KOSMOS
Und wer kennt nicht die Behörden
Und die Rennereien mit dem Schein?
Und du gehst da bis zum letzten;
Von Stock- zu Stockwerk,
Daß du die Angelegenheit erledigst,
Wenn du nur immer willst; und: mutig bist.
Und du weißt nicht, Gott, wo findest du die Stelle?
Und keiner will zuständig sein.
Und wie das hier aussieht:
Alles zieht sich lang hin
In Strecken, Simsen, Perspektiven, Sprechstunden…
Die reinsten Korridore sind das.
Und Bänke, darauf zu sitzen, gibt es da.
Und wohin du kommt, auch Wände −
Zwischen denen Leere ist und nichts −
Und Winkel, Flächen; und Räume, Türen, Räume…
Und Sterne, Sonnen, die an geweißten Himmeln strahlen.
Und du fragst die ewige Frage:
Was mag wohl hinter diesen Himmeln sein?
Und ich seh kein Ende.
Doch das soll sich ändern, sagt man hier,
Wenn man ruft: Der nächste bitte.
Und sinkst du nun auch erdewärts,
Wie du vorher himmelwärts gestiegen bist,
Als wärest du ein Paternoster,
So stehst du, als gäbst du den Passierschein ab,
Im nächsten Augenblick auch schon;
Und: siehst dann draußen in dem Raum ein Haus,
Das kleiner wird, je mehr du dich entfernst.
Und so gehst du von Raum zu Raum,
die Angelegenheit zu erledigen,
Und betrachtest das alles.
Gegen den wachsenden Schatten in seiner Lunge schrieb Uwe Greßmann seine leuchtenden Gedichte, aus denen er die Krankheit völlig verbannte. Das bedrohte Geschöpf erhob sich zum Schöpfer und vermaß die Welt neu mit dem Sucherblick der Phantasie. Weltall und Alltag rückten enger zusammen, im Grau wurde die Feier entdeckt. Wir blieben unweigerlich auf der Normstrecke, wollten wir uns Greßmanns Dichtung bequem mit Etiketten wie Naivität oder Skurrilität bemächtigten. Sie ist das vielschichte Produkt eines ursprünglichen Autors, der uns scheinbar die Augen öffnet und zugleich Rätsel aufgibt, während er uns schwerelos durch eine Welt führt, in der das Gesetzbuch der Schönheit gilt.
Ankündigung in Eugenio Montale: Poesiealbum 125, Verlag Neues Leben, 1978
war Zöllner, der Berliner Greßmann ist oder war als Bote tätig. Beide sind als Künstler Beherrscher einer Welt, in die man nur eingelassen wird, wenn man sein altes Märchenbuch als Paß vorweist. „Er hatte eine kindliche Auffassung von der Welt“, heißt es bei Roger Shattuck über Rousseau, „und seine ernsthafte Wunderlichkeit appelliert an das Kind in uns.“ Auch in Greßmanns Gefilden verliert der nüchterne Aktenverstand bald Weg und Steg. Die Firma, Personifikation aller Firmen, heißt Irma; die Zeitungen, „Blätter“, fallen vom Pressebau; der Frühling, ein Vogel richtet den Kopf hoch: „Davon ist der Himmel so blau.“
Adolf Endler, Verlag Neues Leben, 1978
In einem knöchellangen Staubmantel kam er hereingeweht. Der Ort, wo wir uns trafen, war dunkel, eine Vorstadtkneipe in der Nähe eines großen Friedhofes, die, wenn ich mich recht erinnere, Zur Erinnerung hieß. Man erhielt hier kein Bier, sondern – eine übrigens wohlschmeckende – Limonade.
Das Dunkel, das den Raum beherrschte, rührte von dem Efeu her, der die Straßenfront des Lokals bewuchs und die Fenster mit seinen Blättern fast verdeckte.
„Ich bin hier oft zu Gast“, sagte er, indem er das Glas erhob und mir zutrank.
Die Wirtin, eine etwa fünfunddreißigjährige ansehnliche Frau, lächelte ihm zu. Es roch nach Fußbodenöl. Die Tischdecken waren sauber, das Mobiliar alt.
Ich sah in sein längliches, hageres Gesicht: aschblondes Haar, strähnig, fiel über seine Ohren. Aber es war zu dunkel, um die Farbe seiner Augen erkennen zu können. Seine knochigen Finger umfaßten das Glas, während er mir abermals zutrank.
„Was man über mich erzählt“, sagte er, „stimmt nicht. Ich will keine Botschaften bringen, ich bin tatsächlich Bote.“
Ich nickte.
„Aber lassen wir das Biographische“, fuhr er fort, „haben Sie Kant gelesen? Hegel?“ −
Doch so, als habe er auf diese Frage gar keine Antwort erwartet, sagte er: „Die dialektische Vernunft, von der ich ausgehe, gründet sich auf zwei Begriffe: Welt und Natur. Diese versuche ich in Übereinstimmung zubringen, indem ich, den Worten ihren alten Sinn zurückgebe.“
In diesem Augenblick betraten zwei Männer den Raum. Sie trugen schwarze Anzüge und gehörten offenbar zum Personal des nahe gelegenen Friedhofs.
Beide nickten G. zu.
G. erwiderte ihren Gruß, mir erklärend; der eine von den beiden sei Charon, der andere sein Gehilfe.
„Mit beiden“ sagte G., „stehe ich auf vertrautem Fuße.“ Und er wandte sich dem einen zu, den er als Charon bezeichnet hatte, indem er fragte: „Wohin geht denn heute die Fahrt?“ „Wie immer“, sagte der, „nichts Neues, das alte Lied!“
„Leid“, verbesserte ihn G., vor sich hin flüsternd.
Es schien, daß diese Verbesserung nicht für mich bestimmt sei.
Es war Stille im Raum.
Nur der alte Chronometer tickte.
Wir schwiegen.
Heinz Czechowski, 1978, aus: Uwe Greßmann: Lebenskünstler, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1982
Vor Jahren las ich ein Gedicht, einen Namen, und war verliebt. Ich fragte nach: Nur einen Lyrikband hat er zu Lebzeiten veröffentlicht, und über einem zweiten ist er gestorben, in jungen Jahren. 40 Jahre ist er schon tot. Ich kenne jemanden, der ihn kannte, und der verriet mir, wo sein Grab ist. Als er mir den Weg beschrieb, da staunte ich, denn diesen Friedhof hat Johannes im Blick, Tag für Tag, wenn er aus dem Fenster sieht. Auch ich habe schon oft aus seinem Fenster gesehen, während er still hinter mir am Schreibtisch saß, Wein trank, rauchte, vor sich die Lilie in der Wasserkaraffe und die trockenen Blätter im Glas. Heute haben wir sein Grab besucht. Ich bücke mich zum kleinen Grabstein, lese die Daten, sehe den Strauß, den jemand vor Wochen an den Stein gelehnt hat. Johannes erzählt, er habe lange suchen müssen, um das Grab zu finden, denn einer dieser einst kleinen Nadelbäume ist über die Jahre riesig groß geworden, und nur weil jemand einen der Äste weggeschnitten hat, ist der Grabstein nun leicht zu sehen. Ich sehe den Stumpf des Astes, hebe den Blick, und erst mit dem Kopf ganz im Nacken sehe ich seine Spitze.
Joachim Wendel, aus Tief aus der Dämmung. Ein stiller Portier für Johannes Jansen zum 50. Distillery, 2016
Franz Liebig über den Dichter Uwe Gressmann (1933–1969), dessen lyrisches Werk und Existenz in der Berliner Nachkriegszeit.
Und so empfingen [uns] Schildas Witze
Die Autoren Andreas Koziol und Richard Pietraß im Gespräch über Uwe Greßmann
(Kurzer Ausschnitt der Veranstaltung vom 18.4.2013 in der Galerie Pankow)
Moderation: Martin Jankowski (Berliner Literarische Aktion)
GRESSMANS MANTEL
Er
Weht noch immer
Durch die Geschichte
Dieses vergangenen Lands:
So viele
Formulare nicht ausgefüllt,
So viele Fragen
Nicht beantwortet.
Trauerarbeit,
Die zu leisten
Gewesen wäre im Land
Der verlorenen Seelen.
Die vergessenen Jahre,
Aufgewärmt
im Sud der Vergangenheit.
Allein
Gressmanns Mantel
Weht immer noch,
Darin er
Die Toten Seelen
Verbarg.
Heinz Czechowski
Hans-Dieter Schütt: Straßenbahns Geige
nd, 30.4.2013
Peter Will: Der Bote des Frühlings – Uwe Greßmann
Das Blättchen, 13.5.2013
„Vogel Frühling“ – Uwe Greßmann zum 80. Geburtstag
Galerie Pankow, 10.4.2013–2.6.2013
Michael Mäde-Murray: Die Welt umdeuten
junge Welt, 30.4.2023
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
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