zögernd dieses Mal und wie sich selbst überredend die lange Allee von der Landstraße zum Krematorium Baumschulenweg heraufkam, X., der allmählich größer wurde, doch leider nicht so groß wie Karl Mickel, X., gnomenhaft und mit rotwangigem Babyface, der Staatssicherheits-Knabe… Einige Monate vorher hatte er sich im Kinosaal des Hauses der Tschechoslowkakischen Kultur überfallartig mir zugewendet: „Kennst du den Faust von dem Greßmann? – So etwas geht doch nicht, absolut nicht! – Was werden denn unsere Wissenschaftler zu solch einem Faust sagen, bitte?“ „Welche Wissenschaftler, Mensch?“ – Als er die kleine Gruppe der mehr oder weniger Trauernden erreicht hatte, blickte er wie ein Kurzsichtiger, der die Brille vergessen hat, an Elke Erb und mir vorbei (ja, damals bereits; und er wußte: weshalb), blickte er an allen vorbei in die entlaubten Baumkronen rings um den grauen Himmel, vorbei an Sarah und Rainer Kirsch, an Bernd Jentzsch vorbei (der gleichfalls zu jenen gehört, die sich immer wieder für Greßmann eingesetzt haben und wie manch anderer immer wieder vergeblich), vorbei an Irmtraud Morgner, an Gerhard Wolf, an Greßmanns Pankower Freund Lässig, an Kurt Bartsch sogar vorbei trotz dessen auffällig frechen und schuhsenkelschmalen Lederschlips, wie er gerade in Mode gekommen war… Wer ist noch da gewesen? Ganz sicher Jo Schulz, seinen Blumenstrauß aufteilend unter den Anwesenden, ganz sicher Günter Kunert nebst Frau Marianne! Wer noch? Nein, die übrigen weiß ich nicht mehr genau. Aber das weiß ich noch: Es war das Jahr ’69, nichts Gutes verheißend für die Poeten – ist es denn immer das letzte Viertel der Dezennien? −, es waren die trübseligen Jahre, in denen so gut wie kein einziges neues Gedicht aus unserer Feder des Druckes mehr für würdig befunden wurde, kein einziges von Rainer Kirsch, Heinz Czechowski, Karl Mickel, kein einziges von Elke Erb und so weiter, wenn auch statt dessen oder ersatzweise allerlei Nachdichtung; nicht anders war es dem am Mittag des dreißigsten Oktober gestorbenen Uwe Greßmann ergangen. Enervierende Jahre auch dank der zähen Mithilfe dieses Dr. X. und seiner so obskurantistischen wie mediokren Gesellschaft! Weshalb nur war er in die S-Bahn gestiegen und – ich zitierte Greßmann – „Im Raum eines Abteils / Wo das Leben von angeschalteten Sonnen / Taghell leuchtet und wächst / Und dann und wann ein bißchen schaukelt“ vor die Tore Berlins gefahren, unbehaglichen Begegnungen entgegen, weshalb war er gekommen?, seines stets griffbereiten Notizbuches wegen?, ein Goncourt unserer Zeit? (Welchen Rang diese Arschgeige wohl inzwischen innehaben mag? Ich tippe: Major…) Noch hatte ich die Stimme im Ohr mit der er mich damals im Haus der Tschechoslowakischen Kultur beinahe aggressiv gefragt hatte – so, als wäre kein anderer als ich für das altes verantwortlich zu machen −: „Was soll denn aus diesem Greßmann nur werden?“ (Als wäre Greßmann zu diesem Zeitpunkt noch, war er es je?, ein Fall für die sogenannte Nachwuchsförderung gewesen, als wäre er nicht schon längst „etwas“ geworden, nämlich der seltsamste Lyriker der DDR in den Jahren nach 1960, etwas sehr Kostbares und Absonderliches gleichermaßen, das „reine Humanum“, wie Günter Kunert es später formuliert hat in einem Rundfunkbeitrag, der dann nicht gesendet wurde, ein Dichter, der mit Sicherheit nicht nur zehn Jahre nach seinem Tod, sondern auch noch in fünfzig Jahren bewegen und faszinieren wird; daran zweifelte schon im Spätherbst ’69 kaum einer des kleinen Kreises, den es in Baumschulenweg zusammengeweht hatte. – „Der wird immer so weitermachen, mein Lieber“, erwiderte ich, „bis an sein Ende! Damit muß man sich wohl abfinden…“ Bis an sein Ende!, wirklich, ich habe es gesagt! Ich hätte auch wie jener ausgeflippte Held eines amerikanischen Trivialromans antworten können, der auf die eher böse als besorgte Frage, was denn noch aus ihm werden solle im späteren Leben, die durch nichts zu widerlegende Auskunft gibt: „Naja, ein Toter!!“ Begriff unser Dr. X. inzwischen, weshalb uns, einem Dutzend Poeten, der Tod des unberühmten Uwe Greßmann ebenso naheging wie der des berühmten Johannes Bobrowski drei Jahre vorher, konnte er sich inzwischen die Bestürzung nicht nur der jüngeren Lyriker des Landes ob des Tods eines Dichters erklären, welcher damals noch nicht durch Urteile wie dem Stephan Hermlins oder Franz Fühmanns – „Greßmann ist einer der bedeutendsten Dichter, die wir hervorgebracht haben, … einer der ganz wenigen“ – gleichsam abgesegnet oder zeitgemäßer „abgesichert“ war, und von dem bis zu seinem Tod nur ein einziges Bändchen (Der Vogel Frühling) das Licht der Buchhandlungs-Welt erblickt hatte; außerdem gab es ein Dutzend Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt ein paar Nachdichtungen noch, vor allem aus dem Ungarischen? Begriff Dr. X. den Schock, der uns getroffen hatte bei der Nachricht von Greßmanns Ende? Wohl kaum! Für ihn mag Greßmann bis zuletzt der tunlichst zu leitende und tatkräftig zu lenkende sozusagen „junge“ Autor geblieben sein, ein vielversprechendes, leider vor dem so förderlichen Besuch etwelcher Poeten-Seminare o.ä. dahingegangenes „beachtliches“ Talent. – Oh, er wußte, weshalb er am Ende den Plan zu schmieden begonnnen hatte, irgendwann und irgendwie über die Volksrepublik Ungarn in das „Land der Freiheit“, wie er es naiverweise nannte, in die Schweiz zu finden…
Nur halb hat den grünen Becher geleert
Wer am Ende des Weges
Dem Trank noch nachtrauern will
Doch das dunkle Haus schon betreten muß
Und wie viele haben die Vorladung
In Herrn Charons Maskenverleih zu erscheinen
In den Händen – und Durst
Daß Karl Mickel, einer der engagiertesten Befürworter Greßmanns – als Proletarierkind erkannte er deutlicher als andere das, wie sagt man doch?, „plebejische“ Element in Greßmanns phantastischer Bilderwelt –, daß Karl Mickel die Trauerfeier mied!, verwunderte mich nicht, wenn ich es auch mit den Übrigen glaubte bedauern zu müssen: Ich wußte von der irrwitzigen Aktivität des bleichen und hageren Freundes, nach Greßmanns Tod kreuz und quer durch die Stadt jagend, um die Bewahrung des Greßmannschen Nachlasses besorgt, mehr als achtzig Prozent der Produktion mindestens, dann auch bemüht, einen Bildhauer zu finden, der Greßmanns Totenmaske abnehmen könnte; heute liegt sie in einem selten, aus Furcht selten geöffneten Schubfach, ganz unten und ganz hinten, in Mickels Wohnung, ich habe sie bis heute nicht anzusehen gewagt… Kein Anlaß also, wieder einmal die verläßliche „Unzuverlässigkeit“ Karl Mickels murrend zu glossieren: „Der ist reif für die Psychiatrie“, wurde der Autor des „Einstein“ und der „Vita nova mea“ von irgendeinem Fein- oder Schöngeist entschuldigt. Trotzdem wartete man und wartete und schob den Einzug ins Krematorium immer wieder um Minuten und Sekunden hinaus, bis der Krematoriumsangestellte einen stechenden und letzten Blick auf die Uhr warf… Wenn er doch jetzt noch erscheinen würde, Tempo-Tempo, da hinten am Tor! – „So habe ich mir das vorgestellt“, giftete die ungeduldige Frau D., die offizielle Vertreterin des Verbandes, zahlreiche andere Verpflichtungen außer dieser noch am Hals. (Es war sehr windig geworden, und wenn eine Bö den tiefschwarzen Umhang Irmtraud Morgners über dem schönen Knie aufschlug, dann sah man, daß er innen von anderer Farbe war, nämlich: blutrot.) Schließlich gab sich Dr. X. einen vormilitärisch anmutenden Ruck und betrat als erster den Raum der serienweisen Abschiede für immer, knapp hinter ihm Elke Erb mit wie verholzten Bewegungen, mit Pinocchio-Schritten; irgendeine romantisch-erhabene Musik scholl uns entgegen. Nur wenige Tage später bereits erfuhr man aus sogenanntem „berufenem Mund“, auf der Trauerfeier für Greßmann wären sogenannte „staatsfeindliche“ Reden gehalten worden: Die „Staatsfeindlichkeit“ hatte wahrscheinlich darin bestanden, daß ich in meiner kurzen Traueransprache nicht vergessen hatte – und dabei ging es auch um die Sichtung des Nachlasses −, am Rande auch von dem Unverständnis zu sprechen, auf das Greßmann in der letzten Zeit seines Lebens bei Verlagen und Zeitschriften gestoßen war; Greßmanns Verse „Schildas Kälte“ über den „weißen Wald“, in dem die Tiere ihre Spur hinterlassen, „von denen manche auch erfrieren“, sind nicht zuletzt auch als Urteil über diese Jahre zu lesen (wie auch jener Komplex inzwischen verschwundener „Schilda“-Gedichte, die Elke Erb um 1970/71 noch im Nachlaß gefunden und schriftlich fixiert hat; die Liste und die Beschreibung der Texte ist noch vorhanden)… In der dunstigen Atmosphäre jenes Herbstes und jenes Winters brauchte es in der Tat nicht viel, um in den Ruf eines „Staatsfeindes“ zu kommen. (Ich habe den Durchschlag meiner Rede notfalls zur Hand; wer Einblick nehmen will, kann es tun; wenn ich sie nur ungern herumzeige, denn nicht wegen ihres Inhalts, sondern – ich schrieb damals noch für die Junge Welt. – wegen des glattrasiert-journalistischen Stils, in dem sie abgefaßt ist.) – Heute muß man schon etwas fettere Koffer abliefern, um mich des von Greßmann so hoch geschätzten Volksmunds zu bedienen, wenn man sich derlei Vorwürfe einhandeln will – in gewisser Weise ein gewisser Fortschritt! Zwei Gedichte wurden vorgelesen, nachdem Paul Wiens und ich unser Sprüchlein aufgesagt hatten, zuerst das große surrealismus-nahe „Raumfahrt“, in dem eine S-Bahn-Fahrt zur Fahrt in Charons Nachen, der Flug im Raumschiff S-Bahn zur Himmelfahrt wird – eines der intensivsten Gedichte Greßmanns, das seltsamerweise in sämtlichen Greßmann-Ausgaben fehlt: „S-Bahnen dunklen Himmels und vom Wind berauscht / Auch wenn nahe und ferne Böschungen von Sternen wie begeistert vorüberschwärmen.“ („Vorüberschwären“, hätte ich eben beinahe getippt.) Das zweite Gedicht, wie das erste mit dem Blick auf den Sarg aufgesagt – und ich starrte ihn beim Vortrag an, bei Gott, als könnte der Sarg mich hören!, als könne er sie mit in die Flammen nehmen, die Worte, und die Flammen würden mit den Worten… −, das andere Gedicht war das bekannte „An Arkadia“, Verse über spielende Kinder und nicht nur über spielende Kinder, die „holen / Den Baukasten, in dem die Stadt von morgen / Eingepackt ist und machen es / Den Erwachsenen nach und bauen / Tatsächlich eine Zivilisation auf. // Und der Erzieher knattert, da es Zeit / Ist schlafen zu gehen, wie ein Moped, / Das eine Straße fährt: Dein Spiel ist / Zu Ende, Arkadia; wie schade um dich.“ Arkadien war für Greßmann, wie wir aus anderen Gedichten wissen, auch der Tummelplatz der Poeten, keinesfalls etwelcher Polizisten; die Welt der Dichter, auch der neueren noch. Einmal hatte er eines seiner Gedichte geradezu „Das moderne Arkadien“ überschrieben, wie man im Nachlaß sieht, um den Titel dann durchzustreichen und den anderen einzusetzen: „Die Landschaft der Dichter“. – Dringend Zeit, mit ihr aufzuräumen!, scheint so mancher in diesen frühen achtziger Jahren zu denken (nicht anders wie am Ende der Sechziger); indessen… Ist Greßmann ein Kauz gewesen? Ein Dezennium Botengänge im Lärmkreis des Alexanderplatzes, ausgeschickt vom Staatlichen Handel zur Brunnenstraße, zum Luxemburgplatz, in die Friedrichstraße, zum Hausvogteiplatz… Immer wartete man darauf, ihm zu begegnen, immer schien er uns entgegenzukommen, die Passantenströme zerteilend, wie schwebend, der lange Mantel wie zwei Flügel – bei Heinz Czechowski ist es ein „Staubmantel“ −, ein seltsamer, ein seltener Vogel mit prophetenhaft strahlenden Augen. („Die Straßen sind des Stadtbaumes Äste“, so kann man in dem Gedicht „An Arkadia“ lesen, „Wie Blätter wogen die Lichter daran.“) Viel ist die Rede in den Erinnerungen an Greßmann von seinem Mantel und dessen ungewöhnlicher Länge und Unförmigkeit… Jo Schulz will sogar beobachtet haben, wie der Rauch über dem Krematorium bei unserem Abmarsch die Form eines Mantels angenommen habe, was ja wohl andeuten soll, des Greßmannschen; Schulz, den das Phänomen des Greßmannschen Umhangs besonders nachhaltig bewegt hat, will außerdem bemerkt haben, daß angesichts dieser Mantel-Wolke über dem Krematorium ein Lächeln um sich gegriffen habe bei den Kollegen. Mag sein! Bestätigen kann ich es nicht; mein Blick war zum Boden gerichtet vermutlich, und meine Gedanken waren wohl bereits beim doppelten Wodka in der gleichfalls von Jo Schulz genannten Gaststätte Café Ulla, nahe dem S-Bahnhof Baumschulenweg…
Adolf Endler 1983
erschienen in Adolf Endler: Den Tiger reiten, Luchterhand Literaturverlag, 1990
der gesamtberliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie: „… Ihren Vorschlag, die Grabstätte von Uwe Greßmann auf dem Friedhof Pankow III im Bezirk Pankow von Berlin als Ehrengrabstätte des Landes Berlin anzuerkennen, hat die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, die gemäß Nr. 8 der Allgemeinen Anweisung für die Anerkennung, Überlassung und Pflege von Grabstätten namhafter und verdienter Persönlichkeiten durch das Land Berlin vom 4. November 1986 (Abl. S. 2003, Dbl. VI/1987 Nr. 1) an dem Anerkennungsverfahren beteiligt worden ist, nicht befüwortet. Selbst unter Würdigung der Verdienste von Uwe Greßmann sind in Anbetracht des bei der Anerkennung von Gräbern als Ehrengrabstätten anzulegenden strengen Maßstabes die Voraussetzungen nicht ausreichend, um Ihren Vorschlag in die dem Senat zur Entscheidung zuzuleitenden Vorlage aufzunehmen.“ – Ja, so ergeht’s uns, so wird es uns ergehen, besonders uns.
(2003)
Adolf Endler: Nebbich. Eine deutsche Karriere, Wallstein Verlag, 2005
… man läßt es sich an nichts fehlen.
Annemarie Auer, Sinn und Form 4/77
Ich erinnere mich deutlich, weil dergleichen womöglich unvergeßlich ist, es wird Frühsommer 1960 gewesen sein, da klingelte kurz nach 17 Uhr in der Redaktion Junge Kunst das Telefon, ich hockte, wie häufig, allein, hörte den Namen Greßmann, eine etwas hohe Männerstimme, er müsse mich unbedingt und ohne Aufschub sofort sprechen. Nun hatten wir in dem Blatt einen endlosen redaktionellen Vorlauf, in diesem chaotischen Unternehmen mußte dauernd sofort etwas passieren, das dann günstigstenfalls lange Zeit beanspruchte oder sich von selbst erledigte, doch ich eröffnete dem Anrufer, er möge kommen, ich würde warten. Dann fand er tatsächlich rasch in die Kronenstraße, 108 Berlin, wo wir im 4. Stock wacker zwischen auseinanderfallenden einstürzenden Büromöbeln quartierten. Ein Mensch ungefähr Mitte Zwanzig, dabei eher ältlich als jung wirkend, erschien auf der Bildfläche, groß und unbeschreiblich dürr, mit langem, anliegendem, nach hinten gekämmtem strähnigem braunem Haar, das ständig nach den Seiten runterfiel, einer Art Gasmaskenbrille im eckig gelblichen Gesicht, anachronistischen grünen Lodenmantel, der fast bis an die Knöchel reichte, zugeknöpft von oben bis unten, und dicksohligen Schweinslederkähnen. Wirklich, er sah aus, wie man sich den Heimkehrer Beckmann 1946/47 in Wolfgang Borcherts Stück Draußen vor der Tür denkt. Er zog ein Bündel beschriebenes Papier aus der Tasche und sagte hastig: „Ich komme auf Empfehlung.“ Nämlich Paul Wiens in der NDL hatte ihm geraten, mal bei uns vorbeizugehen. Ich behielt verschiedene seiner – eigentlich skurrilen – Gedichte da, eins hieß „Sagenhafte Eltern“, allerdings in anderer Fassung, als wir es heute kennen. Gewiß, mit sagenhaften Eltern ist schwer fertig werden, (Greßmann, geboren im schlimmen Jahr 33, am 1. Mai, unehelicher Sohn eines Autosattlers, welcher die Frau noch vor der Geburt des Sohnes verließ, mußte wegen der Nervenerkrankung der Mutter ins Waisenhaus, kam mit sechs Monaten zu Pflegeeltern, die Pflegemutter beging 1939 Selbstmord, nach neuerlichem Waisenhausaufenthalt gabs 1942 andere Pflegeeltern, die den jungen oft schlugen, ihn schließlich in alle möglichen Heime abschoben…) Er zelebrierte mir ungefragt ein höchst eigenartiges, eigenwilliges Kolleg über Hölderlin und Rilke, die er derzeit als literarische Vorbilder betrachtete. Gebärdete sich wie der Prediger in der Wüste, daß ich nicht darauf verfiel, allenfalls umleitende Bemerkungen anzubringen. Erzählte, er arbeite bei der HO Mitte als Bote, sei eigentlich Elektroinstallateur, auch Montierer, beides aber nicht richtig. Ich weiß, daß ich die Gedichte in unsere Hefte wieder und wieder einzurücken versucht habe, weniger, weil ich hinter ihnen den außerordentlichen ursprünglichen, Poeten, ungeeignet zum Dressurakt, erkannte, vielmehr, weil ein Mensch, der so herumzieht, eben deutlich mehr will als bequem sein und gefallen, er glaubt innig an seine Sendung und mutet sich Äußerstes zu, seine hochverlangenden Träume auf Erden herabzuholen. Selten in unserer neueren Dichtung wurde das totale Sich-nicht-abfinden-Können mit der vorgefundenen Welt treuherziger, rührender – dabei genau und ohne Schrille – ausgesprochen. Es ist mir nicht gelungen, Greßmanns Verse zu publizieren. Die Junge Kunst-Konzeption lautete damals – nicht ausschließlich zu unserem Vorteil – recht anders.
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Bald erfuhr ich, Greßmann sei schwer krank, was mich nach allem nicht wunderte, Etwa 1957/58 war er in jenem von dem Übersetzer und Kritiker Erich Fetter im Pankower Erich-Weinert-Haus geleiteten Zirkel aufgetaucht, dort tauschte man sich im Kulturbund über mancherlei Lesefrüchte aus, es bestanden da noch Vereinigungen von Kakteenzüchtern, Chorsängern, Briefmarkensammlern usw.; der seltsame Mensch im befremdlichen Loden redete und stritt ausdauernd mit über Literatur. Es währte Jahre, bis er bekannte, selbst zu schreiben. Von Erich Fetter bekam Günther Deicke Greßmanns Gedichte, von Deicke Paul Wiens, der die ersten Arbeiten ungefähr 1961 in der NDL veröffentlichte. So oder so ähnlich der Weg.
Er wurde auch seit Mitte der fünfziger Jahre als reger Besucher des Pankower Antiquariats auffällig, jagend nach billigen Büchern. Was für Büchern? Alten Persern, alten Ägyptern, alten Chinesen, nordischen Sagas, Minnesängern, Homer… Er lechzte buchstäblich nach dem Rolandslied und vermochte es lange nicht zu ergattern, fast möchte ich behaupten, er begeisterte sich damals beinah allein in diesem Ländchen für das Rolandslied. Im Pankower Antiquariat hieß er ehrfurchtigscherzhaft „der Herr Rolandslied“. Da er als Bote eine Monatskarte für alle Berliner Verkehrslinien besaß, traf man ihn gelegentlich in irgendeiner Vorortbahn, etwa in das Gilgameschepos versunken. Was die Völker bewegte in den Dichtungen, was Jahrhunderte, ja Jahrtausende hielt, Kraft zu binden und zu lösen: das interessierte, das fesselte ihn. Dann suchte er händeringend expressionistische Werke des jungen Becher und konnte sie lange nicht bekommen; ich ahne nicht, ob er sie überhaupt bekommen hat. Las Kant, Hegel, Lukács und Tod und Teufel. Nichst stimmt weniger denn die vage Mär, daß dieser naive Dichter naiv drauflos gedichtet habe. Der welt- und kontaktarme Greßmann war innerlich reich, bemüht auf seine Weise um Orientierung, und spürte starke Sehnsucht, ins Große und Weite zu gelangen; er verschrieb sich der aufwendigen Aufgabe, guten Muts zu sein und zu bleiben und dergleichen zwingend zu singen und zu sagen. Er plante ein Schildbürgerbuch, einen Faust.
3
Er machte Karriere bei HO Mitte, avancierte zum Postabfertiger, jedenfalls stand nun ein Telefon in Reichweite, plötzliche Besuche über Tage unterblieben fortan; um so mehr führte er endlose literarische Debatten telefonisch. Er hatte unter anderem eine eigene Kosmogonie entwickelt, wir, die Welt, der Raum noch im Werden, eine Fruchtblase, die demnächst platzt. Er war passionierter Fußgänger. Begegnete man ihm in der Friedrichstraße nachmittags, meinte er, die U-Bahn sei immer voll und stickig zum Feierabend, summa gehe sichs am besten nach Pankow zu Fuß. Und tats stracks in zwei, drei Stunden. Greßmanns Züge fallen für mich zusammen mit Barlachs „Wanderer im Wind“, der den Hut angestrengt festhält, den Mantel über dem Leib schließt und tapfer ausschreitet.
Er hat sein Leben lang in Waisenhäusern, Kinderheimen, Lehrlingsunterkünften, Massenquartieren, Krankenhäusern, Tbc-Heilstätten gefristet, die Natur, die diese Asyle umgab, vermochte ihn oft zu trösten, zu belehren, sie spielte für ihn stets eine enorme Rolle. Meiner Ansicht nach ist das – wie vieles andere – in seiner Dichtung nicht voll zur Sprache gekommen. Er geriet in den Schriftstellerverband, da saß er dann im berühmten Lodenmantel oder im Hemd von undefinierbarer Farbe und musealen Hosenträgern und lauschte den Reden, die so gehalten werden. Kollegen kümmerten sich bald mehrere um ihn: Kurt Stern, Jo Schulz, Adolf EndIer, Sarah Kirsch, Heinz Czechowski… Er wurde freischaffend.
Nun sprach sich noch rum, es war beinah kaum anders vorstellbar, daß er in einer engen, elenden Kabuse zwischen Schmutz, meterhoch getürmten Scharteken; auch eigenen potenten zeichnerischen Versuchen bei einer oder zwei wohl 80jährigen Wirtinnen hause (oder waren es vielleicht drei Uralte?), es stänke dorten martialisch nach Arznei, der Tee, den man angeboten bekomme, bestünde eigentlich aus purem heißem Wasser, die Greisinnen würden ihm manchmal mitleidig einen Teller Grießbrei kochen. Ja.
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Was auch immer und was noch – stolz und betroffen erlebte Greßmann, daß die Klopfzeichen, Glück und Schmerz, Stolz und Scham, Bekenntnis und Zweifel, die er zuversichtlich poetisch aussandte, vernommen wurden, vernommen über die Grenzen dieses Territoriums hinaus und überraschendes, nachgerade enthusiastisches Echo erfuhren. Das große Thema „Volksmund“, unter anderem als Bewährung, Gericht und Goldwaage, für die Dichtung wie für beinah jedwedes menschliche Handeln, Gewisses und Ungewisses, geistert, ein wenig konfus, durch die aufregenden, möglicherweise etwas unheimlichen Poesien Greßmanns, die er dauernd redlich als Idyllen zu deklarieren versuchte, als Schilderung friedvoll bescheidenen ungetrübten Daseins harmlos empfindender Menschen unter Sonnen, Monden und Sternen; natürlich alltäglichen Volkslebens in schlichter Werktagssprache. So schüchtern oder verschlossen Greßmann war, seine Arbeiten verteidigte er hartnäckig und kompromißlos, er besaß eine hohe Meinung von seinem Tun und Lassen. Mit Recht, sie bedeuteten kolossalen Triumph über persönliche Erbärmlichkeit und Miserabilität.
Adolf Endler sollte just eine Lesung von ihm im Klub der Kulturschaffenden Johannes R. Becher in Berlin leiten, er kam nicht, so mußte es ohne Gesprächsleiter gehen. Eine Stunde verspätet öffneten sich die Flügel der gläsernen Schiebetür, hinter denen die Veranstaltung statthatte, Endler, voll des Feuerwassers, ruderte heran, erkannte Greßmann noch, spießte den schmuddligen Zeigefinger in seine Richtung und gellte: „Das ist ein guter Mann, das ist ein bedeutender Mann!, schloß die Schiebetür geräuschvoll und verschwand wieder.
Von Greßmanns Tod erfuhr ich abermals seltsam genug. Ich wollte am letzten Oktobertag 1969 Endler zufällig mittags in der damaligen Wohnung Rheinsberger Straße 18 besuchen. Er kam mit seiner derzeitigen Frau, Erb, die Treppe abwärts gestolpert. Ich glaube, als er meiner ansichtig wurde, mußte er gestützt werden. Den Bart hatte er sich auch dressiert. Der Anblick – gräßlich, besaß beträchtlichen Schauwert. Er sagte mit Grabesstimme: „Greßmann ist gestorben.“
Die Perlonplombe in der Lunge, Anfang der fünfziger Jahre viel zum Bekämpfen der Tbc aufgeboten und meist kurzfristig wieder herauseiternd, hatte sich bei Greßmann länger Zeit gelassen, doch zahlte der Patient diesmal – 36jährig – mit dem Leben. Der Bildhauer Karl Lemke nahm die Totenmaske ab. Während der Beerdigung, am Sarg ehemalige Kollegen von HO Mitte und gemischten Volks der schreibenden Zunft, sogar der Mutter gelang es ausnahmsweise Zeit zu finden, tauchte beinahe panikstiftend das Gerücht von einem kleinen Sparguthaben Greßmanns auf, man raunte hinter vorgehaltener Hand die Summe von 3000 Mark.
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Auf wunderliche Weise gelangte ich in den Besitz eines persönlichen Erinnerungsstücks. Einem Bekannten hatte Greßmann ein Buch geborgt, was nach seiner Meinung die eigene Weltsicht kompensiert ausspreche. Der Bekannte trennte sich dann von seiner Freundin, die hatte das Buch an sich genommen, weil sein Eigentümer verschieden war. Von ihrem neuen Freund, einem Tunichtgut, bekam ich es. Der Verfasser heißt „Dr. Eugen Heinr. Schmitt“, der Titel lautet: Kritik der Philosophie vom Standpunkt der intuitiven Bekenntnis. Erschienen im Fritz Eckardt Verlag Leipzig 1908. Das Werk, grün broschiert, rot beschriftet, umfaßt 508 Seiten und kostete Greßmann einmal antiquarisch sieben Mark, so ist es hinten vermerkt, über der Antiquariatsnummer 71951. In guten Stunden nehme ich mir vor, darin zu schmökern, um Greßmann besser auf die Spur zu kommen, aber bekümmert muß ich bekennen, daß ich aus dem Wälzer niemals herauslesen werde, was Greßmann herauslas. Zwischen den Seiten lag ein Kuvert, darin eine Postkarte (Nr. 5438) mit roten Pfingstrosen bedruckt, EVP MDN 0,15. Umseitig steht neben den Druckbuchstaben „Ein frohes Pfingstfest“ mit Kugelschreiber geschrieben: „Wünschen Dir lieber Uwe, Vater + Mutter.“ Und Vater + Mutter haben zum Pfingstfest ein Gedicht von Nikolaus Lenau auf die Postkarte gepinselt, beängstigende Kommunikation zwischen Eltern und Kind:
Spät hab ich dich gefunden,
Und muß das Los beklagen,
Daß nicht in Jugendtagen
Mein Herz an deins gebunden.
Verklungen sind die Feste,
Die Jugendträume ferne:
Wie hätt ich sie so gerne
Mit dir geteilt, das Beste!
Und konnt uns nicht vereinen
Der Lenz mit seinen Blüten,
So wills der Herbst vergüten
In seinen welken Hainen.
Der Luft entblätternd Weben,
Der Himmel, kühler, trüber,
Macht, daß wir nicht vorüber
An warmen Herzen gehen.
Auf dem Briefumschlag das Datum 29. Juni 1968, adressiert ist das Ganze nach 110 Berlin-Pankow. Postlagernd. Greßmann betrieb sein bißchen Korrespondenz postlagernd. Absender: Hopp, 1071 Berlin, Isländische Straße 9. Greßmann hat sich seinerseits auf dem Umschlag eine Adresse notiert: „Gaillardstraße 17, Hinterhaus 3 Treppen links: Rose.“ Und dann ist da ein Gedicht festgehalten – wahrscheinlich nichts Eigenes – vielleicht, irgendwo gelesen, womöglich variiert, jedenfalls hat es ihn ergötzt, denn manche Buchstaben sind fein ausgemalt:
Der Waldzwerg tanzt
Mit seinem Wanst
Das Wazwerk stampft
Daß sich verdampft:
aaaWaldzwerg
aaaaaaWalzwerk
aaWaldzwerg
aaaaWalzwerk…
Wir, Greßmanns Nachwelt und Erben, wie denn nun, Waldzwerg oder Walzwerk oder Synthese aus beiden. Oder was sonst…
Eckart Krumbholz, 1978, aus: Uwe Greßmann: Lebenskünstler, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1982
Franz Liebig über den Dichter Uwe Gressmann (1933–1969), dessen lyrisches Werk und Existenz in der Berliner Nachkriegszeit.
Und so empfingen [uns] Schildas Witze
Die Autoren Andreas Koziol und Richard Pietraß im Gespräch über Uwe Greßmann
(Kurzer Ausschnitt der Veranstaltung vom 18.4.2013 in der Galerie Pankow)
Moderation: Martin Jankowski (Berliner Literarische Aktion)
Hans-Dieter Schütt: Straßenbahns Geige
nd, 30.4.2013
Peter Will: Der Bote des Frühlings – Uwe Greßmann
Das Blättchen, 13.5.2013
„Vogel Frühling“ – Uwe Greßmann zum 80. Geburtstag
Galerie Pankow, 10.4.2013–2.6.2013
Michael Mäde-Murray: Die Welt umdeuten
junge Welt, 30.4.2023
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