DAS UNVERSTÄNDLICHE GEDICHT
Ich muß jetzt doch das unverständliche Gedicht
aufschreiben, denn schon viel zu viele Vorgänger
des einen unverständlichen Gedichtes wurden
als solches angesprochen, yes!
Es selbst führt, wenn auch Teil von mir, sein
aaaaaEigenleben.
Es selbst bestimmt, was ich der Mitwelt als von mir
bestimmt verkaufe, doch ist damit beinah nichts
gesagt. Mehr sag ich, hoff ich, jetzt.
Sein Kommen angekündigt hatte A., die kleine
Mitschülerin, der ich zwei lange Jahre haltlos
verfallen war in einem Maß, von dem kein andrer
’ne Ahnung hatte. Ich war schüchtern.
Sie selbst, kann sein, wußte aus meinem Nuscheln mehr,
nur langte es nicht mal zu einem kurzen Kuß,
noch nicht einmal, als wir gemeinsam Schule schwänzten
(ein Tag mit Glücksstern).
Ich bitte, hier noch nicht zu fragen. Das unverständ-
liche Gedicht war nicht an einem Tag gedichtet,
genaugenommen nie. Man seh mir nach, wenn hier
ein Bild halb paßt: Geburt −
das unverständliche Gedicht war einfach da.
Es war so schwarz wie die zum Glück vergeßnen Träume.
Es kam aus Tiefe und aus Nichts und schrie sein „Ich“!
Ich, sprachlos, habe nur gespurt.
Ich dachte nicht. Zu atmen, herzuhalten reichte.
Ich folgte, Nacht um Nacht, so wie ein Masochist
der oder dem Vergötterten. Ich staunte an
und tat am Tag darauf normal.
Die lächerliche Macht hat es manchmal zensiert,
manch einer sprach es heimlich mit und ahnte nicht,
daß solches sich nur selbst aussprechen kann aus uns.
(Male, Nikala, mal!)
Verstanden wird naturgemäß – und wurde – nie.
Der Singsang geht so fort, wenn einmal angefangen,
Verhältnisse sind ihm egal, man frage mich,
nicht das Gedicht nach Börsenkursen.
Die Verse sprießen, ob geackert wird, ob nicht,
sie feiern Fortschritt oder Weltenuntergang
am liebsten ganz, Grabrede oder Hochzeitssegen,
abstrus am Busen des Absurden.
Läßt sich das nicht auch anders sagen, fragt die Gretel,
ein Hans findet es abgedroschen, hergebracht,
sitzt fickerig auf seinem eignen Verse-Nest,
was nur verständlich ist.
Es hilft mir nicht und auch nicht dir, mein blasser Freund,
was wir hier treiben, ist das ältere Gewerbe.
Nur Mund sind wir und gehen wieder auf und sagen,
was unverständlich ist.
Holzmarkt, 18. Januar 2001
im Schlafe noch fort vom Tage, / vom heute gewesenen Tage“, heißt es bei Eduard Mörike, und ähnlich wie seinerzeit der schwäbische Romantiker begibt sich ein Dichter von heute auf Reisen nach Worten und Bildern für die Welt. Er stößt dabei wieder und wieder auf Spuren der eigenen Existenz, auf ein sich wandelndes und dennoch irritierend gleichbleibendes Ego, das sich zwischen „Frühjahrsstürmen“, „bei einer Wegerichblüte“ oder am „Ende der Saison“ in den Farben des Wassers zu finden sucht. Ob frei nach Dante, in streng komponierten Versen, gelegentlich auch mit einer kurzen Stanze oder einem schnellen Rap: Uwe Kolbes Thema ist die Recherche dessen, was hinter ihm liegt und vielleicht auf Elementares deutet. „So alt bin ich, sieh an, geworden. / Nichts daran ist überraschend, mag sein, diese einfache Aussicht / auf das, was geworden ist, doch.“ Die Orte, an denen Kolbe ins Nachdenken und in die Musik seiner Sprache gerät, liegen, auch wenn gelegentlich an die „Heim at Berlin“ erinnert wird, in Süddeutschland, im Schwäbischen meist, wo die Dialektik zu Hause ist und das „Dennoch“. Hier schaut er, als Fremder in der Fremde, in den Spiegel seiner Sätze, aus dem er sich selbst wie im Märchen oder Mythos als anderer entgegenkommt.
„Du gehst mit Vorsatz den anderen Weg, / hier fällt auf den Bach kein Licht, / nur vor deinen Füßen geht Sonne mit. / (…) / Da ausgerechnet kommt einer gegangen, / auch abseits, wie schlendernd, er schaut / links von sich, ab von dem Weg, der Träumer, / und eiert im Gehen wie du. Spieglein / ich schätze dein Schweigen.“
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2001
− Uwe Kolbes neue Gedichte finden einen Ausgangspunkt. −
Ein Riss geht durch die Welt. Es ist nämlich keineswegs ausgemacht, wie über unsere Wirklichkeiten literarisch zu verhandeln sei. Welthaltigkeit erheben die einen zu ihrem Programm, packen Wahrnehmungen und Beobachtungen in ihre Texte, und geben diese als die genuine Form der Wirklichkeitserfassung aus. Die Form, die Sprache und die Fantasie machen die anderen zu ihrer eigenen Sache und problematisieren die Wörter, die vorgeben, Wirklichkeit zu benennen. Sie kommen nicht zusammen, die beiden Königswege der Gegenwartsliteratur, und wer einen Weg eingeschlagen hat, kreuzt schwerlich einmal den anderen.
Und dann tritt jemand wie Uwe Kolbe auf den Plan, und alles, was man sich so schön zurechtgelegt hat über die Möglichkeiten des Schreibens heute, steht mit einem Schlag in Frage. Denn da lässt sich einer nicht festlegen auf ein Programm. Mit jedem Gedicht bricht er aus, schafft sich neu seine Welt, die ihm anders als in Sprache nicht zu Gebote steht. Er spielt mit Formen der Tradition, und er schafft sich seine eigenen Formen. Er nimmt seine Biografie als Material, und er beschäftigt sich sprachkritisch mit den Möglichkeiten der Literatur. Er ist keinem Programm verpflichtet, das er sich einmal zurecht gelegt hat, sondern befindet sich mit jedem Gedicht neu auf dem Sprung. Das verleiht seiner Lyrik etwas ungemein Spannungsreiches. Und dass Literatur aus dem Experimentalstudio der Gegenwart bisweilen etwas selbstverliebt Stolzes anhaftet, mag man ihr durchgehen lassen.
Uwe Kolbe steckt als Individuum, das schaut und riecht, schmeckt und fühlt, das denkt und staunt, sich erinnert und Fragen stellt, mit Haut und Haaren in seinen Texten. Seine Gedichte sind ganz er. Womit er nicht zu Rande kommt, gibt Stoff ab für Lyrik, die am Ende recht ratlos dasteht. Dokumente der Hilflosigkeit, die Bescheid sagen, was los ist mit unserer Welt. Und weil er nicht weiter weiß, fängt Uwe Kolbe bei sich an und kommt immer wieder, bei aller Neugier, die Außenwelt in den Blick zu bekommen, bei sich selber an. Am Anfang war Uwe Kolbe, sein Blick, seine Fassungslosigkeit, seine Ratlosigkeit, und daraus entsteht ein suchendes, tastendes Schreiben, das Angst hat, die Welt der Dinge und Vorstellungen im Konkreten aufgehen zu lassen. „Spieglein, / ich schätze dein Schweigen“, so endet das Gedicht „Doppelgänger“ und benennt indirekt das Dilemma des Dichters, der so scheu und unsicher gar nicht sein kann, als dass ihm nicht aus dem Zweifel Sprache und damit eine Spur von Sicherheit zuwachsen würde. Selbst aus der Sprachlosigkeit schlägt er noch ein Gedicht.
Als Dichter hat sich Kolbe der Möglichkeit verschrieben.
Wie immer standen viele herum.
Henker des Sehens,
Hindrer des Ahnens, nette Leute…
Gegen den Augenschein und die Behauptungskraft der Tatsachen setzt Kolbe sprachliche Gegen-Wirklichkeiten. Seine Gedichte beginnen bevorzugt mit Setzungen, die etwas dingfest machen. „Ich werd mein Gedächtnis verlieren, / das ist vor allem gewiss.“ „Ein Frühlingstag, Himmel und Sonne klar.“ „Das straff gespannte Tuch der Lau, / ich sah es und träumte sofort.“ Damit beginnt eine Fort-Bewegung von der Eindeutigkeit in das Ungesicherte, ein Aufbruch aus Sprache in ein Reich, in dem feste Konturen der Auflösung zugeführt werden.
Das Schlüsselwort in Uwe Kolbes lyrischem Kosmos heißt „Vielleicht“:
Vielleicht, doch ich kann es nicht so direkt aufschreiben,
vielleicht aber kann ich es anders auch sagen…
Das Vielleicht hält das Wissen in Schwebe. Es behauptet nicht gesicherte Tatsachen, sondern macht aus der Wirklichkeit eine Möglichkeit. Das Vielleicht setzt auch Denkspiele in Gang. Es probiert in der Fantasie aus, wofür es im gelebten Leben keine Entsprechung gibt. Mit dem Vielleicht kommt eine neue, andere Wirklichkeit in die Welt. Es ist eine schöpferische Kraft, die der Dominanz der handfesten Alltagsrealität eine entgegensetzt, die im Widerspruch zu ihr steht.
Im Gedicht „Der Glückliche“ verlässt ein Ich den Boden der überprüfbaren biografischen Tatsachen. Plötzlich werden Erinnerungen fragwürdig. Im Lichte des Vielleicht werden Erfahrungen zu Phantomen.
Vielleicht lehnte ich es schon immer ab, zu flüchten
in Technik, und rannte vielleicht vor Begriffen davon,
auf Augen zu, Augen, die aus Romanen nicht blickten, sich selbst nicht durchschauten…
Es ist eines der schwächeren Gedichte, es klingt wie ein Zuspruch an sich selber, sich treu zu bleiben in seiner Rolle, aus der Rolle zu fallen und das Unwägbare allem Vorgefertigtem, Abgeklärten den Vorzug zu geben. Das Gedicht ist zu sehr Anleitung zum geglückten Widerstand, als dass es den Widerstand selber in die poetische Tat umsetzen würde. Aber es ist eine Fundstück, auf das Germanisten setzen werden, wenn sie daran gehen, der Nachwelt die Lyrik des Uwe Kolbe zu erklären.
Überhaupt werden sich Germanisten schwer tun, Uwe Kolbe zu fassen. Er entzieht sich gängigen Kategorisierungs-Versuchen. Früher war er ein deutscher Autor, mit deutschen Themen. Er war ein Teil der Geschichte, der Stellung bezog zu deutschen Verhältnissen. Jetzt ist Kolbe schwieriger zu verorten. Er ist zu einer frei schwebenden Existenz geworden, die allenfalls in Szenen einer Kindheit und Jugend eingebunden ist in den größeren Zusammenhang einer Gesellschaft.
Ziemlich verloren steht er da, dieser Dichter, der aus seiner Ratlosigkeit keinen Hehl macht. Viel mehr als sich und seine Sprache hat er nicht, um vorzustoßen in die Geheimnisse der Existenz. Wer auf Antworten aus ist, weil er Orientierung sucht in der verworrenen Welt, muss sich woanders umsehen. Wer erfahren möchte, wie jemand Worte dafür sucht, dass er aus der Welt gefallen ist, findet in Uwe Kolbe einen Kumpanen im Zweifel. Seine Lyrik ist Gegengift zum Geist der Zeit.
− Schlag ins trübe Wasser: Neue Gedichte von Uwe Kolbe. −
Uwe Kolbes neues Gedichtbuch trägt einen schönen, sinnlichen Titel. Er macht neugierig, was Die Farben des Wassers sind und wie klar und lebendig die Sprache dieser Gedichte fließt. Vom Wasser spricht auch das Motto des Bandes, Verse aus Mörikes „Um Mitternacht“: „Es singen die Wasser im Schlafe noch fort vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage.“ Sie bereiten darauf vor, daß Kolbes Verse, wenn sie vom Heute und vom Gewesenen sprechen, ein lyrisches Tagebuch ergeben.
Es besteht aus 46 Gedichten, geschrieben zwischen April 1999 und Januar 2001. Sie alle sind nach Tag und Ort ihrer Entstehung bezeichnet. Unverkennbar ist süddeutsches Ambiente im Spiel; und „Tübingen, Juli 2000“ entwirft ein leicht satirisiertes Bild jener Stadt, in der Kolbe lebt. Doch das Lokale ist peripher, und auch die Datierungen wären überflüssig, wollten sie nicht etwas Besonderes akzentuieren. Kurz: Dies ist das Tagebuch einer Krise. Schwieriger schon ist herauszufinden, worin die Krise besteht und worauf sie zielt. Kolbe ist ja eher spröde und sparsam mit Konfessionen. Hier hat man freilich den Eindruck, daß er schon etwas bekennen, ja verraten möchte. Aber auch, daß hinter vorgehaltener Hand ins Vorläufige, Andeutende, ja Hermetische gesprochen wird.
Gleich das zweite Gedicht fragt, fragezeichenlos: „Wo gehe ich hin.“ Ein Gedicht des Unmuts – ja des Nichtmuts. Zweimal erscheint die Formulierung: „Das hatten wir schon.“ Das Ich hat zu Anfang eine Vision: „Im Wasser stehen die Sätze, / im Flusse des rauschenden Baches dies klare Gedicht.“ Aber dann folgt die totale Zurücknahme: „Die Vorschriften unseres Clubs lassen es ungeschrieben.“ Dieser Schluß befremdet. Denn ihn schreibt ein Autor, der zu DDR-Zeiten oft und risikofreudig, in Klartext oder Sklavensprache, seinen Einspruch und seine Wahrheit formulierte. Welcher „Club“ und welche Vorschriften sollte ihn heute hindern, das „klare Gedicht“ zu schreiben?
Doch Kolbe hat offenbar ein größeres Problem vor Augen als die Frage nach der Opportunität bestimmter Schreibweisen. Ihn blockiert das Problem der Nachgeborenen, der Epigonen. „Aber nur Gestrige sind wir“, klagt er, „mit entatmetem Wort aus dem letzten Krieg heimgekehrt.“ Aber was ist mit der Gegenwart? Mit dem Sprechen in der Banalität des kapitalistischen Welt-Alltags? Ein „Kurzer Traktat darüber, worauf ich aus war“ scheint eine Antwort zu geben: „Ich war auf das Eine aus, von dem ich nicht wußte. / Ich war auf das Andere aus, nachdem ich Eins kannte.“ So weit, so klar. Wir lesen ein Traktat über Systeme, über die Schwierigkeit, zwischen ihnen zu wählen, und die größere Schwierigkeit, sie zu überwinden. In Kolbes Gedicht herrscht Lähmung. So bleibt logisch wie poetisch nur die Paradoxie oder das Rätsel. Kolbe schließt: „Wenn Kultur Sublimierung ist, dann will ich doch lieber rauf auf es“ – was immer mit „es“ gemeint sei.
Nun ist Kultur so ziemlich Sublimierung und Kunst allenfalls ein Glücksversprechen, aber nicht das Glück selbst. Kolbe reibt sich an diesen Konditionen. Er schwankt selbstquälerisch zwischen der Mitteilung seiner Probleme und ihrer Verrätselung. Manches, was dunkel erscheint, ist wohl nicht ganz zu Ende gedacht, zu Ende gedichtet. Zu den verständlichsten Gedichten gehört ausgerechnet das letzte, „Das unverständliche Gedicht“. In ihm hüpft der Autor mit komischer Grazie, vielleicht weil er das Pensum seiner Bedenklichkeiten hinter sich hat. Dort heißt es:
Das unverständ-
liche Gedicht war nicht an einem Tag gedichtet,
genaugenommen nie.
Aber auch diesem witzigen Gedicht merkt man an, daß es an einem Tag gedichtet wurde: „Holzmarkt, 18. Januar 2001.“ Warten wir auf weitere „unverständliche“ Gedichte – oder auf die wirklich klaren, von der Farbe des Wassers.
Ans Wasser gehen. „Im Wasser stehen die Sätze, / im Flusse des rauschenden Bachs dieses klare Gedicht.“ Verse wie diesen, einen der anmutigsten seines Bandes Die Farben des Wassers, bringt Uwe Kolbe fast feucht noch zu Papier („Wo gehe ich hin“).
Der Autor weiß um die Flüchtigkeit des Elements und spricht diese Eigenschaft, die sich ungünstig auf seine Gedichte übertragen könnte, auch an. Er weiß von „dem eilenden, zerrenden Abbild, / dem schwankenden, vielfältigen Bilde“, das der Bach spiegelt („Wenn nun die Welt“).
Deshalb sucht er auch („Am Blautopf einmal“), der Sage von der „schönen Lau“ nachsinnend in die Tiefe zu dringen, wo andere, „Henker des Sehens, / Henker des Ahnens, nette Leute“, mit dem Anblick eines Erpels sich begnügen, der farblich so gut zur Wasseroberfläche passt.
Überdies freilich grundiert Uwe Kolbe, der 1957 geborene Berliner in Tübingen, seine schnell trocknenden lyrischen Wasserfarben manchmal mit schwer zu entschlüsselnden Passagen. Zu dieser dann eher privaten Tonlage fügt sich, dass jeweils Entstehungstag und Ort (Straße) angeführt werden.
Vorangestellt sind der Sammlung Zeilen Eduard Mörikes über die Wasser, die noch im Schlafe fortsingen „vom Tage / Vom heute gewesenen Tage“ („Um Mitternacht“). Kolbes Buch enthält Gedichte vom Tage, auch solche wohl, die „aus Zufall Unendliches unter dem heutigen Datum“ vereinen. So vergleicht er selbst einen langen Blick aufs Wasser mit einem in die Tageszeitung („Beim Zeitunglesen“).
Nicht zufällig hingegen steht eines der treffendsten Gedichte des Buches auf dem Schutzumschlag. „Der Hochsitz“ vermittelt knapp den Eindruck von Höhe, den man angesichts eines solchen Jägersitzes gewinnt. Der Blick wird dabei die Sprossen hoch gelenkt: „Auf deren letzter oben / zwei Füße in Sandalen.“ Weit weg vom Wasser.
Schon der Titel von Uwe Kolbes neuem Gedichtband weist auf das Wasser als leitendes Motiv hin. Mörikes „Um Mitternacht“ hat er zum Motto bestimmt, und dort schreibt der Dichter aus dem 19. Jahrhundert von den Wassern, die „vom gewesenen Tage singen.“ Uwe Kolbe seinerseits bedichtet das Wasser des Blautopfs in Blaubeuren; einen Stein im strömenden Wasser; das Wasser, „auf dem wir wohnen“; das Gleichmaß eines Brunnens, der fließendes Wasser nachahmt. Er stellt sich vor, ein Gedicht zu schreiben, in dem er die Hände in Wasser steckt, und er spricht in dem Gedicht „anders variiert“ schließlich von der „einen Farbe des Wassers“. Diese Allgegenwart des Wassers hat konkrete und persönliche Ursachen. Seit einigen Jahren lebt Uwe Kolbe in Tübingen, wo auch mit exakter Datum- und Ortangabe die meisten Gedichte zwischen April 1999 und Januar 2001 am dortigen Holzmarkt und in der Brunnenstraße entstanden sind.
Kolbe arbeitet als Dozent am Studio Literatur und Theater an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Allein die „heilig nüchternen Wasser“ des Neckars, wie Hölderlin sie bedichtete, können ihn nicht über den Verlust von Seen- und Flüssen in und um seine Berliner Heimat hinwegtrösten. Kolbe:
Diesmal ist etwas geschehen, und das ist auch etwas ganz Physisches, nämlich, dass ich unter dem Wassermangel der Gegend gelitten habe. Der Auslöser, diesen Titel zu geben und über Wahrnehmung und das Element Wasser nachzudenken, in immer neuen Variationen, das ist etwas ganz Physisches. Hier gibt es einfach wenig Wasser, in dieser Gegend, wenig fließendes oder stehendes, wenig Oberflächenwasser. Man muss hier eineinhalb Stunden mit dem Auto fahren, um an den Bodensee zu kommen. Baggerseen und das heilig nüchterne Wasser des Neckars, das ist eine poetische Ortsangabe, das konkrete Wasser des Neckars ist vergleichsweise uninteressant, weil der Neckar allerwegen aufgestaut ist und es für Bootsfahrer viel interessanter ist auf die Donau zu gehen.
Die meisten neuen Gedichte sind für weniger erfahrene Leser Uwe Kolbes zunächst schwer zugänglich. Er selbst schreibt im Gedicht mit den vielsagenden Titel „Unverständliches Gedicht“, dass dieses in seiner Unverständlichkeit schon zu viele Vorgänger hatte. Außerdem habe dieses Gedicht, wenn auch ein Teil von ihm, sein Eigenleben, und gerade dies ist es wohl, was viele Gedichte beim ersten Blick so fremd erscheinen lassen. Uwe Kolbes Bilder, die er in expressionistischer Tradition aneinander reiht, formen meist keinen zusammenhängenden Ausschnitt von Welt. Sie zeigen ein sperriges Geflecht von Wirklichkeitsfetzen, die der Dichter in den für ihn bedeutsamen Augenblicken wahrgenommen hat. In seinem Gedicht „Tübingen, Juli 2000“ sieht sich der Leser unvermittelt in ein mittlerweile historisches Geschehen gestellt. In den ersten drei Zeilen heißt es:
Frankreich Europameister in den Gassen der Altstadt (Seminar)
Independence Day auf der Neckarwiese (Vorlesung)
Sommerfest der Universität (Vorankündigung).
Auch im langen Gedicht über Berlin mit seinen 30 dreizeiligen Strophen, teilt er in unbeirrter Spontaneität Gedankenfetzen, Erinnerungspartikel und Sekundenbilder mit, deren einziger Zusammenhang und Zusammenhalt die Stadt Berlin, die Heimat des Dichters ist.
Uwe Kolbe selbst wehrt sich gegen denn Eindruck, seine Gedichte seien schwer zugänglich. Er meint, er schreibe,
die schlichtesten Gedichte, die man derzeit lesen kann von deutschen Autoren. Na, ja – in Konkurrenz mit Robert Gernhard vielleicht, aber der gehört einer anderen Schule an. Wenn ich für meine Gedichte eine Lesehilfe geben würde, würde ich immer sagen: Nimm es so verflucht konkret und profan wie es wirklich ist. Es ist kein Bild, es ist nicht aus Literatur. Die Form, der Formenkanon, mache Anspielung, aber die musst du gar nicht wissen. Das Ding muss so aufgehen, wie es da steht.
Ob diese Lesehilfe wirklich hilft, entscheidet letztlich der Leser. Doch macht es gerade die Lebendigkeit der Gedichte aus, dass Uwe Kolbe unmittelbar mit Sprache auf Ereignisse reagiert. Und dieser Funke der Unmittelbarkeit springt dann über oder nicht. Diese geheime Korrespondenz bei der Lektüre lässt sich nicht erzwingen. Dabei spricht es für die Wahrhaftigkeit der Gedichte, dass Uwe Kolbe sich gerade nicht über Gebühr bemüht, verstanden zu werden. Er präsentiert, erklärt aber nicht, denn jede erklärende Vermittlung würde seiner Poesie die lebendige Präsenz nehmen. Die Motive sind nicht gesucht, sondern kommen unvermittelt aus dem persönlichen Lebensfeld auf ihn zu:
Ich arbeite nicht Gedichtthemen ab, sondern ich habe Gründe Gedichte zu schreiben, und diese Gründe haben mit meiner Existenz zu tun und sind nicht gesucht und müssen auch nicht gesucht werden. Es gibt natürlich Leute, die können sich Themen hernehmen und die dann lyrisch abarbeiten. Das könnte ich handwerklich auch, aber das finde ich uninteressant. Und in dem Sinne – ich habe das oft genug gesagt – sind meine Gedichte Gelegenheitsgedichte, weil sie den Gelegenheiten meines Lebens entstammen.
In all diesen Gelegenheiten sucht er jedoch, ob bewusst oder unbewusst, auch sich selbst. Sein Schreiben wirkt wie das Protokoll einer Recherche nach dem, was seine Person im Wechsel der Zeiten, Ereignisse und Gedanken letzten Endes ausmachen könnte. So heißt es im Gedicht „Fragwürdige Erklärung“ in der ersten Zeile: „Zu gern wäre ich, der ich nicht bin.“
Bei aller Vielschichtigkeit von Formen und Inhalten befassen sich einzelne Gedichte immer wieder mit nur einem Gegenstand. „Der Hochsitz“ ist nur aus wenige prägnanten Bilder geformt und erinnert in seiner schlichten Gegenwart an die stille Kraft der femöstlichen Poesie und der Kunst des Zen-Buddhismus:
Er steht nach hinten rechts
Auf einem langen Bein Links stützt er seinen Arm
Auf einen Weidenast
Vom halten lange Nägel
an Pfosten sieben Sprossen fest Auf deren letzter oben
Zwei Füße in Sandalen
Eines der schönsten Gedichte ist „Der Transistor“. Uwe Kolbe verbindet mit dem Radiogerät seine eigene Geschichte und die Vergangenheit der DDR. In der Mitte des Gedichtes nennt er beiläufig „Hey Jude“ von den Beatles, und beim Lesen meine ich wirklich diesen wunderbaren Song zu hören, ebenso wie er beim ersten Mal vor mehr als dreißig Jahren aus meinem alten Radio erklang.
DER TRANSISTOR
Von dem Gerüst an dem kleinen hundertjährigen Haus
schallt ein Song herüber aus einem siebzigerjahr
des letzten Jahrhunderts (Zeitgefühlsgänsehaut).
Das Transistorradio ist so weit aufgedreht
daß es scheppert. Frau Highsmith überliefert
Cliffies Plattenspieler, auf dem lag immer Hey Jude.
Ich höre im Weitergehen den RFT-Smaragd,
fühl das Gewicht seines Holzgehäuses
vierhundertachtzig Mark waren wirklich viel Geld
in der DDR auch in den siebzigerjahren.
Ein tolles Geschenk. Und ich ging allein hinaus
in die leeren und dunklen Straßen der Stadt,
Hell über mir das Firmament der Hitparaden.
– Uwe Kolbes neue Gedichte setzen auf Wiederliebe. –
Das neue Gedichtbuch von Uwe Kolbe kommt – wie sein Autor – bescheiden und stolz zugleich einher. Hübsch zunächst der kleine Hieb gegen die Groß-Autoren, die unter jedes Gedicht schreiben, wo es entstanden ist: Ambohimanga liest man da oder Camoglie. Bei Kolbe heißt es ganz brav (und ebenso unnötig); Brunnenstraße, Holzmarkt, hier und da Bergelmühle, im wesentlichen also Tübingen, wo der Autor zur Zeit als Poetikdozent lebt und wirkt.
Kolbes Gedichte halten konsequent den eigenen Ton fest. Der ist salopp und kess und wehrt sich gegen eine altertümliche Klarheit, das Vorbild der Natur etwa:
Im Wasser stehen die Sätze,
im Flusse des rauschenden Bachs dieses klare Gedicht
Wo gehe ich hin? fragt der Titel, und das Gedicht beginnt: „Ich gehe an den Bach.“ Bei Rosenlöcher würde nun Sprudeln und Strudeln folgen, Glitzern und dunkle, vergiftete Stille. Kolbe sagt ganz lakonisch: Die Vorschriften unseres Clubs lassen das Gedicht ungeschrieben. Wer mag der Club sein? Vielleicht seine Tübinger Dichterschule, vielleicht der Club der toten Modernen, die keine Abbilder mehr erlauben.
„Anstrengend, verstehen zu wollen.“ Zugleich viel leichter, wenn die Leser mitdenken, mitsprechen dürfen, wie das Mandelstam und Celan uns erlauben wollten. Das mag, so Kolbe, anstrengend sein, „aber das einzig Sinnvolle / hin und her wie in der Wiederliebe.“
So fehlt auch der große Ton, zu dem es gehört, daß der Dichter etwas zu verkündigen hat:
Stolze Visionen erregten mich, die sind beim Dichten ein Graus.
Jene Gedichte, die sich an Sichtbares, möglichst nur Halb-Sichtbares halten, machen es sich und dem Leser einfacher, entspannt und schön und tiefsinnig, wenn man möchte – das hängt von der Wiederliebe des Lesers ab.
Ein Hochsitz in Thüringen beschert einen Aufblick zu zwei Füßen in Sandalen, was die eigene Perspektive ironisch relativiert. Ein Durchblick auf alte Häuser im Februar, „bevor das lebendige Grün ihn uns nimmt“: ein Spaziergang; das Gleichmaß des Brunnens; Terzinen zum Frühjahrssturm. Ein Essigbaum im Bahnhof wird zum Emblem fürs Aushalten in höchst unwirtlicher Umgebung.
Doch sind Genrebilder mindestens so ein Graus wie die großen Visionen, etwa am Blautopf, bei der schönen Lau: überall Touristen, „denen der Erpel gefiel auf dem Blau, / weil die Farbe gut paßte“. Kolbe schimpft sie „Henker des Sehens, Hindrer des Ahnens“ – sie „ließen die Tiefe nicht gelten“. Ein etwas widersprüchliches Programm also, das sich der Erfahrung stellt, selber nicht ,einfach so‘ in die Tiefe zu können.
Kolbe faßt das im romantischen Motiv vom Doppelgänger:
Du gehst mit Vorsatz den anderen Weg
Der da entgegenkommt, auch abseits, wie schlendernd, „eiert im Gehen wie du“.
Das Andere – eine Illusion? Jedenfalls ist es um die Sichtbarkeit der Welt schlecht bestellt – die Baustellen ringsumher sorgen dafür, daß „unsere Sicht statt ein Spiegel / nur Brecheisen des Überlebens ist“. Immerhin noch ein höchst anspruchsvolles Poetik-Programm,
Die Gedichte gehen, wie es zur Gattung gehört, in die Kindheit zurück, fragen ihren Verfasser, woher seine Hast rühre:
Lang ist es her, daß ich genauer hinschaute.
Und er besinnt sich auf die Verbundenheit, das Gefühlswissen des Kindes, das immer wieder einmal aufblitzt:
in ein paar Bächen, in Strudeln an Wehren
und Blicken, die sich auf Brücken zu treffen vermeiden
So blitzt es auch in die Verse hinein, Lyrik ist seit alters als Andeutungsrede bestimmt:
Zuviel mag das Kind gesehen haben und tief
aus dem Gurgeln gehört, aus dem Trüben gewußt,
in wenigen Stunden, in Augenblicken das Darum.
Der Gestus der Ergebenheit („diese einfache Aussicht auf das, was geworden ist“) täuscht also durchaus, und ein „bescheidener Untergang“ wird allenfalls dem Staat und seinen neuen Ansprüchen zugemessen. Ob die Gegenthese „Komm staunen und sterben / begeistere dich“ mehr ist als ein ironisches Zitat, steht dahin. Immerhin folgen gleich darauf Liebesgedichte, in denen es darum geht, daß „einer den andern wahrnehmen“ könnte, „wenn keiner mehr zagte“. Anspielungsreich sind die „Sieben Arten, den Mund zu schürzen“, ein Liebesgedicht, das gewiß in die Anthologien eingehen wird.
Auch leicht blasphemische Gesten gibt es, wenn ein Einkehr-Gedicht, das im Vergleich zu Trakl „nicht mehr ganz vollständig ist“, mit „Gethsemane“ überschrieben ist. Charakteristisch ist der „Vielleicht“-Gestus: Nichts ist verbürgt, nicht einmal die Grenzlinie zwischen Sein und Wünschen – „obwohl ich die Regeln weiß, weil ich erwachsen bin“.
Die Gedichte verletzen die Regeln und Grenzen, ohne deshalb gleich „abstrus“ zu sein, wie Kolbe gelegentlich unterstellt. Sie bleiben widerspenstig und aufmüpfig, immer wieder auch von einer spröden Anmut gezeichnet, flüchtig und doch zur Wiederkehr bereit, wenn man ihnen gut zuredet: Man sollte sie, wie immer, mehrfach lesen.
Alexander von Bormann, die horen, Heft 207, 3. Quartal 2002
Es gibt eine Zeit, die heilt, und „Nur Zeit, die nicht heilt“. Das Leiden an einem Zustand, über den wir nicht hinauskommen, der Fremde ist und Flucht vor Nähe, Weite, Tiefe, Genauigkeit, Geduld, Hingabe, Begeisterung; umgeben von „netten Leuten“ und „zu vielen Leuten“, die zugleich dem Satten, Gefestigten und Flüchtig-Vordergründigen huldigen; das Zeithaben, das Träumen und Schlendern, Innehalten und Nachhaken bleibt dabei auf der Strecke, auch das Bestehen auf Mehr als zu wenig und die Sensibilität für das, was zu leicht, zu früh oder zu hastig geschieht: All das wird in diesem Gedichtband Uwe Kolbes von verschiedenen Ichs in unterschiedlicher Weise beobachtet. Diese verschiedenen Ichs haben, so scheint es, ihre Heimat verloren und sind auf der Suche nach Zusammenhang und Identität. Berlin z.B. ist nicht mehr „Mutter Berlin“ (Bornholm II), sondern unter „(030)“ zu erreichen und zum Stereotyp degradiert:
Berlin ist meine Heimat. Berlin spie mich aus, Berlin, mein liebstes Klischee […] Berlin, ich habe keins.
Stattdessen rücken in diesem Gedichtband von Uwe Kolbe, der vor einigen Jahren von der Hauptstadt nach Tübingen zog, neue Orte ins Blickfeld. Wiederholt wird durch Überschriften wie „Brunnenstraße“, „Holzmarkt” oder „Alter Botanischer Garten“, durch Namen wie „Hölderlin“ oder „Mörike“ auf die alte Universitätsstadt und das schwäbische Umland angespielt.
Inhaltlich wird das Ganze bei Kolbe erstmalig durch ein Leitmotiv, das Bild des Wassers mit seinen verschiedenen Farben und Facetten, zusammengehalten, obwohl durchaus sehr Unterschiedliches zur Sprache kommt: vom „Hochsitz“ und „Transistor“, über den „Zufall“, den „Doppelgänger“, „Das Ach und das O“, „Die Lieb“ bis hin zum „Geologischen Fenster“ und dem „Ende der Reise“; Komplexität entsteht hier vor allem durch Brüche und Leerstellen; neue Namen, Metaphern und Bilder sind seltener geworden; insgesamt treten tradierte Formen mit Reim und Rhythmus stärker in den Vordergrund, wobei unklar bleibt, ob dies aus spielerischer Absicht heraus oder zum Zweck der Wiederbelebung geschieht.
Neu ist auch der elegische Tonfall. Mangel, Distanz, Skepsis, Zerrissenheit hat es bei Kolbe von Anfang an gegeben, zunächst angesichts der politischen Zustände in der DDR, angesichts des „beschnittenen Dasein[s]“, der „Stacheldrahtlandschaft“ und der „Sicherheit“ (Hineingeboren). Die Kritik der frühen Gedichte war nach vorn gerichtet, sie war aggressiv, zielsicher und unnachgiebig. Das Elegische hingegen, dem die kämpferische Geste fremd ist, kannte man bei diesem Dichter bislang noch nicht. Der Blick zeichnet sich nun an vielen Stellen durch Schwermut und Rückwärtsgewandtheit aus: „Lang ist es her, daß ich genauer hinschaute“, „Wer war ich eigentlich, bevor ich vom Pferd herabstieg und mich schämte“, „So alt bin ich, sieh an, geworden“, „Befaßt bin ich mit Vorher, mit immer Davor, nie dem Danach“, „Staub setzt sich von aufgeschobenen Reisen“. Die Gegenwart ist häufig durch Konjunktive, durch „Beinahe“ oder „Vielleicht“ geprägt:
Vielleicht, doch ich kann es nicht so direkt aufschreiben, vielleicht aber kann ich es anders auch sagen, […] vielleicht ein Aber zu leicht ausgesprochen […] So ist, was ich seh, wenn ich schaue, ganz sicher nur das, was ich wünsche, vielleicht.
Die neuen Gedichte sind, obwohl nach wie vor deutsch-deutsche Fragen oder die Suche nach Freiheit anklingen, in einem deutlich unpolitischerem Umfeld angesiedelt. Auch im Tonfall sind sie im Vergleich weicher, langsamer, leichter und durchlässiger geworden, allerdings auch unschärfer, weniger expressiv und weniger existenziell. Zumindest schlägt einem die existenzielle Dimension, die für den frühen Kolbe so typisch war, nicht mehr mitten ins Gesicht. Man erwischt sich beim losen Blättern. Vielleicht aber ist dieses Leseverhalten nicht dem Dichter vorzuhalten, vielleicht hat das Gedicht seine existenzielle Dimension mit dem Fall der Mauer eingebüßt, denn im gesamtdeutschen Land braucht es die Funktionen, die ihm innerhalb der DDR von verschiedenen Seiten zugesprochen worden waren, nicht mehr auszuüben. Das Gedicht kann in dieser Zeit nur noch für jene wenigen von Bedeutung sein, die ihm von sich aus Interesse, Zeit und Geduld entgegenbringen. Problematisch ist daher einzig, dass vieles in Kolbes neuem Gedichtband gleichzeitig zu direkt und deutlich und zu indirekt und undeutlich gesagt erscheint, dass das Wasser vielerorts verwässert, dass dem Dichter also gerade das, was er vermisst, Genauigkeit etwa häufig nicht genau genug gerät. Dennoch haben uns diese Gedichte etwas zu sagen: „Wir hören zu früh auf, wir treten nicht dicht genug heran, wir ersetzen, wir sehen an den entscheidenden Stellen nicht mal mehr weg: Stell dir vor, „Es ist Krieg, und wir sehen es. […] Wir flüchten [-] meist vor uns selbst. […] Wir fragen alle nicht weiter“.
– Wo Kerstin Hensel kräftig zutritt, malt Uwe Kolbe Aquarelle. –
Uwe Kolbe liegt Angriffslust fern. Seine neuen Gedichte sprechen nicht mehr vom Ekel über den „Salto bestiale im Turnvaterland“. Die bittere gesellschaftskritische Diagnose: „Zentralviehhof“, die noch dem Band Nicht wirklich platonisch (1994) Schärfe gab, ist einer sinnierenden Melancholie gewichen. Wo Kerstin Hensels Verse mit voranwehendem Mickel-Motto kräftig zutreten, schweben die Uwe Kolbes mit dem blauen Band Eduard Mörikes unruhig über dem Wasser. Langsam und minutiös tastet sich Kolbe an das zu Benennende heran. Wo Kerstin Hensel den Kampf ansagt, konstatiert Uwe Kolbe gelassen oder resigniert „Es ist Krieg, und wir sehen es.“ Krieg ist nur ein „Fernsehgeräusch hinter Fenstern“ im idyllischen Universitätsstädtchen Tübingen. Der Bewohner des Insellandes Orplid übt bewußt die Langsamkeit ein. „Wir schreiben Zentraleuropa, schreiben das Land / Satt, wie es heißen sollte. Woher meine Hast?“ grübelt das Ich „Beim Zeitunglesen“. Was dem Henselschen Löwen die Krallen austreibt und seine Herrin mit immer schneller wechselnden und schlagfertiger werdenden „Kehren“ reagieren läßt, animiert Uwe Kolbe zum Entwerfen eines poetischen Gegenlandes. Seine Gedichte zögern, lassen Bilder, Geräusche, Gerüche, Gestalten auf sich zukommen, filtern das zufällig Angeschwemmte eines Tages und tuschen mit dem Extrakt – vornehmlich aus Farben und Bewegungen – ein Aquarell. Da treibt alles weiter, fließt ins Unbestimmte wie die Farben des Wassers. „Am Blautopf einmal“ heißt ein Gedicht, in dem das „straffgespannte Tuch der Lau“ die Leinwand aus Worten beherrscht. „Alle der Farben / in einer Staffel des Abends, / in einem Seufzen des Lichts“ tönt es in „Alle der Farben“. Das Gedicht „Womit ich befaßt bin“ beschreibt die Veränderungen, die „bescheidenen Untergänge“, denen Kolbes Verse gewidmet sind:
Mit einem Schwarm von Staren,
bevor sie den Kran verlassen,
der dann wieder rot sein wird.
Die Wortmalerei Kolbes ist genau im Detail, aber fragmentarisch im Ganzen. Sie skizziert Bruchstücke, nie ein vollständiges Bild („Der Hochsitz“). Kolbe spielt subtil ironisch mit klaren Sätzen, deren vermeintliche Mitteilungen sich als Rätsel entpuppen („Stil“). Das schlurft und schürft, bröselt und fällt wie in „Jetzt könnte langsam werden“. Jedes Wort wird einzeln von der (Wort-)„Halde“ geklaubt und der Vorgang zugleich sanft bespöttelt:
Nur unsere Halde, da dreht sich noch was, da ist noch Fernsicht.
Das einzelne Wort wird wie ein Gegenstand um- und umgewendet, abgeschmeckt, gegen das Licht gehalten, in zahlreiche Wasser-Bilder getaucht. Wo das in Distichen und Stanzen geschieht und in durchkomponierten frei rhythmischen Assoziationsketten, wirken die Verse zugleich offen und in sich geschlossen. Im Berlin-Zyklus „(030)“ allerdings bleibt die lose Aneinanderreihung von Bildern und Abstrakta beliebig und ohne innere Logik. In anderen Gedichten ist es oft die Pointe, die alles rundet:
Das Schneckenhaus
als die stabile Form
erkannt
(„Aufgewickelter Zustand“).
Ironie, Selbstironie, auch Komik, setzt Uwe Kolbe nie laut schenkelklatschend, eher schmunzelnd und behutsam ein.
Ist Uwe Kolbe ein bedächtiger, gar ein provinzieller Natur-Idylliker geworden? Seine Verse beschreiben, wie der Knöterich lang in den trägen Bach herabhängt. Sie intonieren das Gleichmaß des Brunnens, der fließendes Wasser nachahmt, und benennen die Wacholderdrossel vorm Fenster. Ist das noch der Dichter des Risses zwischen den Generationen, der einst mit Gedichten wie „Hineingeboren“ und „Wir leben aus Rissen“ Furore machte, der sich in seinem „Gruß an Karl Mickel“ dazu bekannte, „nah am Hochverrat“ zu reflektieren? Uwe Kolbes Verse sind ruhiger und ironischer geworden:
So alt bin ich, sieh an, geworden.
Nichts daran ist überraschend
sinniert das Ich „Bei einer Wegerichblüte“. Die neuen Gedichte nehmen nunmehr Risse wahr, die durch die Wahrnehmung des Augenblicks gehen. Widersprüche zwischen Ich und Welt werden darin nicht mehr vordergründig thematisiert, sie hauchen sich als „Zeitgefühlsgänsehaut“ („Der Transistor“) von Vers zu Vers.
Dorothea von Törne, neue deutsche literatur, Heft 542, März/April 2002
Steffen Jacobs: Jacobs’ Gedichte (8)
Die Welt, 13.10.2001
Nico Bleutge: Unendliche Spiegel
Stuttgarter Zeitung, 9.11.2001
Frühreif
Märchennonsens zwei
Mit dem letzten Oma
Omnibus kommts Rot
käppchen, bringt Kuchen.
Sagt Tach zur Oma. Gibt
brav nen Kuß kommt
Oma gern besuchen.
Peter Wawerzinek
Uwe Kolbe und Max Czollek sprechen über Gedichte, die sie in einer bestimmten Zeit besonders geprägt haben.
Die Zeitschrift Belletristik fragt Uwe Kolbe
Uwe Kolbe liest auf dem XX. International Poetry Festival von Medellín 2010.
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