PUNKT
Es gibt einen Punkt, anmaßend zu sagen,
von dem geht es nicht mehr zurück,
zu wiederholen, was nur zu bekannt,
den Allbekannten zu rufen. Die Wissenschaft
Begeisterung hält treu zu ihm, und
ein Mädchen zu Schwänen. Ich ging
nicht fehl, seine Seite zu suchen, das Brot
zu teilen mit ihm, dem Sänger,
zur Strandpromenade am Festtag.
Ich holte Pappbecher da, die wir füllten
mit altem Wein und sahen hinaus
durch je das Flanieren und Flimmern,
hinaus an den Horizont, bis dass
nicht mal der Verdacht auf Wiederkehr.
als in seinen vorangegangenen Büchern geht Uwe Kolbe in seinen neuen Gedichten aufs Ganze unserer Existenz. Dass wir dieses Ganze als Widerspruch, Zweisamkeit als Entzweiung erleben, zeigen vor allem die so leidenschaftlichen wie reflektierten Liebesgedichte des Bandes. In immer neuen Anläufen zielen Kolbes ,Gegenreden‘ auf die Liebe als dem „Rätsel der fremdesten Nähe“ und wechseln souverän zwischen hohem Ton und Ausgelassenheit ihre sprachlichen Register. Die Sprache selbst wird dabei zu einer Tür, die Leserinnen und Leser mit dem Zauberwort ihrer eigenen Erfahrung öffnen. Wer sich einlässt und liest, kommt, versprochen, als ein anderer aus diesen Gedichten heraus.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 2015
– Wer einer Utopie ins Gesicht geblickt hat, bekommt eine Sphinx an den Hals: Neue Gedichte von Uwe Kolbe. –
Uwe Kolbe hat mit dem Band Gegenreden endgültig Abschied genommen von der Langzeit-Metapher Vineta. Mit den vorangegangenen Lietzenliedern deutete sich das schon an. Die versunkene Stadt wird nicht länger angerufen, Kolbe hat stilvoll Abschied genommen. Er spricht aus einer anderen Perspektive, es zeigt sich eine veränderte Stimmlage, in der Intonation neue Obertöne. „Das Tagwerk“ des Dichters, diese sechs Gedichte als Formenkreis eines Diariums, ist nicht länger ins eigene Leben vertieft. Im ununterbrochenen Strom von Ursache und Wirkung kommt es zum Exempel.
Die Welt war Eis, und Eis lag auf der Welt.
…
… Gott wusste,
das war nicht die Schöpfung, nur kalter Widerspruch,
doch hielt er den Mund und segnete es.
Kolbe überwölbt das Reale und zieht es zugleich ins Mythische. Auch als poetische Rücklage von abhanden gekommenem Wissen. Ja, wer einer Utopie ins Gesicht geblickt hat, bekommt eine Sphinx an den Hals. Und das „klärende Licht“ bleibt ein Zeichen, das sich dem Verstande nicht beugt.
Sphinx auch an manchen Tagen, die waren, Tagen
durchschlagenden, klärenden Lichts unerwartet,
wie in den Oktobern des Lebens …
Wie alt manche Formulierungen sind. Und Licht.
Kolbe folgt weiter seinen ästhetischen Überzeugungen, bekennt sich zur gefährdeten Aufklärung, bleibt origineller Melancholiker, wenn auch mit affektiver Färbung. Der Anblick des Mannes mit Axt im Wald:
Ich wünschte, sein Tun könnte meines segnen.
Aber die Gegenwart genügt nie, nicht einmal in den Ausnahmefällen des Reisens, an den Orten zur Gewinnung von Zeit. Im Zyklus „Transit“ streift Kolbe „Kafka in Auckland“ am Ampel-Übergang. Sofort ist sie da, die Sehnsucht nach dir, Mitte Europas“. Nicht zu verwechseln ist hier die Lebhaftigkeit der Bilder mit ihrer Vertrautheit. Auch mit Venus und Aphrodite finden sich weitere Verse, die der Abstraktion nahe bleiben, ohne sich mit ihr zu begnügen. Doch mildert ein Sternbild, eine Andromeda, die Nähe zur Hybris.
Hoch auf den Olymp steigt das Schlangenhaupt,
wir leben von Stund an als Menschen.
Antike Projektionen mit „Berenike“ oder „Hekate“ sollen sich in der Zange der Gegenwart bewähren. Effekt-Dramaturgie setzt diese Wirkung frei, selbst „Pandora“ nicht ausgenommen.
Sie strich mit dem Finger
– oh ihres so delikaten Fingers –
den Innenrand ihrer Büchse.
Vom Allgemeinbegriff zum Detail führt der Weg im formoffenen Zyklus „Handarbeit“. Die Einlassungen des Verstandes gegenüber den einfachsten Dingen laufen hier auf ein unbestimmtes Ende zu. In aller Unschuld zeigt sich weiter nur „Eden, gähnender Koloss“. Der 57-jährige Berliner wieder in Hamburg:
Hält jener
erneut an das Wasser sich, seine Spur, denn eins muss er bleiben,
festhaltend am größten, am Rätsel der fremdesten Nähe, Liebe.
Die Liebe bleibt gegenwärtig, von da an auch Einzelheiten. Oder Dringlichkeiten.
Ich harre im Verschlungenen,
wo laut wird leise zu lesen.
Uwe Kolbe ist sich seines Weges sicher, er macht kein Aufhebens davon. Für ihn gilt Singularität, alles ist gesetzt gegen die Zeitfalle des Modischen.
– Gegen die Zeitfalle des Modischen: Der Schriftsteller Uwe Kolbe ist in seinen neuen Gedichten nicht geneigt, den leichtesten Weg einzuschlagen. Gegenreden heißt der jüngste Band, kein Gedicht ohne Einfall darin. –
In Uwe Kolbes letztem Prosastück „Usedom“ kam Wernher von Braun in die Quere und hielt „Vineta“ für einen Umweg. Aber was weiß ein Raketenmann, dann auch noch dieser, vom habituellen Gedächtnis eines Dichters? Oder wie Poesie den Scharfsinn übersteigt? Es ist ja nicht das Unmittelbare der Physik, das im Gedicht spricht.
Die Stadt war nicht das Bild des Versunkenen, sondern das eines Anderen, das es im Leben nicht gab.
Der Dichter hat stilvoll „Abschied von Vineta“ genommen, ohne etwas „ans Anekdotische“ zu opfern.
Schon die Lietzenlieder lasen sich wie befreit, mit dem Gedichtband Gegenreden geht es jetzt in Stimmlage und Intonation flagrant weiter. Kolbe spricht aus einer anderen Perspektive, es zeigen sich neue Obertöne. Dichtung, die nicht stehenbleibt, hat ihren Anteil verborgener Dinge eines Vorlebens. Sie trägt die Umwege in sich, auch wenn jeder Vers aus dem augenblicklichen Eindruck wächst. Kolbe ist dabei nicht geneigt, den leichtesten Weg einzuschlagen. Er braucht nicht den „Kokon meines eigenen Sounds“.
„Das Tagwerk“ des Dichters, diese sechs Gedichte als Formenkreis eines Diariums, ist nicht länger ins eigene Leben vertieft. Im ununterbrochenen Strom von Ursache und Wirkung kommt es zum Exempel.
Die Welt war Eis, und Eis lag auf der Welt.
…
… Gott wusste,
das war nicht die Schöpfung, nur kalter Widerspruch,
doch hielt er den Mund und segnete es.
Es ist fast unmöglich, alles zusammenzuhalten. Extravagante Wege, die in einem Gedicht möglich sind. Mit ausgesuchten, mit verschollenen Mitteln.
Kolbe überwölbt das Reale und zieht es zugleich ins Mythische. Auch als poetische Rücklage von abhanden gekommenem Wissen. Ja, wer einer Utopie ins Gesicht geblickt hat, bekommt eine Sphinx auf den Hals. Und das „klärende Licht“ bleibt ein Zeichen, das sich dem Verstande nicht beugt.
Sphinx auch an manchen Tagen, die waren, Tagen
durchschlagenden, klärenden Lichts unerwartet,
wie in den Oktobern des Lebens (die Sammlung).
Wie alt manche Formulierungen sind. Und Licht.
Kolbe folgt weiter seinen ästhetischen Überzeugungen, bekennt sich zur allzeit gefährdeten Aufklärung, bleibt aber ein origineller Melancholiker, auch mit affektiver Färbung. Der Anblick des Mannes mit Axt im Wald:
Ich wünschte, sein Tun könnte meines segnen.
Die direkten Dinge zeugen für eine Lebensnähe, von der aber nicht gesagt werden kann, ob sie erlöst.
Die Gegenwart genügt nie, nicht einmal in den Ausnahmefällen des Reisens, an den Orten zur Gewinnung von Zeit. Im Zyklus „Transit“ streift er „Kafka in Auckland“ am Ampel-Übergang. Sofort ist sie da, die „Sehnsucht nach dir, Mitte Europas“. Nicht zu verwechseln hier die Lebhaftigkeit der Bilder mit ihrer Vertrautheit. Auch mit Venus und Aphrodite weitere Verse, die der Abstraktion nahe bleiben, ohne sich mit ihr zu begnügen. Doch mildert ein Sternbild, eine Andromeda, die Nähe zur Hybris.
Hoch auf den Olymp steigt das Schlangenhaupt,
wir leben von Stund an als Menschen.
Antike Projektionen mit „Berenike“, „Pandora“ oder „Hekate“ sollen sich in der Zange der Gegenwart bewähren. Effekt-Dramaturgie setzt diese Wirkung frei, selbst „Pandora“ nicht ausgenommen.
Sie strich mit dem Finger
– oh ihres so delikaten Fingers –
den Innenrand ihrer Büchse.
Kein Gedicht ohne Einfall. Im Gedicht muss etwas stattfinden oder wenigstens eine Situation ausgelebt werden. Und sei es, „Hekate“, die Göttin der Magie, sitzt als Hund, „genährt wie das Land“, neben Christoph Meckel. Kolbe ist behutsam mit Widmungs-Referenzen für Stimmen, denen er vertraut. Die Signatur für die Vernunftgüte des Johann P. Tammen ruft aber einen ganz eigenen Kontext auf.
Du wohl verstehst doppelt und mehr die Bedeutung
des Anfangs…
Gonghaft schallende Verse als nahes Zeitgedächtnis dann beim Wiederlesen von Victor Klemperers L.T.I. „Es endlich verstanden, Nazi, / die reinste Romantik, Nazi.“ Denn:
Hagen von Tronje blickt nüchtern auf Siegfried, der seiner Gattin
das Staatsgeheimnis beichtete, der Trottel. Rauf auf die Liste.
… Nazi, die Jagd nach dem Glück.
Vom Allgemeinbegriff zum Detail auch im formoffenen Zyklus „Handarbeit“. Die Einlassungen des Verstandes gegenüber den einfachsten Dingen laufen hier auf ein unbestimmtes Ende zu. In aller Unschuld zeigt sich weiter nur „Eden, gähnender Koloss“. Der Berliner wieder in Hamburg. „Hält jener / erneut an das Wasser sich, seine Spur, denn eins muss er bleiben, / festhaltend am größten, am Rätsel der fremdesten Nähe, Liebe.“ Namenloses Erstaunen, genuines Abschweifen. Die Liebe bleibt gegenwärtig, von da an auch Einzelheiten. Oder Dringlichkeiten.
Ich harre im Verschlungenen,
wo laut wird leise zu lesen.
Uwe Kolbe ist sich seines Weges sicher, er macht kein Aufhebens davon. Für ihn gilt Singularität, alles ist gesetzt gegen die Zeitfalle des Modischen. Nur selten blitzt eine nervöse Überdeutlichkeit auf. Dann aber auch so, dass man sie mit dem großen Zeh in den Ostsee-Sand schreiben möchte.
Klaus-Martin Bresgott im Gespräch mit Uwe Kolbe – Psalmist des Alltags
Buchpremiere: Uwe Kolbe Gegenreden. Hans Jürgen Balmes spricht mit Uwe Kolbe in der literaturwerkstatt berlin am 2.11.2015
– Ein Blick auf Leben und Gedichte von Uwe Kolbe. –
Selbstverständlich hatte man ihr Kommen in Plovdiv angekündigt […] Sie waren im Flugzeug die paar Blatt durchgegangen. Wirklich interessant war nur das Ergebnis einer Befragung, die der Chef noch vorgestern […] mit einem Kollegen durchgeführt hatte […] Die Befragung war in Bremerhaven-Weddewarden durchgeführt worden.
So, ortskundig, tatortpfiffig, weltklug und recherchesicher, legt Uwe Kolbe in einer Wunderhorn-Prosa, die seinerzeit das Künstlerhaus Edenkoben initiiert hat, die Topoi, Lineaturen, Schauplätze und Wahngründe für eine Spurensuche fern in den Rhodopen fest, wo man mehr weiß (aber so schnell noch nicht preisgibt) über den geheimnisvollen Toten von Belintasch (später noch wesentlich verzweigter angelegt im Kriminalroman Trakische Spiele, 2005). Im Kolophon zum darin höchst opulent ausgebreiteten bulgarischen Abenteuer des Erzählers Kolbe dankt dieser ausdrücklich dem Gedichtfreund und Kollegen Hans Thill dafür, „dass er rechtzeitig Orpheus erwähnt“ habe. Na klar, Plovdiv, die Rhodopen, Orpheus, die Lyra: Der Dichter, quasi arbeits- und widerstandsfähig geworden durch das Geschenk des Apollon, ist fortan fähig, den betörendsten Gesang ertönen zu lassen, wehrhaft gegenüber dem tobenden Meer wie der Vielzahl der Feinde, und durch den Zauber der Lyra befähigt, selbst Hades gefügig zu machen, ihm seine Geliebte zurückzugeben.
Dem der banalen Alltagsnot, sich sein täglich Wasser und Brot auf redliche Weise verdienen zu müssen und den Gesetzen des (Literatur-)Betriebs folgenden Erzähler Kolbe, ebenso märchen- wie mythenkundig, als Langstreckensänger aber eher ein Nachzügler, ist natürlich der Klang der Lieder, der Widerhall des Gedichts, das sich vollgesogen hat mit all den Welthaltigkeiten, die seine fünf Sinne bisher zu erfassen imstande waren, viel näher als das (nicht selten monotone) Rauschen einer auf den raffiniertesten Plot zusteuernden Kriminalerzählung oder (siehe Kolbes autobiographischen Roman Die Lüge, 2014) vergleichbaren Prosaaufschwüngen, zu denen ein geborener Lyriker wohl immer erst noch mit einem aufwendigen Spezialtraining für Lunge, Herz und Nieren antreten muss.
Will sagen: Uwe Kolbe ist längst geworden, was ihm früh – quasi als Vorschuss – von seinem „Entdecker und Förderer“, Franz Fühmann, als Lob und Bürde mit auf den Weg gegeben wurde, nämlich einer, „von dem ich hoffe, dass er durchhält: Ecce poeta!“
Nahezu ein Dutzend buchschön gebündelter Gedichtsammlungen, ausnahmslos in bedeutenden Verlagshäusern, erschienen nach dem Debütband – und nun schon seit mehr als drei Jahrzehnten sind Dichter und Werk unter professionell kritischer Beobachtung; Verläufe, Entwicklungen, Tief- und Zenitpunkte auch, die längst schon unumstößlich zweierlei beweisen: Können und Zuständigkeit.
Diese so gewachsene und klug kultivierte Gedichtlandschaft durchschreitend, erlebt man als Leser gewissermaßen das Wahrwerden eines großen, wild wuchernden Lebensreiseromans, reich an Erfahrungsechos, tastend und wahrheitsversessen aus Worten gefügt, die standhalten als Bausteine für eine aufwendige, gewissenhaft abgestattete Erinnerungsarbeit, als sinnstiftende Dichtung. – Der Dichter Kolbe, das will ich so unterstreichen, ist eine Instanz.
Auf einem Foto von Isolde Ohlbaum wird mir die einzige Möglichkeit deutlich, auf welche Weise es gelingen kann, ein gutes Gespräch auf immer im Gedächtnis zu behalten: Es muss von einem Lachen grundiert sein. Dieses Foto, das mich so etwas glauben lässt, zeigt zwei Männer, beide angesehene Dichtersleute, in Lucca/Italien im von der Sonne beschienenen Gras hockend. Der Ältere redet und lacht (Ich sage einmal: mit heiterer Zunge!). Der Jüngere hört zu, über die Schulter zurückblickend, mit einem Weinglas in der Rechten – und mit der linken Hand, so scheint es mir, sein Aufmerksamkeitslachen dirigierend. Die Bildzeile dazu lautet nüchtern: Uwe Kolbe, 1989 mit Zbigniew Herbert in Lucca. Auf den Nachgenannten bezogen mengt sich heute Trauer ins Erinnern, können wir ihn doch nicht mehr real auf einer Wiese sitzend lachen sehn! Der Erstgenannte hingegen lebt glücklicherweise, hockt in seiner Hamburger Wohnung oder irgendwo in einem Zug, einem Auto, einem Flugzeug, am Meer oder sonst wo – und schreibt. Und wir können das lesen – und inspiriert auf sein Handwerk schauen. Und selbst wenn er – für einen Moment (und solche Momente gibt es natürlich zuhauf) – nicht lachen sollte, werde ich (wie ich’s zum Glück oft und oft erlebt habe) sein ins Immer-noch-Staunen-Können gebettetes Lachen hören und erleichtert weiterlesen, nun in seinem Band Gegenreden, über den noch zu reden sein wird.
Der Hineingeborene schickte sozusagen sein Lachen voraus, um die Orte zu besichtigen, zu denen hin ihm das Dorthingelangen allzu lange verwehrt war. Das sich Abarbeiten, ja, Abrackern am Herkommen lässt noch lange danach kein Ankommen zu; Daheim zu sein, das frisst sich ins Gedicht Uwe Kolbes, uns jedes Lachen verwehrend:
Aus Landschaften kommen und schöntun,
das taugt für die nächste Inkarnation.
Das deutsche Idiom ist Klinge am Hals,
symmetrische Kotze, röchelnder Schlund.
Darüber dies Pumpen und Saugen,
davor das Schmatzen, das Kondensat,
das spülichte Fähnchen, Dunst, der röhrt
und reihert, brüllt und sich überschlägt,
Salto bestiale im Turnvaterland.
Ich bins satt, Landsmann zu sein.
(„Daheim II“ / Nicht wirklich platonisch, 1994).
„Kolbe nimmt es genau mit topographischen und poetologischen Verortungen“, schrieb Thomas Kraft im Januar 1999 in einer Freitag-Rezension zu Uwe Kolbes Essayband Renegatentermine. 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten (Suhrkamp, 1998):
Die Eindrücke während einer Lesereise, die ihn 1985 ins Tessin und an den Luganer See führten („Ihr Schweine! Ihr wolltet, dass ich dies hier nie in meinem Leben sehe!“), bleiben vermutlich ebenso unauslöslich wie die Kindheit am „verwunschenen“ Ort Prenzlauer Berg, wie Erfahrungen im ,Daimlerland‘ und im ungeliebten Land der „poussierlichen Vergessenswerfer“ […] Der „müde Städtesammler“ Kolbe reiste um die halbe Welt, seine Kindheit konnte er trotzdem nicht reparieren und nachholen.
Aber Kolbe hat nie als Nostalgiker auf solcherart Hinterlassenschaft und auf Verluste reagiert: „ich weiß, dass wir uns dem eigenen, dem deutschen Gesicht auch als Fratze zu stellen haben.“ – Der DDR-Staat erschien ihm als ein „verfaulter, immer wieder ausbetonierter Baumstamm“. Schon 1986, anlässlich der Trauerfeier am Grab von Franz Fühmann, machte Kolbe kompromisslos klar (nachzulesen im Band Renegatentermine), dass es (für ihn) „nur noch die Möglichkeit gibt, nach diesem Scheitern zu beginnen, dieses Scheitern in seiner Tragweite und Tragik anzunehmen und darauf zu bauen.“
Auch Vineta, Kolbes zweiter (und für die Festigkeit seiner Poesie vielleicht sogar der eigentliche) Herkunfts- respektive Heimatort, musste schließlich – wie die DDR – untergehn, als Strafe für die letztendlich nicht mehr tolerierbare Amoralität seiner Bewohner. – Uwe Kolbe, die Erfahrungsposition seiner Generation auslotend, 2009:
Was zwischen dieser letzten DDR-Generation und denen davor stattfand, wollen wir nennen: Das große Schweigen […] Was kam auf die Kinder? Es hieß: Anpassung ist gut. Durchwursteln geht schon, nicht aufzufallen, Grübeln statt Denken, Schweigen […] Schweigen um die versoffene und abgesoffene Hoffnung, um die erwürgte Liebe, um unser utopisches Vineta. („Noch einmal 1989“ / Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe, 2011).
Und im Gedicht „Vineta“ heißt es am Schluss:
Wir sind versunken.
Ein jegliches Alter hat seine Zeit, da es sinkt und da es noch schneller sinkt.
Die Stadt heißt Vineta
[…]
die Glocken läuten zur gewohnten Zeit, doch in dem Schweigen
kommt das Geläut nicht weit.
(„Vineta“, 1998).
Und schließlich einmal angekommen im neuen, größeren Vaterland „fühlt er sich bedroht vom Lindwurm des Vergessens und einer heutigen ,ziemlich brutalen‘ Freiheit.“. – Schon 1990, im Suhrkamp-Band Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch konnten wir lesen:
Deutschland,
alter Apfelbaum
niedergeschnittenen Stammes,
einer deiner dürren Zweige
trägt den letzten, roten Apfel,
den ich pflück und esse,
meinen Hunger stille,
ob mir auch der Magen brennt.
(„Tübinger Spaziergang“).
1996, im Frühjahr in Dresden, hielt Uwe Kolbe vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung einen launigen Vortrag über den (vornehmlich seinen) Schriftstelleralltag („Hymne auf den verdammten Humus oder Was macht das Gedicht für’n Gesicht in der Stadt“. In: Renegatentermine). Darin bekannte er:
Privat benutze ich zur Unterscheidung von Arbeit und Arbeit gern den Ausdruck des Eigentlichen im Unterschied zum Gelegentlichen. Das Eigentliche wäre selbstverständlich so etwas wie das angedrohte Gedicht von der Endschleife der früheren Berliner Straßenbahnlinie 3, das Weltgedicht. Das Eigentliche wäre die Mythologie der Stadt, noch einmal erzählt gegen alle Vorbilder an. Das Eigentliche wäre das Wesentliche. Doch ist es immer schwerer zu verteidigen als das, worauf es ankommt, als das, was einen ausmacht und wofür man steht.
Noch einmal später, 2001, formuliert Kolbes Gesprächspartner Jürgen Krätzer, dessen Essay „Das Land, nicht auszusuchen“ zitierend, früher, in der DDR, habe er sich angewöhnt, „ganz flach zu atmen in der stehenden Zeit“, die Frage: „Können Sie heute tiefer durchatmen?“ – Und Kolbe antwortet:
Worauf lasse ich mich da ein, wenn ich darauf antworte – ich sag mal frech: ja. Was nicht heißt, dass ich mit geschlossenen Augen durch die Welt renne und nicht weiß, dass das eine oder andere Miasma aufsteigt. Aber ich habe fundamental eine andere Klarheit, auch als Autor. Das heißt, ich such mir sehr wohl aus, was ich einatme und was nicht […] Früher habe ich ganz andere Gedichte geschrieben, sehr viel aufgeregter, mehr im Staccato, mehr reagierend auf die Situation und die Umstände, die mir auf der Seele brannten. Jetzt kann ich länger warten, reagiere langsamer […] Vielleicht ist das Gedicht ein Moment der Aufmerksamkeit; mein aktueller Lieblingssatz lautet: Aufmerksamkeit ist das Gebet der Seele, ein Satz, der eine lange Zitiertradition hat.
„Das lyrische Repertoire von Kolbes Kunst des Gegenredens ist filigraner geworden“, glaubte Michael Opitz kürzlich in seiner Würdigung des neuen Gedichtbandes von Uwe Kolbe im DeutschlandRadio feststellen zu müssen. Der Band überrasche durch einen neuen, weicheren Ton und durch eine bemerkenswerte Gelassenheit, mit der der Autor dieser Gedichte nun plötzlich daherkomme. Dazu passe der Titel des Bandes eigentlich gar nicht: „Bräuchte es Widerspruch, Gegenrede, wenn wir in der besten aller möglichen Welten leben würden?“, so wedelt hier der Rhetoriker mit dem Fragezeichen der Eilfertigkeit. Aber kaum hatte man bei dieser Gelegenheit des Entscheidens über Lob oder Verriss das Buch mit der gebotenen Erregungslust und dem Quantum Neugierde vorne aufgeschlagen, stolperte man sozusagen über ein fachmännisch und mit poetischer Eleganz in die Hand genommenes Schnittwerkzeug. Gnadenlos überzeugend wird einem da nämlich wahres Handwerk und großes, weit durch die Zeiten schwingendes Gefühl vorgeführt:
GNADENLOS
aaaaaIn My Craft or Sullen Art.
aaaaaDylan Thomas
Oft bot sich mir die Liebe gnadenlos,
oft prallte ich darauf, trank bitteren Trunk,
oft nahm sich unerwartet Eisen an der Rosen
und schnitt sie auf den Strunk,
so dass sie wieder wuchsen mir vor Augen,
so dass auch wieder Lieder wurden, reifer, groß.
So war die eine Art des Handwerks, Schneiden
formt Gärten, sieht aus gnadenlos.
Das kann man so auch als ein glückliches (und nicht minder tückisches) Exempel zum Stichwort Radikalität lesen und begreifen. Fachmännisch, also auf Erfahrung bauend, setzt hier jemand sein Handwerkszeug an – und weiß, was er durch diese Art des Eingriffs Löbliches erreichen kann: Der Rosenstrauch, die schöne Pflanze, wird wenig später (so wie die Natur es in ihrem Haushalt vorgesehen hat) umso prächtiger erblühen. Liebesleid, auch das können wir hier füglich mitlesen, wahrgenommen als Einspruch gegen die Liebe, kann münden in Liebesglück. Auch das (ich wage das zu sagen:) Eine Frage des Handwerks – und des gnadenlosen Formens.
Und diesem Exempel zum Wahrhaben des Handwerks folgt im Band Gegenreden gleich nach dem ersten Umblättern der augenfällige Zyklus „Das Tagwerk“ mit sechs Einträgen: „Die Welt war Eis, und Eis lag auf der Welt“, so lenkt uns der Eintrag zum „6. Februar“ ins Weite, ins Freie – und „Im Anfang war Zeit“, so klingt das Erzählen aus im Eintrag zum „11. Februar“, an dem wir hören und lesen vom Schreiber, „des Schreibens mächtig wie machtlos in dem Gehäus.“
Und so, wie man über diese sechs zyklisch geordneten Wortberge hinweg ins Innere des Bandes vorzudringen versucht, so gelangt man gegen Ende des Bandes mit dem zehnteiligen Zyklus „Handarbeiten“ tief in die Gedichtwirklichkeit der Landschaften an der Elbmündung bei Otterndorf, wo man unterwegs sein kann, „wie in einem anderen Land, einem freieren“, wo die Apfelblüten Spalier bilden, der Fasan uns anschreit, und Menschen im Schlick waten, „die, scheint es, neugierig sind“. Dazwischen, im dicken Wortbauch dieser trefflichen Sammlung, erfahren wir etwas über das Erkenntnis-„Glück“ einer erneuten Lektüre von Victor Klemperers L.T.I., über eine unverhoffte Begegnung mit Kafka in Auckland, Heine in der Matratzengruft, über Flüsse, Bäche und Gräben – überhaupt vollführen Kolbes Gedichtereignisse immer mehr ein schier endloses Fließen, wunderbar mäandert es, und die Wort- ebenso wie die Ortvielheiten, all die phantastischen Licht- und Schattenplätze seiner lyrischen Welt(en)erkundungen sind für wache und anspruchsvolle Leser mit Hunger auf feste Gedichtnahrung zunehmend stimulierend.
Und schließlich, absolut zentral und im guten Sinne dominierend, sind hier viele unbeugsam radikale Liebesgedichte zu finden: Auch denen gegenüber muss man sich als Leser wappnen. Ohne die Bereitschaft, Radikales an- und aufzunehmen, erfüllt sich bei dieser Lektüre nur selten ein wünschbarer Erkenntnisgewinn. – „Die Flüsse sind’s, es ist die Sucht, / das ein und andre soll gewiegt / sein in der Woge“. Oder:
Wenn die Liebe groß ist, mach sie wieder klein.
Wenn sie sich ein Haus baut, reiß es wieder ein
[…]
Hat die Liebe Überschwang, hol sie auf den Boden
Auch der Alltag ist in Uwe Kolbes Wort- und Wunschwelt mühelos neu zu gewinnen:
Morgens die Stille so lassen,
Licht, noch auf uns ruhend.
Über den Tag einen Satz leben,
einen, den wir uns schreiben.
Abends die Hände auf Wegen gehen,
die sich verzweigen.
Johann P. Tammen, die horen: Vermessungen. Buden. Lichter. Volk., zusammengestellt von Thorsten Ahrend, Kai Bremer, Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer, Heft 260, 4. Quartal 2015
Uwe Kolbe und Max Czollek sprechen über Gedichte, die sie in einer bestimmten Zeit besonders geprägt haben.
Die Zeitschrift Belletristik fragt Uwe Kolbe
Uwe Kolbe liest auf dem XX. International Poetry Festival von Medellín 2010.
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