HINEINGEBOREN
Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter
Sonnenbaum am Horizont.
Der Wind ist mein
und mein die Vögel.
Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.
Was soll ich noch sagen? Ecce poeta – siehe, da ist ein Dichter! Es war das Willkommen, das mir Georg Maurer entboten hatte, als mein erster Gedichtband erschien, und ich, der ich seit mehr als zwanzig Jahren kein Gedicht mehr schreibe, gebe es weiter an einen, von dem ich hoffe, daß er durchhält: Ecce poeta! Der da standfester sein möge, heißt Uwe Kolbe, ist 1957 in Berlin geboren, haust, wie so manche seines Zeichens, im vierten Stock eines Hinterhofs in einem verquollenen Verschlag, den man schwerlich als Wohnraum ansprechen kann (er hat aus ihm ein Gedicht gemacht, aus allem etwas machen); jobbt dies und das; liest George, Pessoa und Rilke; schaut aus wie Hans im Glück, da der den Goldklumpen schleppt. Zweiundzwanzig Jahre; Asphalt und Pappeln, und hinterm Leuchten der Kindheit jener Alltag, den er skizziert hat, als er achtzehn war. – Und die Frage: OB WIR ALLE AUS LEHM SIND – sie wäre ein Nenner für diese Gedichte, wären die nur Philosophie. – Abitur; Armee; Ehe und Scheidung; ein Sohn; die und der und immer Gedichte, einige hat Sinn und Form vorgestellt, und ich bin ein bißchen stolz darauf, den damals noch vollkommen Unbekannten der Redaktion empfohlen zu haben. Nun also ist sein Erstling da, manche wird er freuen und manche gar nicht, manche werden begeistert und manche empört sein; wie s eben so geht, wenn ein Dichter antritt, der einer ist. Und weil dies Büchlein in einer Reihe stehe, die Nachwörter nun einmal habe, will der Verlag auch eines von mir, aus Tradition, und schaden könnt’s nie. Ich mag Nachwörter nicht und soll dauernd welche schreiben. – Nun bin ich zwar nicht der landläufigen Meinung, daß „wahre Poesie“ keines Kommentars bedürfe; das ist eine Ansicht aus der Gartenlaubenästhetik; und ihr steht die Tatsache entgegen, daß wesentliche Bezirke der Lyrik, und nicht nur der Moderne, ohne Kommentar unzugänglich oder nur an den Rändern betretbar sind. Verweise auf Eichendorff oder Heine oder manche Gedichte Goethes beweisen da nur, daß Traumstunden der Dichtung nicht jeder Epoche gegönnt sind; ein Volkslied entsteht nicht durch guten Vorsatz, und der Umstand, daß tonnenweis sogenannte Poesie herumliegt, die in der Tat keines Kommentars bedarf, drückt nur aus, daß diese Hervorbringungen sich unterhalb jener Grenze befinden, da ein Kommentar erst ansetzen kann, nämlich der Grenze von Literatur mit dem Kriterium höchster Präzision bei gleichzeitiger Mehrauslegbarkeit.
Dies hingegen sind schon Gedichte, die einen Kommentar provozieren, nicht nur, weil ihre Bilder oft schwierig und dunkel, sondern notwendig schwierig und dunkel sind. Man spürt, da ringt einer, etwas zu sagen, was eigentlich nicht sagbar ist, und da möchte man schon seine Erfahrung beim Lesen dieses Schwierigen mitteilen, doch auch scheinbar glasklare Zeilen wie: ZWISCHEN LEBEN UND LITERATUR (auch so ein Nenner dieser Gedichte; und ich warne: diese Zeile ist tückisch!) lohnte eindringliches Durchdenken. Diese Gedichte sind gute Provokateure: Sie fordern dem, den sie herausfordern, das Äußerste ab und halten stand. Hier aber will ich es dennoch nicht; zuerst soll sich die Generation äußern, deren Erfahrungswelt dieser Band entstammt. Ich wünsche sehr, sie könnte es tun. An ihr vor allem liegt es zu sagen, was diese Gedichte ihr bedeuten; wir, die Väter und Großväter, sollten da zurückhaltend sein. Außerdem braucht ein Band Zeit, sich zu entfalten; zu frühe Analysen können auch hemmen. – So möchte ich diesen guten Anlaß als Gelegenheit nehmen, etwas zu sagen, das ich schon lange sagen will.
Wir, eben die Väter und Großväter, die wir Faschismus und Sozialismus, Ausbruch und Ende eines Weltkriegs, Gefangenschaft und Trümmeralltag erfahren haben, werden von den nächsten Generationen manchmal um diese Erfahrung beneidet: wir hätten doch große Stoffe erlebt, viel Welt gesehen, Pulver gerochen, mit dem Tod gepokert, manche Hölle durchlitten und dafür auch von dem Glück gekostet, das nur aus Zeiten härtester Not bricht. – Ich kann dies Beneiden gut verstehen und halte es für ein tiefernstes Problem, daß heutzutage jungen Leuten wichtige Erfahrung aller Jugend versagt bleibt, große Erfahrung gerade von Friedensepochen, nicht zuletzt die der Alternative oder jene Wilhelm-Meister-Erfahrung des Zu-sich-selbst-Kommens in der Schule des Irrwegs, den man als Irrweg nur dann erkennt, wenn man ihn mit existentiellen Konsequenzen bis zu einem harten Ende durchleidet, doch ich muß auch zu bedenken geben, daß es wahrscheinlich jeder Generation ebenso schwerfällt, ihr Wesentliches in der Doppelfunktion von Eignem und Wertung ihrer Zeit zu entdecken und eigen schöpferisch auszusagen, als es ihr leichtfällt, epigonal zu sein, das vor ihr Vollbrachte als Muster zu nehmen und jener Vergangenheit nachzutrauern, da etwas gelang, was sich heute versagt. Wer aber solcherart zurückschaut, vergißt, daß die beneidete Generation einst ebenso auf die vor ihr geblickt hat und mit ähnlichen Schwierigkeiten rang.
Ich will ein Beispiel meines Erlebens berichten. Ich entsinne mich, als sei es gestern geschehen, daß ich im verhaßten Reichsarbeitsdienst, in schwer ertragbarem Drill und Trott physisch bedrängt und psychisch gepeinigt, von Dummheit verhöhnt, von Willkür gedemütigt, von Dünkel getrietzt und von Stupidheit geschurigelt, nach einem erschöpfend sinnlosen Tagwerk am Abend noch todmüde Nietzsche las, den Zarathustra natürlich, sein Schmähen der Staatsmacht: „Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ,Ich, der Staat, bin das Volk.‘“ – Daß ich also dies las und daß ich erschauerte und daß ich dies kalte Ungeheuer als Inbegriff jenes Anonymen nahm, das mich durch ein amtliches Stück Papier, „Einberufungsbefehl“ genannt, den stupiden Quälern überwiesen, und daß ich diesen Friedrich Nietzsche beneidete, zu so erbärmlicher Zeit gelebt zu haben, daß ein Rebellieren Lust der Pflicht gewesen, dieweil heut, im nationalsozialistischen Staat, unterm Walten des gottgesandten Führers, der Zeitgeist in solcher Glorie strahle, daß die – letztenendes ja doch auch notwendigen – Plagen, unter denen ich stöhnte, zu einem lachhaften Nichts verblaßten: Ich hätte nun einmal, so dachte ich, das Pech des welthistorischen Glücks, in jener Epoche Deutschlands zu leben, da jede Kritik sich von selbst verbot; zu Nietzsches Ära, des war ich gewiß, hätte ich auch so etwas wie einen Zarathustra gedichtet, vielleicht mit noch schneidenderer Verachtung; so aber blieb es mir eben versagt; ein edler Verzicht; die Trillerpfeife, und wir stürzten von den Pritschen in neue Schikanen. – Könnte man Bewußtseinszustände photographieren, ich gäbe für einen Schnappschuß solcher Mentalität viel. – Nun mag man sich darüber streiten, ob diese groteske Dressurapotheose ein „Lebensgefühl“ genannt werden darf; fest steht, daß aus solcher Unsäglichkeit Dichtung niemals wachsen konnte. Was damals entstand und diesen Gemütszustand ausdrückt, steht längst im Museum unfreiwilliger Komik oder ist einfach nur peinlich dumm.
Der große Stoff, das große Erleben, das große Thema allein macht noch gar nichts, und von der Welt offenbart sich wenig, wenn der Rand eines Stahlhelms sie auch geistig begrenzt, mag man da am Nord- oder Südmeer stehen und sich auf drei Kontinenten umgetan haben. – Erfahrung genug, das ist schon richtig, und ich schrieb auch täglich, nach jedem Tagwerk, auch dem einer Hetzjagd vor dem Tod, und doch, und trotz aktuellster Attribute wie „Bombengeschwader“, „Stalinorgel“, „Partisanen“ blieben die Gebilde, die damals entstanden (und größtenteils verlorengingen) epigonal bis zur Parodie: Sonette à la Weinheber; Elegien à la Rilke; Stabreime nach der Edda und das Bildungsgut des Gustav Schwab. – Da war nicht Eigenes noch Dichtung; ich traure dem Verlornen nicht nach. – Und sosehr ich die Generation Uwes verstehe, wenn sie die meine ob Erfahrungsquantitäten beneidet, sosehr beneide ich auch die seine: um eine Qualität, die mir versagt bleibt, um ihre Homogenität. – Durch unser Leben geht ein Riß (durch das meine auch geographisch: das Land, darin ich nach meiner Wahl lebe, ist von Geburt und Kindheit her nicht meine Heimat und nicht meine Landschaft; in einem gewissen Maß bleibe ich immer darin fremd). Nun gut, dieser Riß ist das Unsere; jede Generation hat ihr Kreuz zu bewältigen, das mag nun einigermaßen ehrenhaft geschehen, bloß: gestaltet haben wir’s noch kaum. Was da ist, sind Ansätze und Anfänge. Gelingt es uns jetzt nicht mehr zu leisten, was nur wir zu leisten vermögen, fällt wesentliche Erfahrung meiner Generation ins Vergessen, denn Chroniken, gesetzt selbst sie existierten, bewahren dies Wesentliche nicht.
Ich möchte als Schlußwort dieses Buches den Jungen raten, nicht so viel auf uns zu schauen; wir sind kein besonders gutes Vorbild, und ein Modell können wir schon gar nicht sein. Ihr sollt auch nicht so gierig nach unserm Urteil verlangen; ihr überfordert uns mehr, als ihr glaubt. Nicht alles, was euch wichtig ist, können auch wir als wichtig erkennen, und wir zucken vielleicht zu manchem die Schultern, das diese Abwertung nicht verdient. Gewiß, jene anfangs erwähnte untere Grenze ist ziemlich leicht auszumachen; grauer Kitsch ist der Bruder des rosaroten; das Nur-Private vermag nicht zu bewegen, und Epigonales bestimmt seinen Platz von selbst. Dann gibt es wieder manches, sehr selten Gewordnes, und zu jeder Zeit ja auch Seltenes, zu dem ich sofort Willkommen! sage wie zu den Gedichten dieses Bands. Allein da ist eine Mittelzone der Ansätze, der Erprobungen, des Lösens vom Muster, des Übergangs, des Entdeckens des Themas, der Schritte zum Eignen und dabei auch jenes notwendigen Umwegs, den wir nun einmal nicht sehen können, und hier zu urteilen fällt uns schwer.
Überfordert und überschätzt uns nicht.
Das habe ich schon längst einmal sagen gewollt, und es hat mit diesem Band so viel zu tun, daß ich es als sein Nachwort sage. Dieser Zwanzigjährige gibt ein Beispiel, daß einer, trotz beengter Erfahrung, sein Lebensgefühl so ausdrücken kann, daß sich Wesenszüge seiner Zeit drin zeigen und Gedichte also ein Bleibendes stiften. Viele, so viele, so erschreckend viele junge Leute träumen auf epigonale Weise von einem Schreiben des Neuen und Ihren; der da schreibt’s. – Träumt der Vogel vom Fliegen? Er fliegt; und wenn er träumt, träumt er als Flieger. – Vielleicht träumt er vom Staub. – Nein, das Bild ist schlecht, ihm fehlt das Dennoch, die Mühe, die Verzweiflung, das Abtrotzen des Flugs, kurz: eben ein wesentliches Element dieses Buches. Uwe hat’s besser gesagt:
KANNST NICHTS VERSTEHEN, / WEIL DU ’N VOGEL BIST
− nein, ich schreib doch keinen Kommentar. Aber ich werd’s bald tun: Aus einem Alltag, der Epigonales züchtet und hätschelt, ragen diese Gedichte so heftig, daß man sich ihnen stellen soll. Bis dahin noch einmal: Ecce poeta! und willkommen soll er uns sein! Schwer genug wird er’s noch haben; er macht sich’s ja selbst schwer, denn leichter geht’s nicht. Er schaut ja auch nur aus wie der Hans im Glück, und wir wollen ihm heute wünschen, daß er seinen Goldklumpen nie wegtauscht.
Franz Fühmann, Nachwort
Dem damals 58-jährigen Franz Fühmann gebührt Respekt, daß er in dem Manuskript etwas ausmachte, das mit einem reifen Begriff von Poesie zu beschreiben war. Daß er sich zuvor bereits für die Gedichte eines jungen Mannes interessierte, als dieser siebzehn, achtzehn Jahre alt war, zeugt von einem Verantwortungsgefühl gegenüber der Lage der Literatur in jenem Land, das neben ihm wenige hatten. Es war ein Land, in dem Literatur aus Not viele Funktionen erfüllte, die sie in modernisierten, offenen Gesellschaften an andere Medien und Kunstformen abgibt.
Fühmann entdeckte in den Versuchen etwas, das ich als Leser nach Ende des 20. Jahrhunderts fast verfehle. Den Auslöser dieses Schreibens (das mit 14 Jahren begann) kenne ich allerdings und erkenne ihn im Erstling wieder: die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts lässt deutlich grüßen. Ich schaue zu formal auf die Gedichte. Dem jungen Mann empfähle ich wohl halbherzig einen Kurs in Creative Writing. Obwohl ich mich an sein mühseliges, mäßig bewusstes und radikal eklektisches Suchen und Finden erinnere und an die Nächte, in denen dies seinen Raum hatte und sich seinen Raum nahm. Obwohl ich weiß, daß er mit seiner Herkunft und in seiner Lage keine Wahl hatte.
Einige der Gedichte lese ich gelegentlich heute wieder vor, u.a. in Schulen (Male; Wir leben mit Rissen; die schuldigen…). Dabei gebrauche oder missbrauche ich sie wie ein Lehrer als Belege, Fossile eines Ausschnitts aus dem sozialistischen Jahrhundert, der darin durchaus eingefangen ist. Obwohl wir in der Mehrzahl der Texte wenig von der Außenwelt erfahren, die das Ich so erstarren und verzweifeln lässt. Ohnmächtiges Aufbegehren in stehender Zeit, „das Lied in der Zungenwurzel“ – so stellt es sich dar. Angst, vielfältige Angst spiegelt sich, Zweifel statt Wissen, Offenheit im besten Fall.
Andererseits will ich gern das Geständnis machen: Andere Themen als die der ersten Gedichte werden sich bei mir nicht finden. Alles ist darin schon angeschlagen, nur daß Schlegel und Glocke noch nicht zueinander passen, selten zu dem Klang finden, der mich später zu interessieren begann. Unglaubliche Beschwörungen dessen, was wäre, wenn – kaum etwas eingelöst. Eine hoffentlich nicht zu wohlfeile Metapher hilft mir zu verstehen, was war: Der Kerl schrieb mit einem grauen Brocken Betons von der Mauer statt mit einem Stift. Das kratzte eben. Wahrscheinlich war es nur der Brocken Vorkriegsmörtel von einem Berliner Ruinengrundstück, allerdings ein paar Hundert Meter von der Mauer weg im Gras gefunden, in den Stadtbezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain der sechziger und frühen siebziger Jahre. Was sich nämlich nicht geändert hat:
Papier, Papier ist mein Metier, ansonsten in der Brunnenstraße Erbsen.
Das poetische Grundmaterial dieser Gedichte, die darin eingeschriebene Landschaft ist ein kindlich und unreflektiert aufgesogenes Nachkriegsberlin. Dieser Fundus ist für mich noch lange nicht ausgeschrieben. Vielleicht muß er das auch nicht mehr. Mit dem, was jetzt in der Stadt gesagt und geschrieben wird, haben diese Gedichte nichts zu tun.
Uwe Kolbe, in: Lose Blätter, Heft 31, Winter 2005
Erst Jahre später, genaugenommen erst, während ich diese Zeilen zu schreiben aufgefordert bin, lege ich mir Rechenschaft darüber ab, wie ungewöhnlich die Veröffentlichung meines ersten selbständigen Gedichtbandes war. Es fing damit an, daß sie weniger auf meine als auf Franz Fühmanns Initiative hin zustande kam. Er wollte endlich das Buch eines nicht ganz stromlinienförmigen Vertreters der jüngsten Autorengeneration gedruckt sehen, für welche er deutlich mehr Engagement zeigte als manch anderer etablierter DDR-Schriftsteller, der die Misere ebenso kannte (markante Ausnahmen: Heiner Müller; Christa und Gerhard Wolf). Mit Misere meine ich politisch intentionales Unverständnis und daraus folgende Ablehnung all dessen, was den zählebigen Richtlinien (!) der Doktrin des Sozialistischen Realismus zuwiderlief, insbesondere, wenn es formal über eine Ästhetik hinausging, die sich an der Vormoderne orientierte. Die staatliche Förderung griff punktuell und absichtsvoll nur, wo sie eine Strategie mit ausgewählten Talenten verfolgte (Sonderstudium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“; zuletzt sogar Bewilligung von Reisen in das sogenannte Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet). Vor allem aber war sie Einflußnahme, Kontrolle und Lohn für Anpassung (Poetenseminare der FDJ; Förderung durch den Schriftstellerverband der DDR; Stipendienwesen).
Fühmann jedenfalls hatte bereits 1976 Gedichte von Frank-Wolf Matthies und mir in die Akademie-Zeitschrift Sinn und Form gehievt und uns mit einer sehr schönen Einführung geehrt. Ich war zu der Zeit gerade neunzehn Jahre alt und eben zum Dienst mit der Waffe in der NVA genötigt worden. Als Hineingeboren erschien, war ich dreiundzwanzig und damit für die Verhältnisse beiderseits der Mauer ziemlich jung. Fühmann hatte Geburtshilfe geleistet, indem er etwa zwei Jahre zuvor angefangen hatte, mich regelmäßig in sokratischer Hebammen-Manier zu fragen: „Na, Uwe, haben wir nun genug für ein Bändchen?!“ Als ca. einhundert Seiten Gedichte beieinander waren, gab er mir die Adresse eines Lektors, der eben von ,seinem‘, dem Hinstorff Verlag Rostock, zu Aufbau nach Berlin gewechselt sei. Von heute aus würde ich dem Mann unter dem Engel in Märkisch-Buchholz nachrufen: Von langer Hand eingefädelt, lieber Franz!
Günther Drommer – so der Name des Lektors, vor dem ich nach Lektüre der Stasi-Akten doppelt den Hut ziehe – las sofort, stand zu den Gedichten und besprach die zwei Ansinnen der Zensur mit mir (eine Widmung für Sarah Kirsch, die bereits im Westen lebte, blieb dann drin; zwei Zeilen aus einem Gedicht fielen heraus). Pardon: Selbstverständlich waren es nicht Ansinnen der Zensur, sondern der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel bzw. dort der Abt. I bzw. Änderungsvorschläge von sonstwem. Es gab – ich weiß! – keine Zensurbehörde in der DDR. Leider nicht! Denn dann hätte es ja eine Instanz gegeben, die zuständig und bei der etwas einklagbar gewesen wäre. So etwas gab es in der „organisierten Verantwortungslosigkeit“ (Biermann) nicht.
Fühmann wurde gebeten, ein Nachwort zu schreiben. Er tat es, und darauf war und bin ich stolz. Der Gruß „Ecce po eta“ allerdings hallt mir noch heute, fünfundzwanzig Jahre danach, gelegentlich bei Lesungen und aus Kritiken entgegen. Und daß er mir im selben Atemzug den Goldklumpen des immerwährenden Gedichte-Schreibens aufgebürdet hat, verdenke ich ihm nicht. Auf die Art habe ich einen, den ich still für mich verfluchen kann, wenn weit jenseits der Hälfte des Lebens es noch immer fortgeht mit diesem merkwürdigen Tun.
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Dem damals 58jährigen Franz Fühmann gebührt Respekt, daß er in dem Manuskript etwas ausmachte, das mit einem reifen Begriff von Poesie zu beschreiben war. Daß er sich zuvor bereits für die Gedichte eines jungen Mannes interessierte, als dieser siebzehn, achtzehn Jahre alt war, zeugt von einem Verantwortungsgefühl gegenüber der Lage der Literatur in jenem Land, das neben ihm wenige hatten. Es war ein Land, in dem Literatur aus Not viele Funktionen erfüllte, die sie in modernisierten, offenen Gesellschaften an andere Medien und Kunstformen abgibt.
Fühmann entdeckte in den Versuchen etwas, das ich als Leser nach Ende des 20. Jahrhunderts fast verfehle. Den Auslöser dieses Schreibens (das mit 14 Jahren begann) kenne ich allerdings und erkenne ihn im Erstling wieder: die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts läßt deutlich grüßen. Ich schaue zu formal auf die Gedichte. Dem jungen Mann empfähle ich wohl halbherzig einen Kurs in Creative Writing. Obwohl ich mich an sein mühseliges, mäßig bewußtes und radikal eklektisches Suchen und Finden erinnere und an die Nächte, in denen dies seinen Raum hatte und sich seinen Raum nahm. Obwohl ich weiß, daß er mit seiner Herkunft und in seiner Lage keine Wahl hatte.
Einige der Gedichte lese ich gelegentlich heute wieder vor, u.a. in Schulen („Male“; „Wir leben mit Rissen“; „die schuldigen…“). Dabei gebrauche oder mißbrauche ich sie wie ein Lehrer als Belege, Fossilien eines Ausschnitts aus dem sozialistischen Jahrhundert, der darin durchaus eingefangen ist. Obwohl wir in der Mehrzahl der Texte wenig von der Außenwelt erfahren, die das Ich so erstarren und verzweifeln läßt. Ohnmächtiges Aufbegehren in stehender Zeit, „das Lied in der Zungenwurzel“ – so stellt es sich dar. Angst, vielfältige Angst spiegelt sich, Zweifel statt Wissen, Offenheit im besten Fall.
Andererseits will ich gern das Geständnis machen: Andere Themen als die der ersten Gedichte werden sich bei mir nicht finden. Alles ist darin schon angeschlagen, nur daß Schlegel und Glocke noch nicht zueinanderpassen, selten zu dem Klang finden, der mich später zu interessieren begann. Unglaubliche Beschwörungen dessen, was wäre, wenn – kaum etwas eingelöst. Eine hoffentlich nicht zu wohlfeile Metapher hilft mir zu verstehen, was war: Der Kerl schrieb mit einem grauen Brocken Betons von der Mauer statt mit einem Stift. Das kratzte eben. Wahrscheinlich war es nur der Brocken Vorkriegsmörtel von einem Berliner Ruinengrundstück, allerdings ein paar hundert Meter von der Mauer weg im Gras gefunden, in den Stadtbezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain der sechziger und frühen siebziger Jahre. Was sich nämlich nicht geändert hat:
Papier, Papier ist mein Metier,
ansonsten in der Brunnenstraße Erbsen.
Das poetische Grundmaterial dieser Gedichte, die darin eingeschriebene Landschaft ist ein kindlich und unreflektiert aufgesogenes Nachkriegsberlin. Dieser Fundus ist für mich noch lange nicht ausgeschrieben. Vielleicht muß er das auch nicht mehr. Mit dem, was jetzt in der Stadt gesagt und geschrieben wird, haben diese Gedichte nichts zu tun.
Uwe Kolbe, aus: Renatus Deckert (Hrsg.): Das erste Buch, Suhrkamp Verlag, 2007
Daß einer mit dreiundzwanzig Jahren seinen ersten und gleich umfangreichen Gedichtband herausbringen kann, ist ungewöhnlich. Uwe Kolbes Band Hineingeboren (1980) fährt in die Scheuer der Öffentlichkeit, was der 1957 Geborene von 1975 bis 1979 lyrisch geerntet hat. Ein Namhafter, Franz Fühmann, hat ihm dabei kräftig geholfen; er stellte ihn in Sinn und Form vor und schreibt nun ein eindeutiges Nachwort. Es beginnt und endet mit der emphatischen Wortgeste „Ecce poeta“. Zwischendurch wünscht Fühmann, es könnten sich primär Uwes Altersgenossen äußern; der Väter- und Großvätergeneration empfiehlt er Zurückhaltung. Verständliche Wünsche eines überzeugten Entdeckers – aber wenn ein erster Gedichtband aus solcher Feder so begleitet wird, ist das kaum hilfreich. Der kritische Leser will und braucht keinerlei Vor-Urteil, noch die Stimme der redlichsten Autorität tut hier nicht gut. Und: Wer in die Öffentlichkeit tritt, stellt sich immer allen Mitlebenden, ob er will oder nicht. Und diese haben ein Recht, sich zu äußern.
Kolbes Verse sind zuallererst lyrischer Sturm und Drang von heute, schonungsloses, lustvoll hartes, auch wildes Aussprechen der eigenen Jugendbefindlichkeit, bisheriger Tabus vor allem, ein Bestehen darauf, daß alles, was je ein sensibler Zwanzigjähriger hierzulande denkt, fühlt, empfindet, auch poetisch artikuliert werden darf oder muß. Ausgangs-, ja Mittelpunkt der meisten Gedichte ist die Individualität, die Subjektivität des jugendlichen Dichters. Sie äußert sich nicht nur schonungs-, sondern auch hemmungslos, bekennt sich, bald sarkastisch, bald pathetisch, zu all ihren Leiden und Lüsten, Aufschwüngen, Resignationen und Verzweiflungen, zu all ihrem Wahn und ihrer vorgeblichen Verderbtheit. Stimmungen und Momentbilder dominieren. Ein Stück alter Kleinbürger- und Väterschreck ist mitten darin, nur ganz ins Heutig-Hiesige gewendet. Inwieweit solche Verse Verbindlichkeit oder gar Repräsentanz für unsere Zwanzigjährigen überhaupt besitzen, bleibt, meine ich, in Frage zu stellen. Manches mutet noch pubertär an, unangemessen große Gesten, Weltschmerz und extreme Selbstbespiegelung, Konzentration der Lust auf Bier, Wein und Frauenleiber, das Kokettieren mit der Hinterhofexistenz. Fünfzehn Gedichte beginnen mit „Ich“, zweimal begreift es sich im Bilde des Sisyphos (höher geht’s nimmer).
Das alles sagt Kolbe in vieltöniger, oft subtiler und gern provozierender Bildersprache, in der das Negative doch als negativ erkennbar bleibt. Ohne Zweifel: hier meldet sich eine entschiedene lyrische Begabung. Aber nicht wenige Gedichte kommen über wortreiches Reden noch kaum hinaus, verlieren sich im bloß Stimmungshaften und Ungefähren. Das führt zu dem typischen Mangel fast aller Jugendlyrik: Ihre Welthaltigkeit ist gering, wenn damit Welt um ihrer selbst willen gemeint ist. Schon wo Kolbes Gedichte vom Wir oder Du reden, gewinnen sie sofort an poetischer Sicherheit, Überzeugungskraft und Einfachheit der Diktion. Im ganzen aber wird Welt als solche kaum thematisiert; auch unsere objektiven Leiden und Bedrohungen kommen nur selten in die Verse. Die Manifestationen der jugendlichen Subjektivität dominieren, darüber droht das Gedicht poetisch diffus zu werden. So bleibt Kolbes lyrische Begabung und Energie des Sagens in diesem Band vor allem eine Hoffnung, vielleicht ein Versprechen.
Eberhard Haufe, Thüringer Tageblatt, 21.1.1981
− Hineingeboren — Gedichte von Uwe Kolbe im Aufbau-Verlag. −
Es solle sich „die Generation äußern, deren Erfahrungswelt dieser Band entstammt“, wünscht sich Franz Fühmann in seinem Nachwort zum ersten Buch des jungen Lyrikers Uwe Kolbe, Jahrgang 57 und — für seine Lyrik von Bedeutung — Berliner Hinterhausbewohner. „An ihr vor allem“, nämlich an der jungen und jüngeren Generation, „hegt es zu sagen, was diese Gedichte ihr bedeuten“, setzt Fühmann seinen Gedanken fort. Und weiter heißt es:
Wir, die Väter und Großväter, sollten da zurückhaltend sein.
Hineingeboren ist der programmatische Titel des Bandes der Edition Neue Texte beim Aufbau-Verlag, in dem die Gedichte versammelt sind, die Kolbe zwischen 1975—79 geschrieben hat. Eine originäre Leistung, die umso bedeutungsvoller wird, wenn man das Alter des Dichters berücksichtigt. Mit 22 Jahren die erste Buchveröffentlichung — das war bislang nicht vielen Debütanten vergönnt. Fühmann nennt auch seinen Grund für diese frühe Publikation:
Aus einem Alltag, der Epigonales züchtet und hätschelt, ragen diese Gedichte so heftig, daß man sich ihnen stellen soll.
Wahrhaftig: Hier wird frisch und fröhlich drauflos poetisiert. Hier ist einer, der den Mut hat, unbekümmert an die Öffentlichkeit zu treten, der scheinbar keine Tabus kennt und gegen die Tabus anderer angeht, bereit zu jedem Sakrileg:
Ich dresche ein mit bloßer Hand
auf Volvo, Golf, Trabant de luxe,
auf schlaue Bücher, Jaffamöbel.
… Auf eure Schädel hämmre ich: gebt her
gebt her gebt her, was nirgend ist.
… Ich prügele die Sprachlosigkeit
zwischen uns freundlichen Fremden.
(„Das ganze Werk oder Sisyphos soundsovielter“)
Hier spricht ein junger Poet, der sich weder als Agitator einer Welt- oder Lebensanschauung noch als Funktionär einer Ideologie versteht, sondern als eine Stimme seiner Generation. Er nimmt eher eine seismische Funktion ein, also eine im Sinne des An- und Aufzeigens dessen, was ihn und seinesgleichen, die jetzt Zwanzigjährigen, beschäftigt, interessiert, enerviert, beunruhigt, beglückt und herausfordert.
Ich verschließe mich still
vor allen Freunden
und gebe mich laut
vor allen Fremden.
Mein Gesicht liegt
leuchtend in einem dunklen Raum,
hinter unscheinbarer, offener Tür.
So heißt es vielsagend, lockend und zugleich, in „Zwiefache Psychologie, zeitlich begrenzt“, und dieses Recht auf Gefühle und Verhaltensweisen in zeitlicher Begrenztheit ist ernstzunehmen. Gerade das Unfertige, Vage, sich noch auf der Suche Befindliche in der Lyrik Kolbes berührt den unvoreingenommenen Leser sympathisch. Gedichte wie „Male“ oder „Allmorgendliche Begrüßung“ sind der ganz und gar berechtigte Ausdruck jugendlicher Empfindung. Sie sind Protest gegen kleinbürgerliche Spießigkeit und Muffigkeit, gegen Engstirnigkeit und Dogmatismus. Sie belegen, daß hier einer überlegt hat, und es soll ihm gestattet sein, seine Denkergebnisse auf ganz eigene Weise herauszusagen.
Subjektive Wahrheit wird hier zum freimütigen Bekenntnis einer ganzen Generation; der Jugendlichen, die — wie Fühmann richtig vermutet — vorangegangene Generationen mitunter um ihre „Erfahrungen“ beneiden, um die „großen Stoffe“, die sie direkt miterlebt, um das Viel an „Welt“, das diese gesehen hätten, um eine Vergangenheit also, die sich zur literarischen Ausbeute in reichem Maß zur Verfügung stellt. Dem setzt ein Zweiundzwanzigjähriger in einem schmerzlichen und stolzen Gedicht seine Erfahrung gegenüber:
Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter
Sonnenbaum am Horizont.
Der Wind ist mein
und mein die Vögel.
Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.
(„Hineingeboren“)
Wer aber will sagen, daß solche Auskünfte weniger wichtig, weniger wertvoll und kein großer Stoff wären! Immerhin sind sie prägend und entscheidend für Lebensgefühl und Selbstverständnis der Generation, die in und mit diesem Staat aufgewachsen ist und immer mehr und deutlicher über ihre Empfindungen, Ansichten und Erkenntnisse Auskunft erteilt. Natürlich in ihrer eigenen Mentalität und Sprache, die manchmal etwas schnoddrig gerät oder zu gefühlsbeladen und oft lustig und ironisch, weil sie sich die Freiheit dazu nimmt, die Freiheit, die sie auch hat. Wer sich zeigen darf, wie er ist, wird das auch tun, und hofft auf Toleranz und Verständnis der anderen, der Älteren. Prüderie und Sich-Ärgern, das wäre keine angemessene Reaktion.
Allerdings: Wenig überzeugend und von einem unangenehmen Nabelschau-Individualismus ist, was z.B. unter „Und nichts geschieht“ oder „Schöpfungsgeschichte mit Weib“ summiert wurde. Diese Gedichte gehören für mich zu den weniger gelungenen, die nicht unbedingt hätten veröffentlicht werden müssen. Wo das subjektive Pathos, etwas außer Kontrolle geratend, nach vorn zu drängen sich anschickt, wirken die Verse nicht mehr originell. Zwar versucht Kolbe teilweise dem mit bewußt gesetzten Unterkühlungseffekten zu begegnen, aber dennoch liegt es an dem Verharren bei dieser Negation, daß ein Fortschritt in solchen Gedichten, eine poetische Verdichtung mit einer tatsächlich bemerkenswerten Aussage, nur partiell festzustellen ist. Aber alles, was einer, der schreibt, zu Papier bringt, hat immer auch eine perspektivische Bedeutung.
Vielleicht ist es der Mut zur Ehrlichkeit, zur schonungslosen Offenlegung eigenen Seins, der zum relevanten Beitrag der jungen Dichtergilde unseres Landes geworden ist. Uwe Kolbe formuliert in „Betrachtung Anspruch“:
Ich liebe es, die Unschuld
zu verlieren vor dem Spiegel
täglich.
Freilich ist hier auch Gefahr. Solche freimütigen Schreiber — W. Predel wies in der NDL 7/1980, die sich ausschließlich mit der Literatur junger Autoren befaßte, nachdrücklich darauf hin — „bemühen sich um die Diagnose, scheren sich aber kaum um die Therapie, weder um die vorbeugende noch um die heilende“. Wie lange und wieviel davon sollte man jungen und jüngeren Literaten zugestehen? Wie groß darf der experimentelle Spielraum sein? Franz Fühmann bezieht sich nicht nur auf Uwe Kolbe, wenn er von ihm meint: „Schwer genug wird er’s noch haben…“ Doch vorerst gilt: „Ecce poeta — siehe, da ist ein Dichter!“ Und mit dem Nestor Fühmann sollte man hoffen, „daß er durchhält“.
Roland Mischke, Neue Zeit, 25.8.1980
Meistens kennt der Leser die Bewertung eines Buches, noch ehe er dessen erste Seite gelesen hat. Literatur gelangt fast immer gewertet an uns. Urteile gehen der überlieferten wie der zeitgenössischen Literatur voraus. Der Leser hält sich an sie, selbst wenn er sie sich in der anschließenden Lektüre nicht zu eigen macht. Eine Ausnahme stellt die jeweils junge Literatur dar, neue Namen, Formen und Schreibweisen. Darum weichen Aussagen über junge Literatur häufig extrem voneinander ab. Die Maßstäbe, die an sie herangetragen werden, sind manchmal willkürlich, von Normen abgeleitet, die die Autoren selbst kaum anerkennen würden. In den öffentlichen Diskussionen der letzten Jahre hat man daher versucht, die Sache selbst zu einem Werturteil zu machen. Junge Lyrik zum Beispiel wurde entweder als Muster der Oberflächlichkeit hingestellt oder aber als das Neue und daher Gute. Vielleicht ist die vielfach problematische Kategorie der jungen Literatur nur darin fest bestimmt, daß es sich um Texte handelt, die noch nackt und bloß auf ihre Einkleidung und Aufnahme in die Literatur warten.
Mau kann deshalb einen Zufall nutzen und das gemeinsame Erscheinungsjahr von drei Gedichtbänden als Ausgangspunkt für einen Vergleich nehmen. Im Aufbau-Verlag veröffentlichten 1980 drei Autoren erste Gedichtbände: Richard Pietraß (geb. 1946) Notausgang, Benedikt Dyrlich (geb. 1950) Grüne Küsse und Uwe Kolbe (geb. 1957) Hineingeboren. Obwohl es sich jeweils um Erstlinge handelt – im Falle Dyrlichs allerdings um eine Auswahl aus drei in sorbischer Sprache erschienenen Bänden –, begegnet man nicht Autoren, die aus derselben Generation stammen. Dem Werdegang des einzelnen wird der zusammenfassende Vergleich immer unangemessen bleiben. Für die Leser jedoch sind mit dem Zufall des Erscheinungsjahres die Gedichte erst in die Welt getreten. Daher werden wir sie wie die Leser auch als Neuerscheinungen lesen.
I.
In Uwe Kolbes Gedichtband Hineingeboren gibt es eine Art Leitmotiv. Das ist eine Grundfigur, die in verschiedenen Gedichten bald als räumliches Verhältnis in den Bildern, bald als Bewegungsrichtung des Gedankenganges, bald im Gebrauch von Worten erscheint. Das ist das Verhältnis von „Drinnen“ und „Draußen“, das der Titel bereits anzeigt. Das „Drinnen“ ist nicht auf eine einzige Bedeutung festgelegt, sondern erweist sich als vielgestaltig und vielgesichtig, was seine emotionale Wertigkeit betrifft. Das Titelgedicht („Hineingeboren“) selbst beschreibt dieses „Drinnen“ in lauter Gegensatzpaaren. Das „grüne Land“, in dem sich das Ich einrichten will und muß, ist hoch und weit ebenso wie klein und eng. In dem zweiflügligen Gedicht bildet die zweite Strophe nicht die Zurücknahme der ersten, sondern sie stellt die andere, die Kehrseite, dar. Dadurch ist das „Drinnen“ nicht rot noch schwarz, nicht Geborgenheit noch Gebundenheit allein, nicht nur Heimat, sondern auch Beschränkung, „Käfig“. Mit den wechselnden Bedeutungen verändert sich auch der Inhalt des „Draußen“. Es gibt jenes „Draußen“, das durch die sozialen Widersprüche bezeichnet ist, die es im Sozialismus nicht mehr gibt. „Draußen“, so in dem Gedicht „Ums Brot (ja noch immer)“, ist dort, wo der Kampf um die Existenz noch Realität des Lebens ist:
Geteiltes Rund
Menschheit in Dick
und Dünn und Wasser
macht Bäuche
und Bier.
Im Land letzterer leben
ist billig
durchstehen anders
hart als im grünen
weißen oder heiligen
Staat.
Eine andere Bedeutungsschicht des „Drinnen“ bedingt auch ein anderes „Draußen“. Fenster, Wand und Vorhang trennen drinnen und draußen. Der Hof und die Straße, das Nebenhaus und der Himmelsfleck sind auch draußen im Verhältnis zur kleinen Welt des Ichs.
Selten ist das Paar auf den Gegensatz von behaglichem Drinnen und fremder kalter Welt draußen gebracht. Eine Fortsetzung des klassischen Motivs vom Wanderer und dem Hüttchen stellt sich nicht her, aber auch nicht das Dachstubenidyll. Alles ist beherrscht vom Streben nach draußen:
Herausgehen die Dunklen ins Dunkel
(„Fragender Abendwind raunt“).
Nur in selbstkritischer Betrachtung krisenhafter Augenblicke heißt es:
Was will ich aber noch von mir.
… Ich fall in eine große Müdigkeit, will gar nicht mehr heraus.
Mein Inneres, ha, liegt offen, …
(„In meinem Morgen“).
Genau bestimmt als Raum etwa uneingeschränkter Freiheit oder reichere Zeit am Horizont ist jenes „Draußen“ aber nicht. Wohl gibt es einen Traum vom Fliegen; aber das Begehren „Ein Vogel sein, fliegen so wie er“ durchschaut sich selbst als Traum und kennt dessen Gefahren. Der Wunsch geht nach draußen, aber er kehrt, unerfüllbar, zerstörerisch nach Innen zurück:
schatten meiner flügel, geflügelte schatten
meine schwachen arme, dich zu halten darin
ich berste, der sanfte zu sanft, bersten nach innen…
Mit den bekannten Konfliktfiguren von Ideal und Realität, Erwartung und Wirklichkeit läßt sich das Bild von der Welt, das in dieser Konstellation hervortritt, nicht fassen. Mit einem großen Weltentwurf tritt diese Lyrik nicht an. Auch würde man vergeblich nach dem Ich suchen, das sich mit seinen Ansprüchen und Entwürfen der Gesellschaft als Maß und moralische Instanz vorstellt und zugleich entgegensetzt. Das Ich in den Erstlingen der sechziger Jahre war ein anderes. Ein Selbsturteil wie dieses wäre dort undenkbar gewesen:
Alles mein ich geschieht hier in meinem Kopf klar
… Ich kenne dem ich ähnlicher werde.
(„Don Quichote“).
Man halte Karl Mickels „Ich weiß, was ist“ aus „Der Wald“ von 1957 dagegen oder Völker Brauns: „Wozu ich fähig bin und wessen ich bedarf: ich selbst zu sein – Hier will ich es sein: ich singe mich selbst“ aus dem „Zyklus für die Jugend“. Dieses Selbst- und Geschichtsbewußtsein hat das Ich in Hineingeboren nicht. Es ist eben im Begriff, sich zu fassen und aufzuspüren. Es hat wenige Gewißheiten, denen es vertraut: Der Vorgang des Suchens äußert sich als Unbehagen und Unruhe. Daher läßt sich kein „Draußen“ als Gegenwelt und Raum utopischer und geschichtlicher Erwartungen errichten. Aber es wird eben auch kein „Innen“ als poetischer Ort der Zuflucht und Heimlichkeit ausgestattet. Darin erweist sich die Unruhe als produktiv. In diese Gedichte schreibt sich Selbstbewußtsein als Entschluß ein, sich nicht vorzeitig einrichten zu wollen mit dem Zustand der Gegenwart. Und Wollen zeigt sich fast ganz als Unwillen, diesen als fertig anzunehmen. Auch das eigene „Drinnen“, die sogenannte innere Welt, wird von diesem Unwillen nicht verschont. Was sich hier zunächst als Mangel beschreibt, läßt sich auch anders bezeichnen: Kolbes Lyrik steigt in keine der vorbereiteten und überlieferten Haltungen und Gesten ein; sie ist konsequent darin, eigenes Weltverhältnis nicht auf dem Umwege überkommener Denk- und Darstellungsmodelle fassen zu wollen. Die Leistung von Hineingeboren liegt darin, daß dieses Weltverhältnis in den Gedichten tatsächlich zum Vorschein kommt.
Die Voraussetzung dafür liegt in dem hohen Standard, der gebräuchlichen Formen, der sich in den beiden letzten Jahrzehnten in der Lyrik der DDR herausgebildet hat. Die freirhythmische Zeile ist längst nicht mehr der Platz für Beliebiges. Vielmehr verträgt sie weder Ungenauigkeit des Denkens noch spannungslose Sprache. Bei der Suche nach dem eigenen Ausdruck ist diese Kultur der poetischen Sprache insofern hilfreich, als die reimlose, freirhythmische Zeile Banales und Ungefähres geradezu ins Auge springen läßt und so dieselbe Präzision ihrer Füllung verlangt, wie es früher vorgeschriebene Metren taten. Kolbe stellt sich diesem Anspruch. Er versucht es gar nicht erst mit einer sich naiv gebenden und prosanahen Sprache. Da er sich als Lyriker „zwischen Literatur und Leben“ weiß, wirft er Wirklichkeit und Gedicht auch nicht durcheinander. Nicht immer ist aber seine Sprache den Ansprüchen auch gewachsen. Unstimmige Bilder, ungewollte Verstöße gegen die Logik der Umgangssprache sind gar nicht selten. Wenn es heißt: „Lieber Gesang, lange Gespräche, Lachen, / als aufzustehn, als zu gehn zur Tür…“ („Die Feigheit“), so verwirrt der falsch gebrauchte Infinitiv den Sinn des Satzes in den Zeilen „das bist nur du / und all die andern“ wird dem graphischen Bild der Sprache die grammatische Genauigkeit geopfert: die Werbung um die Wirkung von konkreter Poesie gelangt auf diese Weise nicht voran. In dem schönen Gedicht „Hoffnung…“ kommt die bloß scheinbare Alternative, auf die die zweite Strophe aufbaut, einer Tautologie gleich: „Ich mag meine Freunde sehr / aber die lauten Lügner / nicht…“; und in „Wir leben mit Rissen“ wird der Bezug von Partizipien und Adverbien einen ganzen Abschnitt lang so unpräzise behandelt, wie es nur das Feuilleton, nicht aber das Gedicht verträgt.
Kolbe verbirgt aber auch nicht, daß er insgesamt die eigene, authentische Sprache, die seinen Erfahrungen entspricht, noch nicht gefunden hat. Er probt mit dem Lakonismus ebenso wie mit weitschweifigen Formen des Bewußtseinsprotokolls, experimentiert ein wenig mit der konkreten Poesie und spielt mit den Bildzeichen der Symbolisten. An der Sprachverfassung seiner Gedichte kann man den inneren Werdegang des Ichs noch nicht ablesen. Aber Kolbe ist sich dessen ganz bewußt, daß es sich jetzt noch um „Beschreibung der Möglichkeiten“ handelt, wie er eines seinen jüngeren Gedichte nennt.
(…)
IV.
Alle drei Bände enthalten Liebesgedichte. Die Grünen Küsse halten es mit dem Urbild der entfernten Geliebten, die eigentlich die ideale Geliebte ist. Das besagt nicht, daß die Liebe auch körperlos sein muß. Für die ideale Liebe genügt, daß Zweisamkeit, Übereinstimmung, Miteinander vorherrschend sind. Am besten ist es, wenn die Liebste eine Gestalt in Träumen bleibt:
Doch: Einzig du allein
faßt mich dann
fest an die Schultern und
siehst mir lange
in die Augen blau.
(„Kakteen I“)
In Traum und Wirklichkeit erspart sie dem Liebenden den Zweifel an sich selbst; keine wirklichen Hindernisse stören den Genuß des Glücks. Im Falle der idealen Geliebten enden Konflikte und Verwirrungen meist noch vor den Schlußversen. Von den „ungeahnten neuen Konflikten und Widersprüchen“, die Mickel und Endler in der Vorbemerkung zu ihrer Anthologie schon 1966 von Liebesgedichten in unserem Lande forderten, ist nichts zu spüren. Sogar das mehrfach auftauchende Tigermotiv, welches den Konflikt zwischen den Geschlechtern als andere Seit der Liebe in die Grünen Küsse bringt, läßt wirkliche Widersprüche aus dem Spiel. Der aufbrechende Gegensatz wird wie in dem Gedicht „Eines schönen Morgens“ zu einem beruhigenden, weil Begründungen aufweisenden Schluß geführt. Diese Liebe paßt gut mit Phantasiespaziergängen zusammen. Das Ich baut sich in der Beziehung zur idealen Geliebten ein ganzes kleines Universum, indem der Imperativ seines Wollen gilt. Der Wirklichkeit des täglichen Zusammenlebens entspricht es nicht, wenn die Poesie es sich in der Liebe heimisch macht. Daß die Erwartungen und Wünsche vieler sich auf ein solches Glück in der Liebe richten, ist jedoch unbestreitbar.
Diese würden sich sicher weder bei Kolbe noch bei Pietraß befriedigt finden. Trotzdem ist es unbestreitbar, daß Hineingeboren von Uwe Kolbe Liebe zu einem seiner wichtigsten Themen macht. Kolbe berührt auch die Erfahrungen der Sinne nicht nur in den gebräuchlichen und daher verblaßten Wendungen, sondern spricht unmittelbar von ihnen. Dabei gelingen ihm kühne und durchaus neue Ausdrucksmöglichkeiten wie in dem Gedicht „Ich liege neben dir danach“ oder „Liebeslied“. Aber diese Liebe ist zu nahe an den Alltagserfahrungen, um irgendeinem idealem Urbild zu gleichen. Zu Unrecht hat Uwe Kolbe einmal erklärt, er und seine Lyrik seien nicht zuständig für soziale Tatbestände. Seine Liebesgedichte siedeln in einer fest umschriebenen Welt, die auch als soziale Umwelt zu erkennen ist und Ideale wie das der Unbedingtheit nicht zuläßt. In dem Eingangsgedicht von Hineingeboren ist bereits festgestellt, daß die Realität auch dieser Beziehung nicht von den Träumen gebildet wird („Für Melanie“). – Dieser Prolog bedeutet, daß Liebe und Poesie sich nicht miteinander einrichten können, als lägen beide außer der Zeit. Damit ist eine Entscheidung gegen die poetische Idylle gefallen, an die sich der Autor auch hält. Wohl gibt es Hoffnungen, zum Beispiel auf die Gemeinschaft, die Liebe stiften kann. Aber Unruhe ist immer im Spiel:
da tu ich so
als läg ich ruhig
komm
(„Komm“).
Wo von Liebe die Rede ist, taucht häufig auch das Wort Risse auf. Das sind – gar nicht metaphorisch gemeint – die Risse in der Wand einer Wohnung im Prenzlauer Berg („Wir leben mit Rissen in den Wänden, / ist es dir aufgefallen?“). Es kann aber auch der Riß sein, welcher eines Tages in der heilen Welt der Erwartungen offenbart:
unfaßbarer welt riß, meine und deine hände darin
Beide Risse haben miteinander zu tun, auch wenn es im zweiten Vers nach der Allgemeinheit großer Weltschmerzgebärden klingt.
Hierin ziemlich unbekümmert um die literarische Vorbelastung, dürfte Kolbe wohl kaum an den „großen Weltriß“ gedacht haben, mit welchem Heine seine Kritik der „Kunstperiode“ begründet. Heines Weise, die Erfahrung dieses Risses produktiv zu machen, ist jedenfalls nirgends in unserer Lyrik wirklich als Anregung gebraucht worden. Ironischer Umgang mit der poetischen Subjektivität ist überall unüblich. Die Risse zwischen den Liebenden und ihrem Leben in Kolbes Gedichten sind gesucht, aufgespürt, geradezu gewollt. Ihre Wahrnehmung garantiert, daß Liebe nicht zur Insel der Genügsamkeit, zum Lebensersatz werden kann.
(…)
V.
Richard Pietraß und Uwe Kolbe leben in Berlin. In ihren Gedichten macht sich das kräftig bemerkbar, und zwar nicht in der Abstraktion einer reflektierten Großstadtproblematik. Vielmehr tritt Berlin als die soziale Wirklichkeit seiner Lebensbedingungen in beide Gedichtbände ein. Es lebt dort auch als Umwelt, die von der politischen Geschichte unseres Landes gebildet ist wie keine andere. Erstaunliche Gleichklänge in den sprachlichen Fassungen von Berliner Erfahrungen lassen sich bei den beiden Autoren, die sonst ganz verschiedene Sprache führen, beobachten: In „Berliner Hof“ von Pietraß stehen die Mauern fest, und die Leute haben gelernt, ihr Leben dem Feststehenden anzupassen:
Und heute wie gestern
Richten die Leute ihr Tagwerk
nach dem Wechsel
Des wenigen Lichts.
Keine der Sperren weicht
Sicht zu geben auf einen
Horizont…
Die Hinfälligkeit der alten Häuser in Kolbes „Hoflied“ ist dagegen vielleicht ein wenig zuversichtlicher zu nennen:
Die Ziegel erinnern
An ihre Farbe
Und fallen
Vor Schwäche vom Dach.
Gelb der Geruch
Von rauchenden Steinen
Herab und heraus,
Heraus nur, heraus.
Jedoch ist auch in Kolbes „Hoflied“ der Hof kein Ruinenidyll, sondern die Gegenwart der Kinder, die dort spielen. Völlig gemeinsam ist beiden Gedichten die Beschreibung der äußerst begrenzten Aussicht:
Irren die Augen und gleiten
endlich nach oben
Zum blauen Handtuch
des Himmels.
Ebenso eingeschränkt, umstellt und schmerzhaft wie hier bei Pietraß zeigt sich dies Bild bei Kolbe:
Von Zeit
Zu reicherer Zeit
Holt der Himmelsfleck
sich eins meiner Augen.
Von einer Dämonie der Stadt, wie sie gelegentlich in der DDR-Lyrik noch anzutreffen ist, findet sich keine Spur. „Trümmerberg“, die Fahrradtour von Berlins Mont-Klamott, ist sogar eins der wenigen Gedichte bei Pietraß, wo er Sinne wie Gedanken und folglich auch die Sprache frei schweifen läßt, ohne ihr die übliche Kargheit aufzuerlegen. Bei Uwe Kolbe sind mehrere Möglichkeiten ausgebildet, mit der städtischen Umwelt umzugehen. Von Sarkasmen, die an Adolf Endlers und Karl Mickels Altbaugedichten geschult sind („Fluch, gesandt über Kohlenplatz und Straße ins andere Haus“), bis zur modernen Romanze im Stil der empfindsameren Texte der Rockmusik („Gedicht eines Fremden“). Morgengedichte und Abendlieder scheinen der Stadtlandschaft den Platz geben zu wollen, der sonst der Natur im Gedicht zukam. Jedoch anheimelnd zeigt sich Berlin niemals. Hof, Wohnung, die Stadtlandschaft überhaupt gehören zu den bedingenden, bindenden und das Ich bedrängenden Dingen in Hineingeboren. Kolbes Gedichte über die große Sehnsucht, fliegen zu können, sind Gegenstücke zu den Stadtbildern. Auch sie sind ins Bild gesetzte Beweise, wie sehr die Lebensbedingungen der Stadt als Zwang erlebt werden.
Wiederum stimmen die Wertungen bei Kolbe und Pietraß überein. Angesichts der Reisebegegnung mit einer Kleinstadt („Kemberg“) duldet Pietraß gelegentlich die behagliche Betrachtung; Berlin dagegen ist als Region gesellschaftlicher Erfahrungen gefaßt. Zu ihnen gehören Geschichte der Stadt und politische Gegenwart, also auch die Grenze in Berlin, welche gänzlich wegzudenken nur einer oberflächlichen Beziehung gelingen könnte. Gedichte wie „Grenzfriedhof“ behandeln den Gegenstand mit der Bitterkeit, der einem Strang der Geschichte Berlins gebührt. So wie die Geschichte des imperialistischen Deutschland für uns nicht abgetan und erledigt ist, so sind auch die Schicksale der Toten nicht aufgehoben. Das poetische Subjekt teilt ihren Unfrieden. In Heinz Czechowskis Dresden-Gedichten lassen die Toten unter dem Pflaster dem lebenden Dichter keine Ruhe. Die Toten auf dem Friedhof der Berliner Sophiengemeinde sind in gleicher Weise nicht aus der Geschichte entlassen. Kein heiteres Abschiednehmen von der Vergangenheit zieht hier einen klaren Strich zwischen jener Zeit und der Gegenwart wie noch in Jens Gerlachs „Dorotheenstädtischen Monologen“. Dabei löst gerade Pietraß die Bedrückung durch die Vergangenheit, die in unser Leben und in diese Gesellschaft noch hineinreicht, nicht in einem unbestimmenten, existenziellen Unbehagen auf. Seine proletarischen Porträts beweisen vielmehr, daß Biographie, persönliches Schicksal, vom Autor als Bestandteil der Klassenkämpfe begriffen wird. Sein Verhältnis zu diesen Gestalten ist immer von Sympathie bestimmt; auch ihre von Entbehrungen gezeichneten Schicksale nimmt er an, als gehörten sie nicht einer anderen Generation.
Die geschichtliche Tiefe gibt es bei Uwe Kolbe nicht. Hier zeigt sich durchaus die andere Weltsicht des jüngeren Autors. Kolbes „Möglicher Spaziergang durch eine tote Stadt“ zeigt viel weniger Betroffenheit vom gleichen Problem. Es enthält daher auch neben den gewollt surrealen Bildeindrücken eine sicher ungewollte Melancholie, die an Großstadtgedichte bei Kästner und Tucholsky erinnert. Für beide Autoren gilt die Stadt nicht als Ersatz der schönen Landschaft, aber sie ersetzen auch nicht die wirkliche erfahrene Umwelt durch andere, ins Licht wünschenswerter Eigenschaften getauchte Landschaften. Die geringe Neigung, sich der eigentlich utopischen Sujets zu bemächtigen, wird hierin auf fast schmerzliche Weise deutlich.
Landschaften in schöner Natur gibt es auch bei Dyrlich nicht, obwohl in den Grünen Küssen eine ländliche Umwelt mit Wäldern, Wiesen und Gärten vorkommt. Aber sie erscheint ohne Selbständigkeit, nur als Spielfeld der Aktionen des Ichs, dessen Bedürfnisse sie auch ausschmücken. Gelegentlich sprechen die Gedichte sogar aus, daß Natur als Umwelt nicht einfach, vorhanden ist, sondern Produkt aus des Autors Feder:
Ich habs im Ohr:
diese Schübe der Sprache
einer Landschaft im Rhythmus der Zeit –
(„Ich male neu die Farbe“).
Diesem „Rhythmus der Zeit“ weichen Sprache und Landschaften des Autors jedoch recht oft aus. Wo Naturlandschaft und technisierte Welt zusammenstoßen, da wird der Konflikt meist in einer versöhnlichen Wendung aufgefangen:
Ich höre laut das Rattern
über den Schienen Verspür
die Stöße in Rippen des Eisens
dumpfes Gestampfe direkt in der Seele…
Dann kehrt Ruhe zurück: Aus dem Kiefernwald
singe Lieder wie frei Ich pfeife
wach die Flügel der Vögel…
(„Zusätzliches Bekenntnis“).
Daß das Freie, welches hier wie überall in unserer Lyrik als die eigentliche heimische Welt erscheint, jederzeit erreichbar sein kann, ist eine freundliche Vorstellung. Sie gehört zu den Zügen, die die poetische Welt als Welt des Wünschbaren in Grüne Küsse bilden. Nur dürfte sie nicht so häufig das Aussehen einer verfügbaren Realität annehmen. Leicht gerät nämlich das kleine Fleckchen Natur, das die Wunschlandschaft bildet, zum Weltmodell. Das harmonische Miteinander von Naturgesetz und menschlichen Absichten, welches man den Landschaften für Phantasiespaziergänge gern zubilligt, muß dann verfehlt wirken.
VI.
Bleibt noch vom Platz zu reden, der dem Dichter zugewiesen wird. Reflexion über Poesie geht in allen drei Bänden mit der Poesie einher. Alle drei Autoren rufen auch eine große Zahl literarischer Vorbilder auf. Literatur bleibt weiterhin mit Literatur beschäftigt. Diese Entwicklung, von Peter Gosse 1976 konstatiert, reißt nicht ab. Dichter, sagt Uwe Kolbe, sind Götter, auch wenn sie es selbst vergessen. Er gebraucht das feierliche Wort oft und ohne Scheu. Hier kündigt sich wirklich ein fast vergessenes Selbstverständnis an, aber auch, wer wollte es überhören, der Anspruch auf das Prinzip der Autonomie der Kunst. Dyrlich dagegen ist bereit, den Märchenerzähler und Träumer zu spielen. Das Gedicht „Kinderei“ teilt dem Poeten seinen Platz in der arbeitsteiligen Gesellschaft zu. Daß er dem Dichter und auch wohl der Poesie nur die Rolle zugesteht, den Ernst des Lebens heiter zu begleiten, zeugt nicht allein von der Bescheidenheit des Autors. Im Vergleich zu Kolbes Ungenügsamkeit ist dies der andere Pol. Zwischen beiden bestimmt sich ein Verständnis vom Auftrag des Dichters, das noch sehr unfest ist. In solchen Unsicherheiten kündigt sich eine allgemeinere Veränderung der Auffassung davon an, was Literatur bewirken soll und kann. Bei einem neuen, festen Begriff ist man noch nicht angekommen.
Doch stellt sich schon heraus, daß dem Dichter ein erhöhter Platz zugewiesen werden soll. Selbst in Notausgang von Richard Pietraß wird trotz des sparsamen Umgangs mit großen Worten das Amt des Sehers an den Dichter vergeben („Die Kraft des Sehers“). In der Rolle von Auftragnehmern und Vermittlern des Dialogs, wie die Dichter in den sechziger Jahren ihre Aufgabe verstanden, sehen sich die Lyriker dieser Generation nicht. Ob Götter, Propheten oder Narren, in jedem Falle sind die Dichter mit der Aura des Besonderen umgeben. Welcher Platz dem Leser als Empfänger der Botschaften zukommen soll, ist vorerst noch nicht festgeschrieben. Daran wird aber künftig das gewandelte Bild vom Amt des Dichters zu messen sein.
Ursula Heukenkamp, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 1981
– Ein paar Gedanken zu zwei jungen Dichtern. –
Das liebe deutsche Märchen vom Schneewittchen, wem wäre nicht vertraut, wie es anhebt:
Es war einmal mitten im Winter und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tröpfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: „Hätt ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.“ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und ward darum das Sneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.
Und wer wüßte nicht, wie es weitergeht: Da nun die gute Königin tot war, nahm der König die böse Stiefmutter ins Haus, und die ertrug nicht, daß ihr Spiegel sagte, Sneewittchen sei tausendmal schöner als sie: Ihr Jäger bekam den Befehl, Sneewittchen zu töten.
Ein altes Märchen; nur: Die Märe, die Jacob Grimm aufgezeichnet hat, wurde, wie die erhaltene Urfassung der Kinder- und Hausmärchen, die Oelendorfer Handschrift ausweist, ihm von seiner Gewährsfrau, vielleicht der alten Frau Viehmann, in einem Punkt entscheidend anders erzählt. Sie wußte es so:
Es war einmal Winter und schneiete vom Himmel herunter, da saß eine Königin am Fenster von Ebenholz und nähte, die hätte gar zu gerne ein Kind gehabt. Und während sie darüber dachte, stach sie sich ungefähr mit der Nadel in den Finger, so daß drei Tropfen Blut in den Schnee fielen. Da wünschte sie und sprach: „ach, hätte ich doch ein Kind, so weiß wie diesen Schnee, so rothbackigt wie dies rothe Blut und so schwarzäugig wie diesen Fensterrahm!“
Bald darnach bekam sie ein wunderschönes Töchterlein, so weiß wie Schnee, so roth wie Blut, so schwarz wie Eben, und das Töchterlein wurde Schneeweißchen genannt. Die Frau Königin war die allerschönste Frau im Land, aber Schneeweißchen war noch hunderttausendmal schöner, und als die Frau Königin ihren Spiegel fragte:
Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste Frau in ganz Engelland?
so antwortete das Spieglein: „die Frau Königin ist die schönste, aber Schneeweißchen ist noch hunderttausendmal viel schöner.“
Darüber konnte es die Frau Königin nicht mehr leiden, weil sie die schöneste im Reich wollte seyn…
Die Märe ist dem Mythos noch nahe: Die gute Mutter und die böse Stiefmutter (und auch der exekutierende Jäger) sind hier eine Person. – Du wünschst, daß dein Kind schöner sei als du, aber du sollst die Schönste bleiben. – Der umgekehrte Ödipus. – Wilhelm, der Redakteur der gemeinsamen Sammlung, mochte diese Kraßheit nicht ertragen haben, und entgegen seiner erklärten Absicht: „diese Märchen, so rein als möglich war; aufzufassen“, hat er, „daß ein eigentliches Erziehungsbuch daraus werde“, den Widerspruch auseinandergedrieselt: die gute Mutter hier; die böse Stiefmutter dort. Dieses Gegensatzpaar erlaubt bestimmte didaktische Demonstrationen; der Mythos aber trifft ins Herz.
Durch manche Gedichte von Frank Matthies geht, tanzt, springt, huscht, schläft (und hier: stürzt) Schneewittchen.
Darf ich auf einen Zug von Märchen wie Märe aufmerksam machen, der mir bedeutsam erscheint? Germanisten mag aufgefallen sein, daß gegen die Grammatik verstoßen wurde: Ein Superlativ wurde übersteigert, was ja bekanntlich nicht zulässig ist. Die Königin wird vom Spiegel „die schönste“ genannt; gleichzeitig aber sei, laut derselben Aussage, Sneewittchen/Schneeweißchen tausend- und hunderttausendmal schöner als sie. Man könnte dies als Diplomatie des Spiegels auslegen, und zweifellos träfe dies Wesentliches. Die Wahrheit ist im Kronsaal schwierig zu sagen, wieviel mehr erst im Boudoir, aber ich glaube ebenso, daß der Spiegel mit diesem verkappten Elativ auf das Andersartige von Sneewittchens Schönheit, auf das Inkommensurable der Generationen hinweist. Die Königin soll die Schönste in ganz Engelland bleiben. – Schneewittchen ist anders schön als sie.
So rot wie Blut: Wir wollen unsre Jugend klug und kenntnisreich, doch wenn sie uns dann Fragen stellt, die uns unbequem sind, ertragen wirs schwer, und wenn wir um Antwort verlegen sind, werfen wir ihr Undankbarkeit vor.
So weiß wie Schnee: Wir wollen unsre Jugend voll edler Gefühle, doch wenn sie sich da empfindsam zeigt, wo wir abgestumpft sind, ertragen wirs schwer, und ehe wir uns zu schämen beginnen, werfen wir ihr Überheblichkeit vor.
So schwarz wie Ebenholz: Wir wollen unsre Jugend charakterfest, doch wenn sie auf dem beharrt, was sie zu wissen und tun zu müssen glaubt, ertragen wirs schwer, und wenn sie uns dann widerspricht, werfen wir ihr falsches Bewußtsein vor.
Wer den Fortschritt als Prinzip der Geschichte ansieht, müßte erwarten und wünschen, daß die nächste Generation die seine überflügle. – Wir wollen die Jugend besser als uns und verstehen schlecht, daß dies Besser-Sein ein Anders-Sein fordert. Wir wollen, im Grund genommen, die nächste Generation also so etwas wie unsre Miniaturausgabe; wir sehen in ihnen nur uns selbst, die wir noch einmal anfangen könnten. – Wir gestehen uns dann zu, besser zu sein. – Wir gestehen, wenn die Nachfolgenden dann so wären (und manche sinds ja, und manche auch musterhaft) wie wir, ihnen gerne etwas mangelnde Reife zu, etwas Überschwang, etwas über die Stränge, auch ein bißchen mehr Lust und gern sehr viel mehr Glück: Wir sehn ihnen auch ein wenig Leid nach und gestatten, in Maßen, etwas Trauer zur Mitternacht, ja wir konzedieren sogar ein klein wenig rückkehrbereiten und sichtbar als rückkehrbereit angelegten Irrtum und Umweg, wir sind ja nicht so! Nur eben: alles in unsrem Rahmen und nach unsrem Maß, und wenn über die Stränge, dann über unsre, und die setzen unser Geschirr voraus. – Es ist ehrliche Sorge, die uns da leitet: Wir hatten Fragen und fanden Antworten, die sind uns kostbar, und da wir sie einmal haben; wär es doch gut, wenn die Jungen die gleichen Fragen stellten, auf daß unsre paraten Antworten passen. – Wir sollten ertragen lernen, daß sie Andres fragen und anders fragen. – Wir haben auf unsren Wegen Erfahrung gesammelt, bittre, beglückende, jedesmal schwierige, und nun müssen wir auch die Erkenntnis bewältigen lernen, daß jede und jede Generation ihre eigenen Erfahrungen machen muß. Wir können ihr da nichts abnehmen, so gern wirs auch täten. – Wir haben ein sehr weites Herz für die Jugend und werden rasch böse, wenn sie da nicht einzieht. – Wir werfen ihr dann nicht nur Pietätlosigkeit vor. Wir werfen ihr Unproduktivität vor, wenn sie unbetretene Pfade zu gehn wünscht: Man kommt dort langsamer voran, und überhaupt: was heißt voran? In der bestimmenden Tendenz dieses Jahrhunderts hält unser Mühn seine eigene Richtung zu unbestreitbaren Erfolgen, da möchten wir auch die Art unsres Schrittesetzens gern als die richtige allgemeinverbindlich, und hier werden wir besonders unwirsch, wenn sich dazu nicht Hingabe zeigt. – Zeigt sie sich, zeigen auch wir uns von der besten Seite: Wir fördern dann in einer Art, wie sie tatsächlich beispielslos ist. Gedichte von Achtzehnjährigen schon in der dicken Literaturgeschichte, wo hätte es solches je zuvor gegeben! Allerdings dann andrerseits: Wenig Papier, leider, leider, da kann man eben nicht alles drucken, und außerdem ists ja nur im Interesse der unveröffentlicht Bleibenden selbst: die brauchen doch Zeit, daß der Most sich kläre, und wenn sie dann, nicht wahr, etwas reifer sein werden…
Hier sind Gedichte von zwei Zwanzigjährigen.
Uwe Kolbe, 1957, hat gerade sein Abitur, Frank Matthies, Fernsprechmonteur 1951, seine Armeezeit hinter sich gebracht. Beide schreiben seit mehreren Jahren. – Ich habe mich öfters dahingehend geäußert, daß Sinn und Form kein Zeitschrift der Debütierenden sein kann. Hier, glaube ich, ist eine Ausnahme erlaubt: ecce poeta! und gleich ihrer zwei. Zwei Dichter: Anstatt Geläufiges vorzuweisen, wagen sie, sich selbst so kompromißlos zu sagen, daß ich, ihr unbekannter Leser, angerührt und betroffen auch dann bin, wenn ich nicht jede Wendung nachvollziehen und nicht jede Metapher ganz ausdeuten kann. Diese Lyrik ist nicht vollständig im Gedanklichen aufzulösen, und dabei fragte es sich auch noch immer, von welcher Qualität dies Gedankliche ist. Kein Wort gegen Gedankenlyrik; nur: es müssen halt welche sein. Im Schwall des Angebots schreibender Jugend vermag ich leider meist nichts Andres zu sehn als das Präsentieren jenes Richtigen, von dem Goethe sagte, daß, wenn die Poesie weiter nichts biete, es dort keine sechs Pfennige wert sei. – Heute, in der Masse, wahrscheinlich kaum vier. – Ich werde bei all diesen Produkten das Gefühl nicht los daß einer herkömmlich etwas Herkömmliches denkt und es dann, dies gedachte Herkömmliche und herkömmlich Gedachte, „dichterisch umsetzt“, das heißt zuerst in eine Metapher und die dann in Kurzzeilen überführt, und wenn es dabei noch glückt, daß dies Bild in sich nicht stimmt, wird ihm besondere Kühnheit bescheinigt. – Das ist dann jene poetische Freiheit, mit der wir uns nicht lumpen lassen. – Darf ichs demonstrieren? Ich stelle mir – analog Kolbes „Allmorgendlicher Begrüßung“ – einmal vor, daß jemand vom Schwall sich entschließt, ein Gedicht zum Thema: „Eintritt ins Schulgebäude“ zu verfassen und sich zunächst als Aussage zurechtlegt, daß man vorm Schultor träume, hinter ihm aber lerne, was verlange, die Träume vorerst zurückzustellen, um sie, nach dem Gelernthaben, gewissermaßen auf höherer Ebene weiterzuführen; und daß er diesem Gedankengang etwa diese Form gibt:
Träume
bunte Wolken
ihr geht nicht durchs
Schultor mit mir
aber kehre
ich wieder zurück
werd ich,
gewachsen,
eine buntere Sonne
euch überflügeln!
und das wird dann gedruckt, und hat mans gelesen, hat mans gelesen, und hätte es schon gelesen gehabt, auch wenn man dies nicht gelesen hätte. – Keine vier Pfennig. – Und nun halte man gegen das, was keine Parodie, sondern ein potentielles Zitat ist, Kolbes Gedicht, das ein Gedicht ist. Ich habe die Dialektik des Tores, als Durchgang Ausschluß und Einschluß zu sein, in unsrer Zeit noch nie so eindringlich gestaltet gefunden wie in dem Gedicht des Neunzehnjährigen –:
Diese Dialektik, und die Seele des Jungen dazu. Es ist sein erschütterndes Erlebnis, so erschütternd, daß er darüber schon lächelt, und es lächelnd mitteilt. – Seit diesen Gedichten weiß ich mehr von einer Generation, die auch die meiner Tochter ist. – Ich wollte, alle Lehrer lasen diesen Schulweg und wären so betroffen, dazu nicht zu nicken. – Zu dem Pseudogebilde – ach, lassen wirs.
„Die Gedichte bemerkt nur der Ofen“ heißt es bei Matthies.
Aber es wird doch bei Kolbe gar kein Durchgang gezeigt, nur das Davor? Nur; eben, eben.
Und noch eine Abgrenzung sei mir erlaubt. – Der „Januarmorgen“ von Matthies bezieht sich auf Trakl: Ein Ausbruch aus dem Elfenbeinturm mit Hilfe gnadenloser Gedichte. Hier wäre das analoge Pseudogebilde das Vorweisen von Gelesenem: Der Schoß der Schwester und Kokain, Grete und Grodek, Helian und Elis, Salzburg und Der Brenner, das alles weiß man, und man weist nun nach, daß man dies weiß. Der Schwall dieser Bildungsgedichte, der seit Jahren die Redaktion Sinn und Form überschwemmt, hat im einzelnen gewiß rührende Züge und wirft Probleme jenseits des Poetischen auf, die angegangen werden müssen. Nur: Gedichte sind es deswegen noch nicht. Matthies braucht nicht nachzuweisen, daß er Trakl kennt: Sein Gedicht vollzieht, wie er ihn erfuhr. Er braucht die „Angstgespenster“ der ersten Strophe nicht in Anführungsstriche zu setzen, um mitzuteilen, er wisse, daß sie Trakl entstammen: Sie sind die seinen geworden, in seinem Gedicht, das die Nähe des großen nicht zu scheuen braucht. Darum sehe ich Matthies auch nach, was ich kaum Einem nachsähe: Daß er Trakl mit dem Vornamen anredet. Als Trakl starb, war er drei Jahre älter als dieser Junge… Schneewittchen stürzt den Lichtschacht hinab… Weiß Matthies, daß Trakl es liebte, einen glimmenden Zigarettenstummel aus dem Kasernenfenster fallen zu sehn und ihm nachzuschauen, wie er verlosch? Er weiß es sicher nicht, und er braucht es nicht zu wissen. Der Bildungsbeflissene wüßte und teilte dies mit.
Andrerseits: Der Leser braucht nicht zu wissen, wer Barbara ist. Der eine aus dem Schwall nennte sie: „mein Mädchen“; der andere brächte zu diesem Name eine Fußnote an.
Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Sneewittchen darin und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: „Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt.“ Aber die Zwerge antworteten: „Wir geben ihn nicht um alles Gold in der Welt.“ Da sprach er: „So schenkt ihn mir, denn ich kann nicht leben, ohne Sneewittchen zu sehen…“
Können wir leben ohne junge Gedichte?
Wir beobachten weltweit eine Vergottung der Jugend und des Jungseins um ihrer selber willen. Ich halte sie für ein ungutes Symptom und weigere mich, das mitzumachen. Zwanzig zu sein ist weder Vorzug noch Leistung, es ist eine Gnade und wie alle Gnaden schwer zu tragen. Um so dankbarer bin ich, die folgendes Seiten vorstellen zu können: Gedichte von Zwanzigjährigen, die Gedichte sind und von Zwanzigjährigen.
Wir sollten sie willkommen heißen.
Franz Fühmann, Sinn und Form, Heft 4, November/Dezember 1976
− Gespräch im Hinterhaus mit Uwe Kolbe, der „tun mit allen für alle“ will. −
Prenzlauer Berg ist ja gegenwärtig etwas im Schwange. Wer will, der lasse sich von der Gruppe City etwas vom „King vom Prenzlauer Berg“ vorsingen oder lege die zweite Bluesplatte von Stefan Diestelmann mit dem Titel Hof vom Prenzlauer Berg auf. In der Stadtlandschaft mit Freunden des Schriftstellers Joachim Walther geht die Rede von den intellektuellen Rotweintrinkern vom Prenzlauer Berg, und Konrad Wolf ließ seine Sunny nicht nur Solo durch das romantisiert abgelichtete Straßengewirr dieses Berliner Stadtbezirkes traben.
Was macht Prenzlauer Berg zum Sujet? Sicher auch, weil sich hier die Leute besonders eng auf den Pelz rücken. Man kennt einander, man schätzt einander, man meidet einander, man hilft einander, man schaut aneinander vorbei, man trinkt gemeinsam, man singt gemeinsam, man schimpft gemeinsam auf den, der im vierten Hof früh um fünfe aus welchen Gründen auch immer aus voller Kehle nach Hotte schreit. Das Leben ist dicht, prall, stark in den Straßenzügen links und rechts der Schönhauser. Wenn wir schon nicht das Herz der Stadt gerade hier schlagen lassen wollen (wo schlägt das Herz der Stadt?), so wohl einen gesunden Puls.
Inmitten dieses Lachens und Weinens, dieses Für und Wider, dieses Liebens und Sterbens, dieses Mit- und Gegeneinanders, dieser Betulichkeit und Hektik, dieser Stille und dieses Lärms — im zweiten Hinterhof eines Altberliner Mietshauses also schaut ein Mann, ein junger Mann ins Leben und in die Sterne, wenn es der emsig tuckernde Trecker mit seinem trockenen Gebell auf dem Kohlenplatz vor dem Fenster zuläßt.
Er läßt zu, wie der Gedichtband Hineingeboren bezeugt, den uns Uwe Kolbe jüngst vorlegte und dessen zweite Auflage sicher ebenso schnell aus den Buchhandlungen heraus sein wird wie die erste. Seit sechzehn Jahren lebt er in diesem Stadtbezirk, der ihn unzweifelhaft prägte, der einiges zu seinem Profil tat. Ob er über den Kohlenplatz schaut (den nämlichen) oder seine einzige Liebe besingt, der er Heiligabend neunzehnachtundsiebzig in der Lychener Straße begegnete — in diesen wie in anderen Gedichten sieht er uns Prenzlauer Berg, entdeckt er uns diese Stadt und ihre Menschen. Er tut’s leise und laut, trefflich und (manchmal) nicht nachvollziehbar; er zeigt bemerkenswerte Schrift. Es ließe sich streiten, ob seine Lyrik mit Hinter- und Nebensinn heinisch oder eben berlinisch ist…
Erfrischend seine Geradlinigkeit, seine Ehrlichkeit in unserem Gespräch, das einen keinesfalls „fertigen“ Uwe Kolbe offenbart. Er liest Unmengen, um Fundament zu festigen: Rousseau, Hölderlin, Marx. Liest Heutiges, um sich in Fragen der Zeit zurechtzufinden. „Ich will tun mit allen für alle“ heißt es in einem seiner wenn man so will — programmatischen Gedichte und „Wegweiser sein, mitdenken für uns“. Ein hoher Anspruch an sich selbst, für uns, der zeigt, wo Uwe Kolbe steht: Heute, hier, mit uns, für uns.
Sein erster Gedichtband ist von Kritik und Publikum mehr als freundlich aufgenommen worden. Er nimmt die Huldigung des Schnell-vergriffen-Seins und des Wohl-rezensiert-Werdens dankbar und kritisch gegenüber sich selbst:
Der erste Band artikuliert nicht deutlich genug. Die Zustimmung sagt, daß weiterzuarbeiten lohnt.
Er arbeitet weiter, trifft gegenwärtig mit seinem Verlag eine Auswahl für ein zweites Buch, das im nächsten Jahr erscheinen könnte. Liebesgedichte sollen uns erreichen, mit den alten, ewig jungen Themen Begegnung und Abschied, Glauben und Mißtrauen zwischen zweien. Erwartung auf dieses „stille Buch“ sei benannt.
Er ist also angetreten, der 23-jährige Poet von Prenzlauer Berg, und aufgetreten. Was will er erreichen? Zum Nach-, Mit- und Hinterdenken anregen, indem er sich (und damit uns) den Fragen der Zeit stellt. Er weiß, wie sehr Dilettantismus und Epigonales der Poesie abträglich sind, also setzt er mit seinen Gedichten dem etwas entgegen. Was erwartet er? Vor allem Aufgeschlossenheit und Verständnis ihm und seinen Werken gegenüber. Er wünscht sich, daß Literatur, insbesondere jene, die mit Vers, Reim, Rhythmus und Metrum daherkommt, nicht allein nach ihrem Tageswert, sondern auch als Sprachkunstwerk beurteilt wird. Daß schon Schulen den Spaß an ihr wecken.
Er weiß sich an der Seite der Klassiker, wenn er „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ als Zielpunkt auch seines An- und Auftretens bezeichnet, und mitten in den Problematiken der gegenwärtigen internationalen Situation, wenn er jeden friedenserhaltenden Vorschlag begrüßt und jegliche Aggression ablehnt.
Prononciert seine Antworten in unserem Gespräch, das einen nachdenklichen Uwe Kolbe zeigt
Peter Mugay: Welches sind Maximen Ihrer Arbeit, Ihres Lebens?
Uwe Kolbe: Den eignen Sinnen Fremdes nie schreiben; stets selber nachsehen: der eignen Schuld entgegen arbeiten.
Mugay: Was regt Sie in Ihrer Arbeit an?
Kolbe: Anderes: Gesicht, Gefühl, Gangart, Glückssekunde. Aber vor allem muß ich schreiben. Ist es nicht mehr so, laß ich’s.
Mugay: Gibt es zeitgenössische oder ältere Leitbilder?
Kolbe: Träume, Angemaßtes, Einbildung: Arbeiten wie Hölderlin, wie Fühmann. Popularität erringen wie Neruda. Durchhalten wie Radnóti.
Mugay: Ernährt Lyrik ihren Mann?
Kolbe: Seit September 1979 lebe ich „von Gedichten“. Legitim und nützlich ist, mit Nachdichtungen einen Teil des Unterhalts zu verdienen.
Mugay: Stephan Hermlin und Jo Schulz bekannten, Gedichte mitunter unter gewissermaßen körperlichen Anstrengungen „zu gebären“. Wie ist es bei Ihnen?
Kolbe: Solcher Geburten erinnere ich mich kaum. Eher der Übelkeiten und der Unrast zuvor, des Fieberrausches dabei, der Erlösung hernach, wenn etwas gelungen schien.
Mugay: Welches ist Ihre liebste Beschäftigung neben Ihrer Arbeit?
Kolbe: Essen ist das Zweitbeste.
So rundet sich das Bild von einem jungen Poeten aus Prenzlauer Berg, dessen Blick zwischen Kohlenplatz und den Sternen wandert. Glaube keiner, es mit einem „fertigen Dichter“ zu tun zu haben — Schubladen, aus denen solche genommen werden können, existieren höchstens in der Phantasie von Bequemdenkern. Er schreitet nicht mit dem Dunkel des „Ich-weiß- wie-das-Leben-ist“ oder mit der Selbstgefälligkeit „Ich-zeig-euch-wie-man’s- macht“ durch sein und unser Dasein. Wir hingegen sollten ihm offenen Herzens Freund sein, ihm von unseren Erfahrungen berichten, von unserem Wissen anbieten. Er bedarf unser — wie wir seiner bedürfen.
Peter Mugay, Neue Zeit, 2.12.1980
als ein Gespräch mit Uwe Kolbe
auf halber strecke…
um das selbstverständnis eines autors, dessen sprache „die sprache der sprachregelung, die kollektivlüge der herrschenden sprache“ zitiert, zu erfahren, bat ich uwe kolbe um ein gespräch, das er zugunsten eines schriftlichen dialoges ablehnte. somit entstand ein gesprächsraum, der die begegnung, auf die ich aus war, in diesem rahmen ermöglichte. „nennen IST (hier) bannen“, was für uwe kolbe wichtig ist. ich hätte mir allerdings auch ein gespräch vorstellen können, das freisetzend wirkt, das frage – antwort hin und her zugunsten einer vielseitigeren möglichkeit aufbricht, eine linie zieht, wo ansonsten nur punkte markiert sind. unbestritten bleibt jedoch, daß durch den schriftlichen dialog eine möglichkeit gefunden wurde, ansichten und standpunkte darzustellen, wenn auch in z.t. apodiktischer form, da jener annähernde grundzug, den ein gespräch annehmen kann bzw. anstrebt, kaum vorhanden ist. meine gestellten fragen, erste erkundungen zu einem ICH, das erlaubt zu finden, ergaben sich aus kolbes situation „zwischen leben und literatur“, die deutlich werden sollte. weiterer, nun aber produzierter fragen hätte es bedurft, das wesentliche umfassend sichtbar zu machen, was durch den satz „mehr, d.h. dazu – will ich nicht.“ verhindert wurde. trotzdem: „jedes etwas ist ein echo von nichts.“ (john cage). und wenn uwe kolbe im kern den menschen und das leben will, und da nichts finden kann („da spricht sich das wesen nicht aus, das wesen der person, und ich bin damit heillos allein.“), bleibt der beste gebrauch seiner einsamkeit, sich ihr als ein mittel der begegnung zu bedienen, die standpunkte zu verlassen, „in einen raum zu treten und zu reden, und das ist herrlich subversiv für die bestehenden verhältnisse,…“.
Egmont Hesse: welche gründe gab es für dich, auf die form des gesprächs zu verzichten und einen schriftlichen dialog anzunehmen?
Uwe Kolbe: Frage und Antwort sind, auf Papier formuliert, in jedem Fall klarer und unbelasteter (insbesondere von der Nase des Gegenübers und aller sonstigen Gesprächs-Psychologie); der Zeitpunkt der Antwort ist, so, frei zu wählen. Wenn es sonstige „Gründe“ gäbe, wie Du unterstellst, für die Ablehnung des direkten Gespräches…, so hätten sie vor allem damit zu tun, daß ich bereits zu oft und deutlich Vorläufiges zur Poetologie u.a. öffentlich gemacht habe – und kaum noch Lust dazu/daran übrig ist.
Hesse: ein brief an lothar walsdorf (abgedruckt in deinem zweiten lyrikband abschiede und andere begegnungen) endet mit den worten „-jeder, tatsächlich jeder vorschlag zu frieden und offenem gespräch muß willkommen sein. jedes gute gedicht ist ein solcher vorschlag.“ geschrieben wurde das im november 1980 und es zeigt eine gewisse hoffnung, die sich für dich mit dem geschriebenen wort verband. ist diese hoffnung heute, nach fünf jahren, noch vorhanden? gibt es eine distanz zwischen deiner damaligen hoffnung und deinen jetzigen gedichten? ist sie in ihnen widergespiegelt oder gar ein thema? und wem sollen sich deine gedichte zusprechen?
Kolbe: Nach wie vor denke ich, Poesie ist das Gegenteil von Negation: ein positiver Akt; Position. Distanz zwischen verschiedenen Arten Hoffnung und den Gedichten gab es allerdings schon damals – Gedichte meines Verständnisses bzw. meiner Herstellungsweise lassen sowieso nicht auf den aktuellen äußeren Glauben oder Unglauben o. dgl. des Verfassers schließen: davor ist ihre Ganzheit – und ihre Haupteigenschaft, Kunst-Produkt zu sein. Abstrakte Kategorien sind in meinen Gedichten nicht: widergespiegelt. Schiller etwa und der jüngere Hölderlin sind mir in dieser Hinsicht fremd (ihre Hymnen auf… Kategorien).
Wenn Filosofie zum Strohhalm wird, an Scheidepunkten der Existenz, oder der Autodidakt eine nächste Grenze durchschritten hat, dann scheinen mir Erwähnungen möglich (und kommen vor). Als Zuspruch sind meine Texte nicht geschrieben. Sollten sie eine solche Funktion für irgendwen haben können, entspricht das ihrer Autonomie gegenüber dem Autor. Daß einige Leser auch mit meinen Gedichten leben, weiß ich – jener Schicht von Leuten, die füreinander schreiben, durch Generationen und Zeiten miteinander denken, die sich über Kultur-Barrieren hinweg verständigen, möchte ich angehören.
Hesse: wenn über neue literatur aus der ddr gesprochen wird, fällt irgendwann der name kolbe und steht dann für jenen teil der literatur, von der man behauptet: daß sie sich bewußt politisch gibt. sicherlich hängt das damit zusammen, daß den offensichtlichen hintergrund für deine texte noch immer jene gesellschaft bildet, in die du „hineingeboren“ wurdest. du findest „futter im hierdeutschen rollengras“. welche bedeutung hat der ausnahmezustand ddr für dich?
Kolbe: Zunächst: DDR ist in Deutschland kein Ausnahmezustand. Da es neben dem Abstraktum, der… irren Hoffnung nur ein ziemlich kurzes Konkretum Deutschland gab, ist es völlig normal und: rechtens (historisch), daß jetzt zwei sind, wo vorher meist noch viel mehr waren. Die selbst-bestimmte deutsche Nation gibt es ja nicht (wie z.B. die französische der bürgerlichen Revolution). Binsen.
Es sei unterstellt, daß Du mich – falsch – zitierst: in der DDR kommt es mir (kam es mir: erstmals, von der anderen Seite her betrachtet) vor wie in einer Art Ausnahmezustand. Die Sozialpsyche vollkommen auf dem Hund – das meine ich; denke dabei, nach meiner begrenzten Erfahrung, daß die kapitalistische, bürgerlich beherrschte, auch wölfische Psyche „normaler“ ist, FORMEN DES ALLTAGS hervorgebracht hat (des politischen, kulturellen, des der Verkehrformen als Teil des kulturellen), wogegen mir der hiesige Alltag seltsam, eigentlich unfaßbar in seiner Fortsetzung, erscheint. Das schließt das Fehlen der Öffentlichkeit (also die Gerüchte-Drüsen-Wirtschaft) ebenso ein wie das Verhältnis zwischen Bedienung und Bedienten in Restaurants, Gemüseläden usf.
Was mich wundert: was Dich wundert! – daß der Hintergrund für meine Texte „noch immer“ jene, die hiesige sozialistische Gesellschaft ist? Seit Geburt lebe ich in ihr, in längst auch vom Sozialismus durchtränkten/geprägten Verhältnissen.
Auch „gebe“ ich mich nicht „bewußt politisch“, nein, mein ganzes Denken hat sich ab einem gewissen Alter vom politischen Fundament her entwickelt und behauptet (dazu späteres Erkennen von Geschichte und Tradition). Daß die Politisierung hierzulande (hierzustaate ) massenhaft zum Gegenteil geführt hat, zu einem tierischen Begreifen der eigenen Verhältnisse – Begreifen mit ferngelenkten Pfoten –, letztlich aus der „historischen Chance“ irgendein Land der Gartenlaube hinterm Neubau-Klotz wird…: mehr, als es zu benennen, auszusprechen, mit Worten daran zu arbeiten, poetische Subversion zu liefern, kann ich nicht, aber das will ich, diese Jacke ziehe ich mir auch an, auch.
Hesse: franz fühmann benutzte die zeile „zwischen leben und literatur“, um einen „nenner“ für deine gedichte zu finden. um konkreteres zu erfahren: was siehst du als ihr „kleinstes gemeinsames vielfaches“ an?
Kolbe: Das kleinste gemeinsame Vielfache dieser Texte ist tatsächlich konkret: ihr Autor. Nebenbei, daß sie Vehikel der Mnemografie sind, also die Biografie ersetzen.
Hesse: es sind kaum deine gedichte, die mich zwingen, dich nach ihrer sprache zu fragen, eher dein „wunsch, etwas zu begreifen, den dingen den namen wieder zu finden, den namen sagen zu können…“. ist dein ausweichen vor dem freien gespräch ein aspekt dieser suche: „den dingen…“? wie kann das finden geschehen mittels einer „grammatik, die auf die begriffe der herrschenden sprache nicht verzichtet, sondern sie zitiert…“? ist so ein gespräch mit den dingen überhaupt möglich, oder hältst du ihnen nur einen spiegel vor?
Kolbe: Also nochmal zum, von Dir so genannten, freien Gespräch: so etwas gibt es m.E. nicht zwischen Personen, die miteinander sonst nicht zu tun hätten, die keine Not und keine Lust und auch sonst nichts einander zuwendet.
Aber sonst: Ja, meine Grundvorstellung vom Wort in der Poesie ist doch: Nennen IST Bannen. Daher kommt schließlich Dichtung, aus den Höhlen, von Jägern der Vorzeit.
Vielleicht sind heute, aus Mangel an Intensität, in Mitteleuropa dazu mehrere Leben nötig. Mancher Chinese soll es auch so geschafft haben.
Dagegen, den Dingen Spiegel zu sein, sprechen die Gedichte. Andernfalls taugen sie nichts.
Hesse: in deinen texten erkenne ich nicht diesen deutlichen unterschied in form und stilfindung gegenüber einer älteren autorengeneration, wie er z.b. für papenfuß u.a. charakteristisch ist. die verschiedenen „grammatiken des denkens“, denen du angehört hast, waren, wie ich annehme, in ihrer tradition stark aufeinander bezogen. fühlst du dich verpflichtet, eine gewisse literaturauffassung, wie sie sich in der ddr entwickelt hat, weiterzuführen?
Kolbe: Verpflichtet einer Literaturauffassung – das wäre fatal. Das ist Sache von Wissenschaftlern oder Privatkram. Einer Tradition sich bewußt zu sein – das ist was anderes. Allerdings ist es für mich eine ältere – worin es anderen DDR-Autoren ähnlich geht -, eine, in der u.a. die Sprache der Griechen-Übersetzungen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts steht: Voß, Hölderlin, Klopstock; es kommen wohl auch ein paar Expressionisten darin vor; Heine, Brecht, Biermann sind zuweilen freiwillig eingemischt…
Es stimmt, daß ich nicht zu den Sprach-Mischern und -Beugern gehöre, wenn ich dem Duden auch nur mäßig treu bin. Ich find nur, daß Papenfuß’ Texte (da Du ihn nennst) weit aus den vielen Versuchen in barocker, dadaistischer, Pop- usf. -Traditionspflege herausragen. Seine Art Alchemie ist weit eigenständiger als, was mir sonst davon bekannt ist. Die Rede ist vom Territorium, auf dem wir leben, das vorausgesetzt.
Hesse: sind deine gedichte auch als bekenntnisse zu verstehen? und ist dieses andauernde ich, das ich nicht vordergründig als lyrisches erkennen will, unverzichtbar? bedeutet das deine unbedingte identifikation mit dem anderen? welche chance der wandlung gibst du dem ich deiner texte?
Kolbe: Das Ich der Gedichte ist – seitdem er artistisch schreibt – keinesfalls identisch mit dem Verfasser. Er kann auch nicht darauf verzichten. Das Ich ist ein Vehikel, überhaupt mit dem Sprechen beginnen zu können: es spricht eben – und nicht darauf zu verzichten (habs probiert). Und als Verfasser gebe ich ihm alle Chancen: in jedem Gedicht ist es ein anderes; jeder Text erfordert ein eigenes Ich, stellt es sich her (der Verfasser stellt es her, dann ist es textimmanent und selbständig). Es wandelt sich mit der Kunstfertigkeit des Autors – die Möglichkeiten wachsen, wenn alles gut geht; sonst gibts eine Schar zwillingshafter Schatten.
Dieses Gespräch wurde im Januar 1986 geführt.
Erschienen in: Egmont Hesse (Hrsg.): Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR, S. Fischer Verlag, 1988.
Biographisches
Brief in gestriger Sprache:
„Der Stafettenstab, den sie von den älteren Genossen übernahmen, wird dabei nicht mit pseudo-avantgardistischer Pose beiseite geworfen, sondern fest, wie eine Fahne, in der Hand gehalten.“1
Ursprünglich waren Uwe Kolbes Eltern Binnenschiffer. So wurde er mitten und doch nicht inmitten Deutschlands gezeugt – auf der Elbe. Geboren wurde er 1957 in Berlin-Mitte. Nach dem Schulabschluß mit Abitur leistete er seinen Grundwehrdienst ab. Er ist Vater eines Kindes.
Er jobbte in verschiedenen Berufen: Theatermaler, Transportarbeiter, Lagerverwalter, Sachbearbeiter. Seit 1979 arbeitet er als freischaffender Schriftsteller. Literarische Vorbilder sah er in George, Pessoa, Rilke, Trakl, Benn, Whitman.
Gemeinsam mi Matthies und Papenfuß gestaltete er Lesungen. Die Zeichnungen in seinem in der DDR erschienenen Buch Hineingeboren fertigte der Maler Trakia Wendisch, mit dem Kolbe befreundet ist.
Die Lesungen in verschiedenen Wohnungen wurden von Ekkehard Maaß musikalisch begleitet.
Mit Papenfuß, Rathenow und anderen gab Kolbe „Untergrund“-Literatur heraus wie Mikado, Typoskripte oder Poesiealbum. Dabei arbeitete er mit dem Übersetzer M. August zusammen. Gedichte der Jugoslawen Simon Simonović (Rosa) und Rasa Livada (Das Fegefeuer) wurden übersetzt und nachgedichtet. Zeitweilig benutzte Kolbe das Pseudonym Werner Merkert. Franz Fühmann hatte für Uwe Kolbe die Patenschaft übernommen. Durch seine Fürsprache gelang auch die erste Veröffentlichung 1976 in Sinn und Form.
Fühmann war auch dabei, als Kolbe 1982 in der Autorenbuchhandlung in Westberlin lesen durfte.
Als Uwe Kolbe aus dem Publikum heraus gefragt wurde, weshalb er plötzlich hier auftreten durfte und andere nicht, sprach er vom „Zufallsgenerator“ in den Ämtern, von den Behörden, die er mit dem Begriff „Black Box“ umschrieb. Ganz so zufällig war es dann in seinem Fall doch nicht. Fühmann war ein sicherer Garant für „ordnungsgemäßes“ Verhalten seines Schützlings. Und Kolbes Vater arbeitet als Mitarbeiter (Offizier) in der Kulturkommission des Staatssicherheitsdienstes.
Völlig richtig nutzt Kolbe diese Gelegenheiten als Mittel zum Zweck.
Im Januar 1987 erhält Uwe Kolbe als Ost-Berliner in Zusammenhang mit der Vergabe des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg (15.000 DM) an Peter Härtling den Förderpreis dieser Stadt (5.000 DM).
Wir lachen sie kaputt
„Berliner Kopie“
Heute ist dieser Dienstag vor der Lesung in irgendeiner Kneipe da weit draußen, fast vor der Stadt, aber immer noch schöner. Ich setze mich endlich wieder mal für ein Berliner Gedicht hin, wenn auch in dieser Form, die aber nur fremd erscheint, weil nicht jeder so ein gelbes Bändchen von Ted Berrigans Gedichten besitzt, das er in einer Seitentasche seiner Jacke tragen könnte, bis die gelbe Farbe ganz runter ist… (Uwe Kolbe, 29.4.1980)
Weiterführend wird mit diesem Text vom Schriftsteller ein Blick auf seine Motivation zu schreiben festgehalten. Gleich zu Beginn wird darauf verwiesen, daß er ein Berliner- und Großstadt-Dichter ist. Und es wird auch aus den ersten Zeilen erkenntlich, daß völlige Sicherheit für seine Art der poetischen Gestaltung noch nicht gefunden wurde. Für die „fremde Form“ entschuldigt sich Kolbe beim Leser. Literatur von Berrigan ist in der DDR nicht erhältlich.
Das folgende Gedicht widmete Uwe Kolbe dem Aktionskünstler Stefan Kayser. Es entstammt dessen Privatbesitz (s. Anhang):
FRÜHLINGSANFANG
Irgendwas fällt uns schon ein
Irgendein Anblick verschiebt
Die formalen Bedingungen
Zu dem Bedeutenden hin
Was macht was aus,
Ein wenig Schmelze,
Unklarheiten und Übertrag.
Wir halten Lieder bereit
– naja, Lügen.
Das Interessante an diesem Gedicht sind die unterschiedlichen Ebenen. Einmal kann es ohne Schwierigkeiten als „Jahreszeitenlyrik“ verstanden werden. Werden die Begriffe „formal/Übertrag/Lügen“ herausgehoben, läßt sich ein politischer Inhalt assoziieren. So könnte damit die Arbeitsweise bestimmter Institutionen charakterisiert werden.
Doch eigentlich, um dieses kleine Gedicht nicht völlig zu entstellen, ist es eben für einen Aktionskünstler gedacht.
Wer einmal Besucher einer Performance war, sich das Vorgehen der Beteiligten deshalb in Erinnerung rufen kann, wird das genaue Erfassen dieser Situation in Kolbes Text würdigen können. Nicht zuletzt ist hiermit eine weitere Bestätigung für Kolbes Zusammenarbeit mit anderen Künstlern gegeben.
MANIFESTER BEITRAG
Wahrlich, ich sage euch:
Nicht Angst ist, was das Zögern bedingt
Beim Hinbau der Zukunft, nicht Angst.
Blödigkeit ist’s
Sich schlängelnder Revolutionäre
Vorm Agrarladen in der Liebknechtstraße zu Berlin.
Wahrlich, ich sage euch:
Nicht Angst vor Krieg ist’s
Die hemmt diese Mäuler im Abhusten
Der schleimigen Brocken aus dem Schlund.
Lust am ledernen Sessel im Büro,
Darin der Genosse morgen schon thronen könnte, die ist’s.
Wahrlich, ich sage euch:
Nicht Angst vor dem belfernden Gegenüber
Jenseits der Mauer verhindert die Freiheit
Dieser sogenannten Presse. Sagt, welche Genitalien
Wären dem noch zu zeigen? Feigheit ist es vor dem wahren
Stand der Alkoholsäule im Fieberthermometer
Des deutschen Kommunismus.
Wahrlich, ich frage euch:
Versteht man Brecht wirklich,
Den man nach dem Tod so genüßlich ausgestopft?
„Freunde, ein kräftiges Eingeständnis
Und ein kräftiges WENN NICHT!“
Wahrlich, ich sage euch:
Die Beschwörung jener großen Lehrer,
Deren Traum vorgeblich wahr sei hier,
ist Götzendienst vor leeren Hüllen. Oder hieß wohl
Ruhe und Ordnung deren Ideal?
Wahrlich, ich sage euch:
Kontrolliert, die euch kontrollieren.
Verzichtet auf die Bestätigung eurer Wahl
Durch irgendeine Leitung.
Glaubt euch selbst.
Die „Fragen eines lesenden-“ haben sich zum „Sagen eines schreibenden Arbeiters verändert“. Der Inhalt des „Manifestes“ dürfte ohne weitere Erläuterungen verständlich sein. Wer diesen Text laut liest, wird dabei unwillkürlich in den Tonfall einer Predigt, des Anrufens der Mächte, der Götter, geraten.
Diese Schreibtradition reicht über viele weitere Stationen vom Kommunistischen Manifest über Brecht bis zu den Plastic People, einer oppositionellen Band aus der ČSSR. (Die Mitglieder sind seit Jahren inhaftiert.) Auch zum Gedicht „Les Art des Zirkus“ von Bert Papenfuß lassen sich Parallelen ziehen.
Das Pathos, mit dem „Große“ ihre Meinungen vortragen, um ihre „weltweiten“ Ideale auf diese Weise besonders zur Wirkung kommen zu lassen, wird hier umgekehrt, um das Hohle, die Lächerlichkeit der Phrasen und ihrer Anwender deutlich zu machen. Dieser „Aufruf“ ist nicht aus der Position des Hasses, der überheblichen Verachtung geschrieben worden, sonst würde es am Schluß nicht heißen:
Glaubt euch selbst
Uwe Kolbe ist neben jedem anderen Anspruch vor allem ein Berliner Autor. Nachfolgend ein kleiner Text, bei dem neben immanenter, liebevoller Schönheit der Augenblicksschilderung das Berlinbezogene deutlich wird: 2
MEINE EINZIGE LIEBE
Heiligabend neunzehnachtundsiebzig
Einundzwanzig Uhr,
Führte sie in der Lychener Straße,
Berlin, ihren Foxterrier aus. Nur
Als ich direkt neben ihr ging,
Unterbrach sie den leisen Gesang.
Gute Lyrik erfordert, dem Leser Gelegenheit zu bieten, in die poetische Gestalt eines Textes eingehen zu können. Das ist bei Uwe Kolbe möglich. Er verstärkt diesen Moment noch durch die häufige Anwendung von Widmungen. Die sind manchmal berühmten Künstlern zugeeignet, wie Bobrowski, Karl Mickel, Fernando Pessoa, Pirosmanaschwili, Uta Mauersberger oder Wolfgang Borchert. Aber auch seine Freunde werden ehrend bedacht: Sylvia K., Margit und Trakia Wendisch, B. K. oder Gaby S.
Das Herausgehen aus dem Selbst befolgt Kolbe mit seinen Texten und seinem Leben im Sinne Bechers:
Eine Verteidigung der Poesie kann nicht aus einer ,verinnerlichten‘ Position heraus erfolgen. In solch einer ,Igelstellung‘ wird das Poetische wehrlos überrannt. Eine Verteidigung der Poesie kann nur außerhalb des Poetischen selbst erfolgreich durchgeführt werden: man muß aus seiner Haut fahren, um sich seiner Haut zu erwehren. 3
Daß sich Kolbe seiner Haut zu wehren weiß, hatte auch Fühmann erkannt, indem er meinte:
Aus einem Alltag, der Epigonales züchtet und hätschelt, ragen diese Gedichte so heftig, daß man sich ihnen stellen soll.4
Wie Kolbe selbst seine Stellung innerhalb der Umwelt der Gemeinschaft sieht, hat er verschiedentlich in Gesprächen mit Freunden formuliert. Er bewegt sich (seine Texte) in einer Grammatik, die Metasprache zitiert. Darunter ist die Sprache der Sprachregelung, die Kollektivlüge der herrschenden Sprache zu verstehen. Die durchlaufenen (als überholt angesehenen) Grammatiken sind keine eigenständigen Grammatiken. Da sie der Metasprache nur widersprechen, stellen sie lediglich das Negativbild der Metasprache dar. So werden von Kolbe Versatzstücke zitiert, um zu sehen, wie diese in der veränderten Grammatik seines Denkens reagieren. Er bemüht sich, das autonom und unbeeinflußt auszusprechen (bei gleichzeitigem Wunsch, etwas zu begreifen), was den Dingen den Namen wiedergibt. Er will diesen Namen „wiederfinden“5
Und er ist sich bewußt, in einer noch andauernden Krise zu stecken. Die Erziehung innerhalb der Weltanschauung, mit der er sich jetzt auseinanderzusetzen hat, geschah auf Krücken. Wo die Welt ganz klar in Gut und Böse (z.B. Ost/West) eingeteilt ist, fällt eine anders gerichtete Orientierung unheimlich schwer. Und der erste nächstliegende Schritt aus dieser Ordnung heraus ist der zu sich selbst. Dazu gehört, daß die sprachlichen Angebote nicht mehr angenommen werden. Daß man sich als einer versteht, der auf der Grundlage einer bestimmten Weltanschauung, deren Prämissen in der DDR ständig verletzt werden, nicht mehr beharrt. Die dabei berufenen Ziele eines „Himmelreiches auf Erden“ müssen zugunsten eines wiederzuentdeckenden Selbstbewußtseins außer acht gelassen werden. Der Einzelne muß wieder damit beginnen, Verantwortung zu tragen.
Ich bin nur einer der Boten, der mit dem Schellenbaum der Gedichte kommt,
laßt uns lästern, die Prediger des Wassers
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWir lachen sie kaputt6
Michael Meinicke, aus Michael Meinicke: „Junge Autoren“ in der DDR 1975–1980, drei-Eck-Verlag, 1986
– Franz Fühmann und Uwe Kolbe. –
Bereits als Schüler eine öffentliche Lesung und Teilnehmer des Schweriner Poetenseminars der FDJ, mit Anfang Zwanzig der erste Gedichtband in einem der renommiertesten Verlage des Landes, Sonderkurs am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher, der Antrag auf Mitgliedschaft im Schriftstellerverband der DDR wird ausgerechnet von Hermann Kant gegen den Widerstand seiner Genossen befürwortet, wenig später dann die erste Lesereise gen Westen… Wird hier wirklich von Uwe Kolbe gesprochen? Dies klingt eher nach linientreuem Senkrechtstarter als nach literarischem Untergrund – wären da nicht auch (ein Lieblingswort Fühmanns) Verfolgungen, Verbote, Verhaftungen, doch davon wird in diesem Band noch zur Genüge die Rede sein. Hier nur der Hinweis, dass sich die Staatssicherheit bereits für den Abiturienten Uwe Kolbe interessierte und schon die ersten Veröffentlichungsbemühungen (fast wäre dies ausgerechnet in der Jungen Welt passiert) ,operativ‘ begleitete. Am 28.9.1981 wird schließlich die „operative Personenkontrolle“, am 28.1.1983 der „operative Vorgang ,Poet‘“ eröffnet. Die Begründung:
K. ist seit 1976 wiederholt politisch negativ in Erscheinung getreten. Er hat starke Vorbehalte gegenüber der Kulturpolitik und lehnt die führende Rolle der Arbeiterklasse und der SED in der DDR ab. Sein Umgangskreis setzt sich überwiegend aus negativ-feindlichen Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur zusammen.
Im Jahr 1976 wurde gegen eine solche ,Person‘ der „OV ,Filou‘ eröffnet; wie man darauf kam, Franz Fühmann als ,Filou‘ zu führen (da war ,Poet‘ erstaunlich positiver konnotiert), ist leider nicht nachzuweisen; die Sprachetymologen verweisen auf die Herkunft aus dem Französischen, wo es soviel wie ,Spinner, der etwas anzettelt‘ bedeutet.
Im Sinne von ,Anstiften‘ gelang Fühmann zunächst einiges: Sinn und Form, die Zeitschrift der Akademie der Künste der DDR, veröffentlichte auf sein Drängen zweimal Gedichte Uwe Kolbes, der zu jenem Zeitpunkt weder eine Publikation vorzuweisen hatte, geschweige denn dem Hohen Hause angehörte (wem gelänge solches heute). Auch ndl – die neue deutsche literatur, herausgegeben vom Schriftstellerverband der DDR, dessen Mitglied Uwe Kolbe ebenfalls nicht war – druckte Gedichte. Und schließlich und vor allem bringt der Aufbau-Verlag den ersten Gedichtband heraus, das Nachwort schrieb Franz Fühmann: Hineingeboren. Gedichte 1975–1979 (Berlin 1980). Dass das Titelgedicht ebenfalls in jenem Jahr 1976 entstanden war, ist eine wundersame Dreizahl und ruft die für beide Dichter poetologisch immer wieder aufgerufenen „Märchen“ auf, freilich jene, in denen die Helden an den Strängen „ziehn“ bzw. „zerrn“ – oder eben nicht, und mit welcherart Resultat auch immer.
Uwe Kolbe begann mit dem Schreiben
so mit vierzehn, fünfzehn […] im pubertären Aufschrei gegen alle: das war der Aufstand gegen die Eltern, gegen die Schule und gegen die Welt an sich. […] Das Kuriose war, daß ich durch diese Gedichte, die dann irgendwie durch die Schule geisterten, plötzlich Freunde gewann. Ich traf auf Leser, die gesagt haben „Mensch, fand ich aber toll, was du da geschrieben hast“ oder „Sehe ich auch so“. Diese ganz einfachen Reaktionen, das klingt vielleicht ein bißchen albern, aber ich glaube, die sind eine positive Grunderfahrung. Es war also nicht so, daß ich selber die Initiative ergriffen habe und sagte: „Hier, ich hab was, ich will was, ich bin der größte Dichter aller Zeiten“, sondern es ging anders herum, mir haben Leute gesagt, daß das was für sie ist.
Im Berliner Haus der jungen Talente hat der „sechzehn-, siebzehnjährige Schüler, der ganz sicher ein Blumenkind war, seine erste Lesung, „daß da Franz Fühmann kam, den ich sehr verehrte, das hat mich sehr begeistert. Frank-Wolf Matthies hatte ihm meine Gedichte gegeben.“ Über diese erste Begegnung „Im Club“ schrieb der Jungdichter ein gleichnamiges Gedicht, es entwickelt sich ein Briefwechsel. Rund achtzig Briefe von und an Uwe Kolbe sind im Fühmann-Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt, ca. fünfzig frühe Gedichte sind so überliefert. Von Vornherein geht es um Publikationsmöglichkeiten, bereits im Oktober 1975 gibt es ein Gespräch im Aufbau-Verlag, ein Jahr später erscheint Fühmanns Essay „Schneewittchen: Ein paar Gedanken zu zwei jungen Dichtern“ in Sinn und Form, in dem Uwe Kolbe und Frank-Wolf Matthies auch mit eigenen Gedichten vorgestellt werden. Fühmann beschreibt hier nichts Geringeres als einen Generationskonflikt, was nun zwar nichts Neues unter der Sonne ist, unter ,realsozialistischen‘ Zuständen aber eben doch unter speziellen, ja heiklen Bedingungen stand. An die Barrikadenmentalität jener Altvorderen, die an den (kultur)politischen Hebeln saßen, war wohl Fühmanns Liste standardisierter Vorwürfe adressiert – „Undankbarkeit“, „Überheblichkeit“ und „falsches Bewusstsein“:
Wir wollen unsere Jugend besser als uns und verstehen schlecht, daß dies Besser-Sein ein Anders-Sein fordert.
Doch zunächst unterbricht die Wehrpflicht den hoffnungsvollen Anfang, Fühmann mahnt:
Nun sind Sie drin. […] Machen Sie keine Dummheiten. Stehn Sie’s durch, Uwe. […] Diese Zeit ist ein Durchgang, und Sie müssen vor allem unbeschädigt durch – soll immer heißen: nicht absolut um jeden Preis, wohl aber um einen bezahlbaren.
Uwe Kolbe versucht zu verweigern, man zeigt ihm die Instrumente, er tritt den ,Ehrendienst‘ an, schreibt, debattiert, die Stasi schreibt mit, der Militärstaatsanwalt schaltet sich ein… Fühmann sucht unterdessen weiter nach Publikationsmöglichkeiten:
Wir müssen doch jetzt eigentlich genug für ein Bändchen haben, bloß wo? Aufbau ist ganz beschissen, Hinstorff macht prinzipiell keine Lyrik, würde jetzt auch beschissen, Union nur christlich sanft, EVA dergleichen, mitteldeutsch nö, Reclam wäre das einzige, aber der darf bei ganz Jungen auch nicht allzuviel, die sollen in irgendeine gute Zucht. […] Ich mache mir mal Gedanken.
Zwei Jahre später ist es dann so weit: Bei – nun doch: – Aufbau erscheint der Gedichtband Hineingeboren; versehen mit einem Nach-, besser: Geleitwort Franz Fühmanns:
Ecce poeta – siehe, da ist ein Dichter! […] jobbt dies und das; liest George, Pessoa und Rilke; schaut aus wie Hans im Glück, da der den Goldklumpen schleppt. Zweiundzwanzig Jahre; Asphalt und Pappeln, und hinterm Leuchten der Kindheit jener Alltag, den er skizziert hat, als er achtzehn war.
Wieder thematisiert Fühmann die Differenz der Erfahrung, „jede Generation hat ihr Kreuz zu bewältigen“. Was heute so lapidar daherkommt, war einst starker Tobak, und der Autor setzt noch eins drauf: Indem er Nietzsche in die eigene faschistische Vergangenheit setzt, kann er den in der DDR Ungedruckten im Nachwortkassiber einschmuggeln – und mit welch Zitat:
Staat heißt das kälteste aller Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk.“
Längst ist das Titelgedicht von Kolbes Debütband zum gängigen Synonym für eine ganze Generation geworden, für jene, die qua Geburt und ohne Entscheidungsmöglichkeit DDR-Bürger zu sein hatten. Nachkrieg.
HINEINGEBOREN
Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter
Sonnenbaum am Horizont.
Der Wind ist mein
und mein die Vögel.
Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.
Streng antithetisch gebaut, verleitet es zu schneller, wohlfeiler Lesart: falsch / richtig, naiv / erkennend, utopiegläubig / resignativ usw. usf. Zunächst einmal aber rufen die Strophen eine Jedermannserfahrung auf – man besucht die Kindheitsstätten und wundert sich ob der Enge oder gar Schäbigkeit: Hier kann doch niemand Dreirad fahren, der Weg zum Park ist gar keine Tagestour, unterm riesigen Hoftor musst du dich bücken und seit wann ist diese Mauer eigentlich einsturzgefährdet… Und sogar ,die Mauer‘ war tatsächlich ein ,natürlicher‘ Erfahrungsbereich der Kindheit – „Ich mochte sie. Ich fand sie schön. Daß ich sie hätte überqueren können, gehörte nicht dazu“. Man spielte da Fußball:
Das poetische Grundmaterial dieser Gedichte, die darin eingeschriebene Landschaft ist ein kindlich und unreflektiert aufgesogenes Nachkriegsberlin.
Selbstverständlich hat das Gedicht aber auch mit einem veränderten ,Sehen‘ der anfangs apostrophierten Art zu tun, der Sonnenbaum der Kindheit schwärzt sich aber nicht nur aus ideologischen Gründen. Die Simultanität des Blicks muss ausgehalten werden, das Präsens des einzigen Verbs dieser ansonsten rein elliptischen Verse ist ein generelles (es heißt eben nicht: „Der Wind war mein“), und noch in der „Stacheldrahtlandschaft“ ist die andere „Ebene“ vorhanden. „Es ist sozusagen möglich“, schlägt Anthonya Visser vor, „den Raum zwischen den beiden Strophen als ,Stand-Punkt‘ zu wählen und abwechselnd auf die eine oder andere Seite zu blicken.“
Solcherart Lesart sieht sich vor allem in zwei Dingen legitimiert: Zum einen sind Ambivalenzen ein gern verwendetes Konstrukt in den Gedichten Uwe Kolbes, man nehme nur seine Berlin-Gedichte, „Berlin Anfang Dezember“ zum Beispiel:
Du kotzt Kinder aus statt zu gebären.
Wo du gehst, ists mit Fremden. Grindiges Tier.
Wie konnt ich dich einmal lieben?
Nach dir lieb ich keine mehr
[…]
Und deine brennt mich
wie sonst keine Kälte.
Zum anderen sprechen Uwe Kolbes Selbstbekenntnisse eine deutliche Sprache:
[I]n diesem Sinne war ich „rot“, waren wir rot. Wir hatten etwas zu tun auf dem Gebiet, das der Realsozialismus für sich in Anspruch nahm. Deshalb nannten wir ihn auch eingrenzend Stalinismus. Wir setzten ihm den dunkelroten oder schwarzroten (und doch so rosaroten, blauäugigen) des „wirklichen“ Sozialismus entgegen.
(Ohne den [Sonnen-]Baum versimpeln zu wollen: Hat man das „[S]chwarzrot“ bemerkt?) – Und selbst die motivische und ikonographische Tradition des Vogels weist der Dichter von sich:
Vögel sind immer auch ein Bild für etwas, für Freiheit, für Liebe, für Sexualität, und sie haben auch eine religiöse Bedeutung. Für mich ist trotzdem das Ganze einfach sinnliche Erfahrung. Der Überbau des Wissens kann immer dazukommen, aber ich gehe nicht von irgendeiner Konstruktion aus, sondern ich lebe.
Auch im dezidiert politischeren Rückblick bleibt er dabei:
Als ein junger Mensch das Gedicht „Hineingeboren“ schrieb, lebte er noch unter dem Terror seines falschen Bewußtseins, das wohl die Antinomien interner Verhältnisse formulierte, nicht jedoch Abstand, nicht genug Erfahrung hatte, um sie in einem weiteren Kontext für auflösbar zu halten
– und selbst jener Pass, der die erste Westreise erlaubte, änderte an dieser Haltung zunächst einmal nichts:
Dieses Ding war gültig zur Ausreise […]. Heute würde ich sagen: Es war das Entlassungspapier aus dem Gefängnis. Damals wußte ich das nicht, hätte es weder so gesehen noch so gesagt […].
Mit jenem „Bändchen“ war es Fühmann wenigstens für einen jener Ungedruckten gelungen, dass er an die literarische Öffentlichkeit kam (auch wenn der Plan, Uwe Kolbe zu einem „Meisterschüler“ der Akademie zu machen, scheiterte), bei Wolfgang Hilbig sollte es noch einen Teilerfolg geben, anderen – wie z.B. Wolfgang Hegewald, bei dem sich zunächst etwas bei Hinstorff anzubahnen schien – blieben trotz aller Fürsprachen die Wege versperrt.
An dieser Stelle mag es angebracht sein, auf etwas hinzuweisen (Äußerungen zu Fühmanns Briefen zum Beispiel zeugen von wenig Verständnis und Verstehen): Wen die – wenigen, gleichwohl vorhandenen – ,staatskonformen‘ Phrasen in den eher ,offiziellen‘ Texten Fühmanns stören sollten, der möge die Diskursbedingungen mitdenken; solcherart Texte hatten die Funktion, Autor (und wohl auch Verlag) durch Nachweis von DDR-Kompatibilität des Buchinhaltes zu schützen, also Publikationsmöglichkeiten zu eröffnen bzw. zu erhalten. Erst recht gilt dies für Briefe an einschlägige Stellen: Galt es, Knast zu verhüten, war Klartext höchst unangebracht. Und es gab Wege – von Franz Fühmann zu Christa Wolf zu Stephan Hermlin – die immerhin zu Haftentlassungen führten:
Es mußte zu Hofe gehen, wer hoffähig war. Und er ging, wie in anderen Fällen. Und alle Betroffenen sollten sich gut erinnern.
Von ganz anderer Sprache waren freilich die privaten Briefe Fühmanns:
Wie es ausschaut, zieht ein böses Jahr herauf, und es ist wahrscheinlich nicht sonderlich sinnvoll, sich mit einem Eisenstab in der Hand auf die Spitze eines Berges zu stellen, wenn ein Gewitter heraufzieht. […] Leute, ist das alles beschissen. Händedruck.
Dieser Brief ahnt das Scheitern eines Projektes, für das sich Fühmann sowohl ideell als auch materiell zäh und ausdauernd eingesetzt hatte: Uwe Kolbe und Sascha Anderson sollten „ein Arbeitsheft der Akademie der Künste der DDR über junge Dichter der DDR“ zusammenstellen, das einen „Überblick über die tatsächliche Breite der – zum Teil noch absolut unbekannten – jungen und jüngsten Dichtergeneration der DDR geben wird“; vom Scheitern jener Anthologie wird in diesem Band noch an anderer Stelle die Rede sein. Hier nur so viel: Bereits 1974 überlegte Fühmann, eine Zeitschrift „auf Ormig mit einer Auflage von etwa 100 Exemplaren“ herauszugeben: „Ich will endlich die Sachen veröffentlichen, die mir keiner druckt.“ Das Konzept Samisdat-Zeitschrift also, das die Generation Uwe Kolbes dann tatsächlich verfolgt:
Er hat UNS, die wir’s nun als neue Generation auf unsere Art doch machten, im Gegensatz zu IHNEN gelobt. Wir seien nicht so feige wie sie, das war der Tenor. Sie hätten sich damals nicht getraut. Abgesehen von „unserer“ ganz anderen Situation, die ihm wohl bewusst war: dass wir nahezu komplett aus dem DDR-Literaturleben ausgeschlossen waren (typisch die Ausnahme: nämlich UK, weil sich für den FF krumm gemacht hatte).
Noch über den Tod hinaus ist deutlich, wie wichtig Fühmann dies gewesen war; auf seinem Grabstein ist zu lesen:
Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens die Wahrheit gewählt haben.
Testamentarisch zieht Fühmann nun auch ,offiziell‘ einen Trennstrich, er verbittet sich die Anwesenheit offizieller Vertreter an seinem Grab (mindestens acht Offiziere der Staatssicherheit werden vor Ort sein) und er bittet Uwe Kolbe um Worte des Geleits. Fühmanns testamentarisches Resümee ist inzwischen vielfach zitiert, es spricht von einem zweifachen Scheitern:
Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.
Erstmalig werden jene Zeilen in Uwe Kolbes „Rede an Franz Fühmanns Grab“ zitiert.
Dieses doppelte Eingeständnis wird Uwe Kolbe in den nächsten Jahren immer wieder umtreiben; zu keinem anderen Dichter gibt es so viele Texte, eine Annäherung als work in progress. War Fühmann doch Mentor im umfassenden Wortsinn, zudem ein selbstgewählter. Vom Beschützer und Vermittler war schon die Rede, ein ,Mentor‘ ist auch Lehrer und Berater:
Jahrelang (es muß heraus): sein Urteil das einzige Sieb vor dem Ausfluß der eigenen Zeilen. Aussichtslos, sich mit Breitgeschriebenem, Vorgedachtem, sich mit Phrasen Lob erschleichen zu wollen. Und das höchste Kompliment, das es gab: Das ist was, Mann! Nicht mehr. Im anderen Fall, als Ärgstes, der Vergleich mit jenem Dichter „Rattengift“ bei Grabbe.
Für Uwe Kolbe war Franz Fühmann darüber hinaus aber auch „einmalig und spektakulär für seine Generation“ in seinem Bekennen, „er, der Wehrmachtssoldat Fühmann, hätte auf Befehl hin auch an den Gaskammern von Auschwitz seinen Dienst versehen so, wie er es eben andernorts ,nur‘ am Maschinengewehr und am Funkgerät getan hätte“. Jedoch war genau jenes Entsetzen auch die Crux Fühmanns – der ,Antifaschismus‘ als offensiv propagierte Staatsdoktrin war eben nicht einfach wegzuwischen. Die DDR verstand es durchaus, sich wenigstens diesbezüglich als der bessere deutsche Staat zu präsentieren. Zugleich aber ließ sich dies als jederzeit verfügbares Totschlagargument gegenüber prinzipieller Kritik generieren (welch Entsetzen wäre über Fühmann gekommen, hätte er nach der Öffnung der Archive erfahren: Noch nicht einmal das!). Uwe Kolbes Mutmaßung, dass Fühmanns Ungarn-Affinität wohl auch aus just jener gekippten Barrikadenmentalität (,dafür oder dagegen‘) resultierte – „wo es wenigstens hieß: Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ –, ist höchst plausibel. Neben der Hoffnung auf eine Reformierbarkeit der DDR, die generationsübergreifend (viel zu) lange „im Weg [lag] wie eine Falle“, gab es auch andere Gründe, im Westen nicht die wirkliche Lebensalternative zu sehen: Für Fühmanns Generation war es wohl vor allem die Reintegration von im Dritten Reich Schuldiggewordenen in der Bundesrepublik (man lese seine Texte aus den fünfziger Jahren, die zwar ideologisch recht eng, nichtsdestotrotz von einem echten Entsetzen geprägt sind), für die Uwe Kolbes waren es der Vietnamkrieg und vor allem der im Osten vermutlich mit viel größerem Entsetzen wahrgenommene Putsch in Chile, wurde doch hier eine demokratisch gewählte sozialistische Regierung gestürzt – „der Westen jedenfalls bot kein Bild der Alternative“.
Christa Wolf sprach immer wieder davon, vor falschen Alternativen zu stehen, hinzu kam, dass sich viele Autoren von „ihrem“ Publikum anders, ja: besser verstanden fühlten, auch das Gebrauchtsein wohl brauchten (so auch z.B. bei Ulrich Plenzdorf oder Klaus Schlesinger nachzulesen):
[D]rüben verstehen sie nur die halbe Oberfläche und glotzen drauf, und je mehr Sensation, umso besser.
Dennoch bestand stets die Frage, weiterhin „an den Strängen [zu] zerren“ oder sie im rechten Augenblick zu kappen; (nicht nur) Fühmann schmerzte es, wenn insbesondere die Kollegen gingen, gleichwohl er verstand, dass sie es mussten:
Ihr müsst reisen und sehen und, ja, auch weggehen, wenns nur so geht, und zwar rechtzeitig, bevor es zu spät ist.
„Zu spät für das eigene Leben“ titelt ein Text zu Fühmann; doch selbst für das eigene vollzog Uwe Kolbe diesen Schritt erst deutlich nach dem eigentlichen „Renegatentermin“, und seine ersten Gedichte im Westen sprechen für den Anfang keineswegs von einem Angekommensein.
Ein doppeltes Scheitern als Fühmanns Lebensresümee: jenem der politischen „Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten“ ist leicht zuzustimmen, dem literarischen Scheitern weniger. In Kolbes Grabrede hieß es noch:
Das literarische verneinen wir einfach, gestehen es nicht zu, von außen her werden wir mit diesem Werk leben wie mit jeglicher Weltliteratur.
Wenige Jahre später fragt er diesem Scheitern noch einmal nach und stellt fest:
Es war sein bestes Buch, das mich enttäuschte: Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht.
Uwe Kolbe listet all jene Momente auf, die dieses Buch als zu Recht zu einem der großartigsten machen; für ihn aber ist der Punkt, der „Limbus des Themas“ Scheitern, jene „Kraftvergeudung, die er sich um seines Werkes willen nicht hätte erlauben dürfen, gerade dies aber, ja, mußte. […] Er erklärt dem Funktionär das Gedicht. Er will, und er will es immer wieder neu und vergeblich, daß der Zensor das Gedicht versteht.“ Fühmann, der „über Auschwitz in die andere Gesellschaftsordnung gekommen“ war, unterlag für Kolbe zwei Tabus: das eine war der Antifaschismus (s.o.):
Das Bonzentheater DDR, sein Wirken in Dein (wie mein) Bewußtes wie Nichtbewußtes hinein, das Hoffnungstheater Sozialismus, das Pappkameradenspektakel, die Gesichter verkommener, verlogener, lebendig abgestorbener, tausendfach zerbrochener sogenannter alter Antifaschisten, die irgendwann achtlos Körper, auf uns aber bezogen Seelen, (Kinderseelen), mordeten weil sie selbst keine mehr hatten, zu überleben auf schäbige Weise, auf die nur überlebt werden konnte in ihrer Welt – sie sind Dein quasi vorgegebenes Thema, das Du verlassen hast, von dem Du weggegangen bist um in Klassizität, in traditionsbewußtem deutschem Bildwerk anzukommen… Aber Du kommst nicht an, noch lange nicht, und auch nicht so.
Dies reicht ebenso ins Schreiben wie das Zweite:
„Es ist dein Land und du hältst es aus.“ Das zweite Tabu, hier tritt es zutage als Fluch, als Verdammungsspruch, aus immer wieder neuen Quellen gespeist, um immer wieder dort zu münden, wie hier nach der Klage Achills, daß er „lieber als Knecht bei Lebenden fronen“ wolle, als im Schattenreich König zu sein: „Die Stagnation; gestocktes Dasein; eine Verwesung, die nichts hervortreibt und nur und nur unablässig sich selbst reproduziert.“
Zur Jahrtausendwende nimmt Uwe Kolbe noch einmal Anlauf, er schreibt zu einer Neuausgabe von Fühmanns Trakl-Essay „Paralipomena“. Noch immer erfüllt ihn eine „nachgetragene Ohnmacht“ über die Verschwendung dieses hochgradigen Talents in „wie auch immer brillante[r] Polemik, die sich am Schwachsinn, an der geistigen Leere ihres Gegenübers immer wieder entzündet – und verschleißt. […] Die Trauer bleibt, und ich ertappe mich wieder bei der Frage, was dieser Mann hätte schreiben können, wenn Gulliver die Stricke durchgerissen hätte…“ Doch nun gehen die Überlegungen weiter: „Aus welcher erhabenen Perspektive aber waren es Zwergenstricke? […] Es gibt ja nur dieses eine Leben und diese eine Möglichkeit zu schreiben. […] Besserwisser, die wir das Zerplatzen des Sozialismus erlebt hatten! Hatte nicht dieser längst die Position erreicht, die ihm zu erreichen möglich war?“ – Vielleicht sollte man noch ,gnadenloser‘ (auch ein Fühmann-Wort) fragen: Wären Fühmanns Texte von solcherart existentieller Schärfe geprägt, wenn er den ,Strängen‘ nicht unlösbar ,verstrickt‘ gewesen wäre? Waren doch jene Stränge längst zum Geweb geworden; wie im „Traum von Moira“ beschrieben:
Söhnchen, siehe das Sigel des Glaubens, man hat es dir zweimal abgetrennt, Söhnchen, doch ein drittes Mal löst es sich nicht mehr! – und da sehe ich die Föten in das Tuch hineinziehen und sehe ahnend an mir hinunter, und sehe rohes, hautloses Fleisch, und Moira murmelt, im Tuch versinkend: Siehe die Gnade!, und sanft legt sich der wallende Stoff um meine geschundenen Füße und kriecht, das schiere blutige Fleisch behäutend, unaufhaltsam an mir über Knöchel, Waden, Schenkel, Glied und Hüften bis zur Brust und weiter zum Kinn hinauf […].
Solcherart Textur ist nur lösbar, wie es Apollon in der Schindung des Marsyas vorführte (eine der grandiosesten Erzählungen Fühmanns).
Zwei Jahrzehnte vor den Texten zu Marsyas und Moira hatte sich Fühmann in einem „Brief an den Minister für Kultur“ gegen einen die Kunst bevormundenden ,Auftrag‘ verabschiedet und das dem Künstler ,am gemäßesten‘ zum alleinigen Maßstab erhoben; die essayistischen Texte der siebziger Jahre werden dies noch entschieden radikaler ausformulieren. In seinem luziden Bilanzbuch Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens bekennt sich Fühmann diesbezüglich zur Benn’schen Formulierung einer „Teilfunktion, die aber versorgen Sie genau“; in unmittelbarer Nachbarschaft sind wohl kaum zufällig vielfältige Marsyas-Verweise zu finden. Nichtsdestotrotz begreift Fühmann gerade darin auch eine gesellschaftliche Funktion, in „eben dem Beitrag, den nur ich leisten könnte“:
Der Schriftsteller soll das Seine finden in dem, was er zur Literatur beiträgt, sein Thema, seine Aussage, seine Erfahrung.
In seinen (keineswegs ,nur‘) „rückwärtsgewandte[n] Bemerkungen über Utopie und Literatur“ formuliert Uwe Kolbe sehr nah:
Meine seither jedenfalls wieder dem Eigentlichen zugeführte Konzentration gilt […] meiner gesellschaftlichen oder im Sprach-Gebiet bestehende ,Teilfunktion‘ eines besonderen Sprechens.
Wahrheit und Wahrhaftigkeit, und ja: auch Pathos, „Funktionäre“ (s.o.) können da nur „kopfschüttelnd“ reagieren: „Ja wenn Sie das alles auch so ernst nehmen!“ – Doch eben „für diesen Ernst steht dieser Schriftsteller, um dieses Ernstes willen wird er bis heute gelesen“, betont Uwe Kolbe in seinem letzten Text zu Franz Fühmann.
Hier ist nicht nur von Fühmann die Rede.
Jürgen Krätzer, aus: Stefan Elit (Hrsg.): „… notwendig und schön zu wissen, auf welchem Boden man geht“, Peter Lang, 2012
Ich lese die alten Texte, als seien es meine oder: wie ich sie heute lese.
Als seien es meine, heißt: Für sie. Für sie mit allem, was ich aufbringen kann.
(So liest man wohl Gedichte, zunächst. So nah es geht.)
Gedichte – und nicht nur sie – erzeugen im Leser Poesie.
(Ich erinnere mich an eine Erkenntnis, die ich früher einmal [1985], veranlaßt vom Lesen in den Gedichten Hans Arps, notiert habe: „Jetzt endlich […] ermesse ich, daß das Lesen nicht weniger aktiv und nicht weniger sozial als das Schreiben ist.“)
Wie ich sie heute lese, im Juli 2011.
Die drei hier zitierten sind aus Uwe Kolbes erstem Buch Hineingeboren (Aufbau Verlag: Berlin, Weimar 1980 [Lizenzausgabe: bei Suhrkamp: Frankfurt/Main 1982]).
Sie lesen zuerst das Original, dann sehen Sie sich meine Version an und nach diesem veränderten Text das Original nochmal, meine ich, und nehmen sich dabei auch der ausgelassenen Verse an.
Was so einer gedacht hat, soll Anteilnahme erfahren.
Wenn man mit dem einmal Gedachten umgeht:
Wer weiß, was es noch gibt. Spendet. Schenkt.
An nirgends sonst zu Erreichendem.
Es gewinnt in dem, der es aufnimmt.
Ob Du das selbst bist, von früher, oder heute, grad gestern…
Oder jemand anders.
S. 67:
BETRACHTUNG ANSPRUCH
Ich lobe diese Akribie.
Ich lobe deine Kunst, zu ziehen
diese Lebenslinien auf Papier
– das feinste.
Ich nehme meinen Kopf
und geb ihn auf,
und gleiten mag er ab.
Ich hebe meinen Kopf zu deinem Irrsinn.
Ich mag dich anschrein,
streich es aus Erinnerung
und Kenntnis.
Setz mich zu euch,
fluche der Sattheit, der Über-
sättigung.
Verelendet die Konsumtion.
Uns bietet sich so ziemlich alles
– ich bin die Farbfilmleiche.
Ich setze Worte um Das Volk,
was kann ich plappern,
spätreif.
Ich leb in Dramen,
ist willkommen jede Lust.
Ich liebe es, die Unschuld
zu verlieren vor dem Spiegel
täglich.
– – –
BETRACHTUNG ANSPRUCH
Ich nehme meinen Kopf
und geb ihn auf,
und gleiten mag er ab.
Ich hebe meinen Kopf
zu deinem Irrsinn.
Ich mag dich anschrein, streich es
aus Erinnerung und Kenntnis.
Setze mich zu euch, fluche
der Sattheit, Übersättigung.
Verelendet die Konsumtion.
Uns bietet sich so ziemlich alles
– ich bin die Farbfilmleiche.
Ich setze Worte um Das Volk,
was kann ich plappern, spätreif.
Lebe in Dramen, liebe es,
die Unschuld zu verlieren
vor dem Spiegel täglich.
S. 82f.:
ZWEITE, ÜBERSCHÜSSIGE
LEGITIMATION
Ich bin aufgehetzt worden
im Verlauf einiger Jahre
meiner eng befristeten Existenz.
Bin aufgestöbert worden
von einer Frau in einem dunklen Zelt,
von einer kleinen Hand in der Schulbank.
Die ersten Wünsche, der erste Begriff
von Unerfüllbarkeit,
brachten mich auf.
Alle Systematik und Rüstung in mir
flimmerte umschauert, rostete
sekundenschnell und brannte durch,
verfiel in Starre und Dunkel.
Ich trauerte, atmete tief, las
und erlauschte uns,
brachte die Schulgenügsamkeit heraus,
vermengt mit Kot und Schleim.
Verkostete Expressionismus, quirlte
formal mein graues Hab
und das Gute durch und um.
Ich band mich fest und zeugte
ein Kind am Rande der Dichtung
– so hart wurde ich, so
begann ich zu reden –
Es pulste Gift durchs Innre mir,
die bürgerliche Dichtung, Trakl,
Benn und Rilke, Whitman und Pessoa,
die stets genannten Schwierigen.
Ich kam zur Stellung Schreibender
zu ebensolchen Irren,
zur Frage des Genies.
Ich wurde aufgehetzt von jedem Atemzug,
von jeder langen Weile, von Blicken
blasser Mädchen hier am Band.
Ich wurde schwatzhaft von dem Vodka
in der Mittagspause, schrieb
die Flüche auf des dicken Herbert
und das Lallen seiner dicken Frau.
Ich bin gehetzt von einer Zeitansage
durch das neue Telefon,
angekratzt von der Verflachung
meiner Sinne und der Bilder drinnen.
Jeder Weg macht mich wirr,
jeder Schritt erinnert mich
an den größten Anspruch bei Braun
und bei mir
Ich bin aufgehetzt worden.
Die Geschwindigkeit nimmt zu.
Ich finde unser Bild nicht mehr scharf.
Wir vervielfachen uns
in der Bewegung, unaufhaltsam,
– für mein Auge,
wenn es kreist und aufschreit.
– – –
ZWEITE, ÜBERSCHÜSSIGE
LEGITIMATION
Ich bin aufgehetzt worden
im Verlauf einiger Jahre
meiner eng befristeten Existenz.
Bin aufgestöbert worden
von einer Frau in einem dunklen Zelt,
von einer kleinen Hand in der Schulbank.
Die ersten Wünsche, der erste Begriff
von Unerfüllbarkeit,
brachten mich auf.
Alle Systematik und Rüstung in mir
flimmerte umschauert, rostete
sekundenschnell, brannte durch,
verfiel in Starre und Dunkel.
Ich trauerte, atmete tief, las
und erlauschte uns…
Die bürgerliche Dichtung, Trakl,
Benn und Rilke, Whitman und Pessoa,
die stets genannten Schwierigen…
Ich wurde aufgehetzt von jedem Atemzug,
von jeder langen Weile, von Blicken
blasser Mädchen hier am Band,
Vodka in der Mittagspause,
schrieb die Flüche auf des dicken Herbert,
Lallen seiner dicken Frau…
Jeder Weg macht mich wirr,
jeder Schritt erinnert mich
an den größten Anspruch bei Braun
und bei mir
Ich bin aufgehetzt worden.
Die Geschwindigkeit nimmt zu.
Ich finde unser Bild nicht mehr scharf.
Wir vervielfachen uns
in der Bewegung, unaufhaltsam,
– für mein Auge, wenn es
kreist und aufschreit.
oder?
in der Bewegung, unaufhaltsam, – für
mein Auge, wenn es kreist und aufschreit.
S. 87:
MORGENGEDICHT
1
Da tauchen die Türme in Stille,
wo nicht die Amsel zwischenruft.
Da ertrage ich Morgenrot trotz
bonbonfarbener Wölkchen.
Da hat mich die Nacht
nie besessen.
Da sind die Linden niedriger Besatz
von grüngrauem Filz, silbrig
abgenutzte Oberfläche,
schimmernd.
Da hallt jeder Schritt wider
zwischen Hals, Straßenpflaster und Kopf.
Belebt den laschen Balg der Stadt
allerlei Getier der frühen Stunde:
Nichtschläfer kommen und Beischläfer gehen,
tauschen Grüße mit wirrem Blick
und wirrem Haar, bald geht
die Frau wieder Flaschen sammeln
und dieser Herr dort, weiter mir nach.
2
Da steigen Morgensüchtige auf
zur Röte, zu den Gipfeln
aufgeschütteter Hügel. Als Ewige
steht die Flamme
im düstern Chaos des Gaswerks
im alten Norden der schönsten Stadt.
– – –
MORGENGEDICHT
Da tauchen die Türme in Stille,
wo nicht die Amsel zwischenruft.
Da ertrage ich Morgenrot trotz
bonbonfarbener Wölkchen.
Da hat mich die Nacht
nie besessen.
………………..
………………..
Nichtschläfer kommen und Beischläfer gehen,
wirren Blicks grüßend, wirren Haars;
die Frau wieder auch geht Flaschen sammeln
und der Herr dort weiter mir nach.
Morgensüchtige steigen
zur Röte auf, zu den Gipfeln
aufgeschütteter Hügel. Als Ewige
flammt die Flamme
im düsteren Gaswerk-Chaos dem alten
Norden der schönsten Stadt.
Beim Abschreiben werde ich darauf aufmerksam, daß aus den ausgelassenen Versen unter anderem auch neue eigenständige Gedichte entstehen könnten, z.B. aus Vers 18 bis 24 in „Zweite, überschüssige Legitimation“:
Verkostete Expressionismus, quirlte
formal mein graues Hab
und das Gute um und um.
Ich band mich fest und zeugte
ein Kind am Rande der Dichtung
– so hart wurde ich, so
begann ich zu reden.
(Wuischke, Juli 2011.)
Motive in Abschiede:
Baum 9, 9, 40, 83
blau 24, 28, 54, 65, 90
Blumen 10, 16, 26, 35
blutig, Blut 22, 35, 57
Gespinst, filigran 40
halb 23, 66, 83
Hand 33, 39
heben 17, 32, 33
Herr, Gott … 10,21, 68
Mauer 9,50
schlick, Schlamm 8
schwarz 7, 56, 58, 59, 74
Teufel 34, 65
Tür, Tor 7, 16, 40, 48
wirr 34
Elke Erb, aus: Stefan Elit (Hrsg.): „… notwendig und schön zu wissen, auf welchem Boden man geht“, Peter Lang, 2012
Lieber Uwe,
man fragt mich, ob ich für dieses Buch ein paar Zeilen über Dich und uns beide schreiben würde. Das tue ich gern, beginnt man doch in meinem Alter allmählich, sich all der vergangenen Zeit zu erinnern, nicht ganz ohne Wehmut, wie ich zugeben will.
Ich beginne mit mir selbst und muss ein wenig ausholen. Im Sommer 1979 ging meine Zeit im Lektorat des Rostocker Hinstorff-Verlages zu Ende. Das Herz des außergewöhnlichen Cheflektors Kurt Batt war zu schwach geworden, um den niederträchtigen Kämpfen jener Jahre noch weiter stand zu halten. Von Batt hatte ich fast alles gelernt, was man in meinem Beruf wissen sollte. Konrad Reich, der Verlagschef, verließ das Haus, eine neue, von Berlin her eingesetzte Leitung kam ins Amt, und das Klima im Verlag an der Kröpeliner Straße veränderte sich deutlich. Bevormundung von außen war zwar auf den ersten Blick kaum stärker zu spüren als zuvor, dennoch verließen eine Reihe von Autoren ihren alten Verlag und auch das kleine Land auf Zeit oder dauerhaft in Richtung verheißungsvoll lockender Bundesrepublik. Auch war ich, der in Berlin ansässig gebliebene Außenlektor, des Fahrens zwischen Haupt- und Hafenstadt müde geworden, der dünne Kaffee aus den dicken Mitropa-Tassen schmeckte mir nicht mehr. Eine an- und aufregende Zeit dort oben an der Ostsee lag hinter mir.
Nach langem Bedenken, dann aber kurz entschlossen, verließ ich an einem Wochenende zwischen Freitagnachmittag und Montagmorgen meinen Rostocker Arbeitsplatz. Ehe alle zuständigen Behörden in Berlin und Rostock, die offiziellen und die inoffiziellen, ihre Köpfe schütteln oder mit ihnen nicken konnten, hatte mir Günter Caspar, der andere große Büchermacher in meinem Berufsleben, einen Platz in seinem Lektorat des Aufbau-Verlages Zeitgenössische deutschsprachige Literatur zugesichert.
Einige mir wichtige Autorenkontakte und vor allem eine freundliche Bekanntschaft mit Franz Fühmann brachte ich mit.
Direkt bei meinem Weggang aus Rostock hatten Fühmann und ich vereinbart, dass ich manchen der weniger talentierten jungen Schreiberinnen und Schreibern, die sich dazumal in beträchtlicher Zahl mit der Bitte um Veröffentlichungshilfe an den hochangesehenen Dichter wandten, im Namen des Aufbau-Verlages freundliche, nicht verletzende Absagebriefe schreiben sollte. Andererseits wollte ich versuchen, für den einen oder anderen der Kontaktsuchenden etwas zu tun.
Obwohl ich während meiner Lektorenzeit gewiss sehr viele Absagebriefe geschrieben habe, der Stapel unaufgefordert eingesandter Manuskripte erreichte manchmal eine beträchtliche Höhe, kann ich mich nicht erinnern, von Franz Fühmann wirklich jemals ein Manuskript erhalten zu haben, auf das ich, wie vereinbart, abschlägig reagierte. Im Gegenteil: Eines Tages kündigte mir Fühmann das Manuskript eines jungen Mannes an, das und den er für bedeutsam hielt. Zwei Tage später fand ich es überraschend in meinem Briefkasten, ohne dass ich Dich, lieber Uwe, den zurückhaltenden Autor, bei der Übergabe des Manuskriptes kennenzulernen Gelegenheit gehabt hatte.
Es war immer meine Angewohnheit, in jedes unbekannte Manuskript aus Neugier sofort einen Blick zu werfen und ein wenig darin zu blättern. Deine erste Gedichtsammlung aber hat mich auf der Stelle fasziniert. Aus den Zeilen kam eine starke, verletzliche Klarheit der Gedanken, Bilder und Empfindungen, wie ich sie bis dahin in Gedichten anderer jüngerer Autoren nicht gesehen hatte. Die Gedichte gingen kritisch mit den Lebensverhältnissen in der DDR um, aber darin erschöpften sie sich wie bei manchem anderen keineswegs. – Ich wollte Dein erstes Manuskript so schnell es ging in ein Buch verwandeln und zeigte es also Günter Caspar. Nachdem auch er es gelesen hatte, er las alle Manuskripte stets sehr schnell und gründlich, beschlossen wir dessen Veröffentlichung in unserer Debüt-Reihe Edition Neue Texte.
Du warst damals 22, ich war 38, verheiratet und hatte zwei Kinder, Günter Caspar war 55. Der kulturpolitische Eklat um das Wiedereinreiseverbot für den Liedermacher Wolf Biermann lag drei Jahre zurück. Biermann war einst unter Bezug auf eine aus seiner Kindheit herrührende familiäre Verbundenheit mit Margot Honecker aus Hamburg in die DDR gekommen, er war hier als Privilegierter gefördert worden, was seine von ihm zunächst erwünschte berufliche Zukunft betraf, und musste nun nach unsachlich vorgetragener Kritik an der ängstlich und borniert reagierenden Parteiführung im anderen Deutschland bleiben, dort, wo er einst hergekommen war. Dieser Vorgang und die mannigfachen Proteste gegen ihn bildeten möglicherweise zumindest den kulturpolitischen Anfang vom späteren Ende der DDR. Die Wogen hatten sich, als wir Dein Manuskript lasen, noch längst nicht geglättet, und sie würden sich auch in der Folgezeit nicht mehr glätten.
Gewiss erinnerst Du Dich, dass der Titel Deines ersten Buches einem Vorschlag von Günter Caspar entsprang. Der hatte das titelgebende Gedicht herausgesucht:
HINEINGEBOREN
Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter
Sonnenbaum am Horizont
Der ist mein
Und mein die Vögel.
Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.
Vielleicht hoffte die SED-Führung auf hymnischere Lyrik und unkritischere Manuskripte als das, welches Du vorgelegt hattest, lieber Uwe. Doch von uns im damaligen Aufbau-Verlag kamen solche Manuskripte nicht. Irgendwo habe ich gelesen, Du habest Dich dazumal nicht als Jubelpoet missbrauchen lassen wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Wort in dem hier gemeinten politischen Sinne von Dir selbst stammt. Es kommt ganz sicher, wie so vieles, aus dem raunenden Umfeld jener tendenziellen Alles-Besser-Wisser, die uns heute erklären wollen, wie wir damals gelebt und was wir gedacht haben. Im Aufbau-Verlag jedenfalls hat Dich niemand zu einem Jubelpoeten machen wollen.
Hineingeboren, das hieß damals: Hier schreibt einer, der hat Krieg und Kriegsende nicht bewusst miterlebt, für den hat der Satz „Hauptsache, keine Bomben und keinen Hunger mehr“ kaum noch eine existentielle Bedeutung. Du nahmst den als sozialistisch bezeichneten Gesellschaftsversuch in der DDR in seiner ganzen Zwiespältigkeit als das, was er damals, Ende der siebziger Jahre, für jeden sichtbar war. Weder die unzureichenden materiellen, noch die ideellen Bedingungen für dieses Projekt in einer rauen, von schlimmer Vergangenheit und missgünstiger Nachbarschaft geprägten Weltlagen für Dich und Deine Generation in der Waagschale, und eine Angst machende Zukunft jener Art, wie sie inzwischen überdeutlich vor uns liegt, war damals noch kaum vorstellbar.
Du merkst: Auch ich lebe noch immer mit Rissen. Und es wäre ja möglich, dass es auch Dir nicht anders geht. Aber weil ich, der deutlich Ältere und deshalb auf andere Art Hineingeborene, diesen Traum von der besseren Welt einst heftiger geträumt hatte, ist er auch heute noch stärker in mir, als er in Dir war und vielleicht in Spuren noch ist. Meine Traurigkeit über die Gegenwart, über das, wie es nun einmal gekommen ist, mag heftiger sein als die Deine. Ich vermag mir jetzt keinen Weg mehr vorzustellen hinaus ins Offene, Freund! Ich denke, Traum, Widerspruch und Traurigkeit sind im umfassenderen Sinn gerade für Dich notwendig, den hoffentlich immer noch wirklichen Dichter. Dichtung benötigt Zynismus und Überheblichkeit nicht (wenn wir uns darin einig sind, dass Heinrich Heines wunderbare Ironie nichts anderes als Traum und Traurigkeit zu Ursachen hat).
Wir baten Franz Fühmann um ein unterstützendes Nachwort. Das schrieb er, und „Ecce poeta!“ bildete dessen wichtigsten Satz. Du warst damals der Holder, von dem Fühmann schrieb:
Er schaut ja auch nur aus wie der Hans im Glück, und wir wollen ihm heute wünschen, dass er seinen Goldklumpen nie wegtauscht.
Du warst ein empfindsamer, bescheidener, kluger, selbstbewusster, schöner junger Dichter. Viele haben Deine Gedichte geliebt. Sie waren gemischt aus Kritik am Umgang der Leute miteinander und knappen, eindrucksvollen, nicht als Idylle beschriebenen Naturbildern. Und mittendrin immer Du selbst.
Du wohntest damals am weltberühmten, von der Stasi, von Westjournalisten und anderen Emissären durchsetzten Prenzlauer Bergchen. Dorthin zog es mich nie. Ich fand, den bei Rotwein und Kerzenschimmer ausgedachten gesellschaftskritischen Vorschlägen fehlte immer ein Bezug zur widersprüchlichen Realität unseres damaligen Lebens als Ganzes. Und eine Nacht im Polizeigewahrsam, aus welchen Gründen auch immer, und regelmäßige Friedensgebete, „Schwerter zu Pflugscharen“ im kleinen Kreis der evangelischen Kirche, waren nicht unsere ganze Realität jener Jahre. Zu ihrer Ehre trägt die ehemalige Nationale Volksarmee der DDR keine Verantwortung für irgendein Kundus in früheren Zeiten. Ich finde auch, dass unser aller historisches Wissen, wo immer wir es uns angeeignet haben, gemeinsam mit allem, was wir erlebt haben, dazu ausreichen sollte, in dem heute immer beliebter werdenden Satz von den zwei Diktaturen nichts anderes als eine leichtfertige und für unsere demokratische Existenz außerordentlich gefährliche Verharmlosung der Nazizeit zu sehen.
Ich erinnere mich, Dir irgendwann vorgeschlagen zu haben, und das war nicht als Scherz gemeint, zum Kontrast doch einmal für eine Woche in eine Kreisleitung der SED zu gehen (Grusel, Grusel) und nachzusehen, womit sich zu beschäftigen die dort gezwungen waren. Das war ein durchaus möglicher, sicher aber allzu kecker Vorschlag, aber Dein Kollege Landolf Scherzer hat genau das getan. Er war auf anderer Art dran am Leben, und wenn er heute auf eher unbeliebte Art über die Gäste einer Suppenküche in der blühenden Landschaft Thüringen schreibt, ist er es noch immer.
Einmal hast Du versucht, unser Ländlein auf Feldwegen zu durchwandern. So etwas geht heute sehr gut, wo jedes Dorf seinen asphaltierten Radweg für körperbewusste Touristen hat. Damals landetest Du zwischen all den Riesenäckern direkt auf einem Kasernengelände der Roten Armee. Es war nicht ganz einfach, Dich, den vermeintlichen Spion, von dort wieder wegzuholen.
Ein Jahr nach Hineingeboren erschien Dein zweites Buch bei uns: Abschiede und andere Liebesgedichte, ausgestattet mit Illustrationen Deines Freundes Trakia Wendisch. Aus dieser Gedichtsammlung über die Liebe, über Deine Art zu lieben, leiten sich alle Deine Beziehungen zu Freunden, Feinden, Menschen ab.
Du warst lediglich um ein Jahr älter geworden, aber die Gedichte, die Du vorstelltest, hatten sich stärker verändert. Der Kreis Leben, den jedes der Gedichte umschrieb, war größer geworden.
Für diese Sammlung hast Du selbst ein Nachwort geschrieben. Es ist ein Brief an den anderen Dichter, dessen erstes Buch Der Wind ist auch ein Haus seine Existenz ebenfalls der einstmaligen Abmachung zwischen Franz Fühmann und mir verdankt: Lothar Walsdorf. Aus diesem Brief will ich ein paar Sätze zitieren:
Seit er denkt, setzt der Mensch seinem Da-Sein Zwecke. Er sucht den Sinn jeglichen Seins, seinen Platz. Er filosofiert also, dichtet, übt sich in der Kunst. Er schafft den Mehrwert und strebt gleich darauf nach einer imaginären Vollkommenheit […] Schwer fällt das Pathos (ich gestehe, dass mir seine ständige Wiedergewinnung notwendig ist) im Ansehen moderner Großindustrie, deren Aufbau wir viel, zugleich aber die ungeheure Möglichkeit planetarischen Selbstmords verdanken. Eine bittere Ahnung von Lächerlichkeit erfahre ich bei der Beschwörung von Maximen, die – mir zumindest – in der Schule selbstverständlich und kaum bezweifelbar schienen, zum Beispiel in jenen Satz vom Übergang der menschlichen Gesellschaft aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, oder dort, wo – sinngemäß – die sozialistische Revolution die Kinderschuhe der Menschheit endgültig abstreift.
Es wäre gelogen, wenn ich behauptete, über diese Sätze habe es keinerlei Diskussion gegeben. Ich zumindest hätte gern in aller Offenheit über das „Reich der Freiheit“ diskutiert, was für mich weder ein Orwell’sches 1984 noch eine Bundesrepublik 2012 meint.
Ein paar Sätze noch zu Lothar Walsdorf, dessen Leben schon zu Ende gegangen ist, ich kenne die Gründe nicht. Weißt Du noch (eine typische Altersfrage), wie wir ihn, nachdem ihm eine Neubauwohnung in Cottbus verschafft worden war, dorthin zu bringen versuchten? Wir fuhren zu dritt in meinem Trabbi, Du solltest als sein Generations- und Dichtergenosse Deinen beruhigenden Einfluss geltend machen. Zwar gefiel es ihm dort im Lande der Sorben schon irgendwie, er war ja aus Bautzen gekommen, aber ich glaube, er war mit dem Zug schon früher wieder in Berlin als wir mit dem Auto. Später habe ich bei dem berühmten Professor Prokop in der Charité einen Test zu einer von Walsdorf selbst angezweifelten Vaterschaft besorgt. Kurz bevor er dem Fachmann unter die Augen trat, gab er mir gegenüber kleinlaut zu, doch der Vater des Kindes zu sein. Viele Monate lang hat dann der Aufbau-Verlag Lothar Walsdorfs Alimente als eine Art Stipendium per Dauerauftrag bezahlt.
Dann vergehen fünf Jahre. 1986 kommt Dein im Verlag umstrittenes drittes und letztes Buch ans Licht der Öffentlichkeit. Günter Caspar will es, die Cheflektorin hat Einwände. Kompromisse machen sich notwendig. Zweiundsiebzig Gedichte sollen bleiben, neunzehn sollen heraus, sechs andere sollen hinein. In meinem Papier dazu steht zu lesen:
Ein Teil der herauszunehmenden Gedichte sind ja in ,VEB Nachwuchs‘ und anderen westliche Druckerzeugnissen für die Nachwelt bereits festgehalten. Wir müssen ja nicht nachdrucken.
Das Buch erscheint.
Irgendwann solltest und wolltest Du in den Schriftstellerverband eintreten, eine der Befürwortungen hatte Franz Fühmann für Dich geschrieben, eine zweite war die des Verlages, die ich schrieb. Für einen jährlichen Almanach des Mitteldeutschen Verlages hattest Du ein reimloses Gedicht verfasst, die jeweiligen ersten Buchstaben der einzelnen Sätze ergaben ihrerseits einen Satz:
Eure ehmals blutige Fahne bläht sich träge zum Bauch.
Das beschrieb die Stimmung in der späten DDR, aber wer war gemeint? Die Partei, wer in ihr, auch ich? Diejenigen, auf die das Gedicht gemünzt schien, nahmen übel, ich gehörte nicht zu ihnen. Meine Empfehlung für den Schriftstellerverband der DDR jedoch war umsonst geschrieben. Ein Parteiverfahren bekam ich später auch noch, allerdings aus ganz anderen Gründen.
Dann gibst Du Mikado heraus, die Samisdat-Reihe vom Prenzlberg. Dann reist Du zu einem Vortrag nach Tübingen, ich hatte Dir eine Verlagsempfehlung für die Staatliche Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel zu schreiben. Dann kehrst Du im Hause Suhrkamp ein, wohin wir Lizenzen von Deinen beiden ersten Büchern vergeben hatten. Dann schickst Du mir zwei Postkarten aus den USA. Dann bist Du angekommen in der anderen Welt.
Für das von mir herausgegebene Schau ins Land hast Du mir noch zwei Texte geschrieben. Der schwarz-weiße Bild- und Textband erscheint zwölf Tage nach dem 7. Oktober 1989, dem vierzigsten Jahrestag der Gründung des kleineren Deutschlands, er ist kein Jubelband und wird unbeabsichtigt mein Abschiedsbuch vom Experiment DDR. Dort stehen Deine Sätze:
Wir haben drauflos gebaut in einem Höhenflug des Bewusstseins, und das Ergebnis wirkt wie das eines bewusstlosen Tuns. Gerade die wir Arbeit zu unserem eigenen Wohle nannten, sie selbst reißt uns aus dem Traum vom unendlichen Fortschritt. Wir schweigen gewiss schon zu lange. Während die Arbeit die Arbeit zu wandeln beginnt.
Meine eigenen Sätze in diesem Buch gehen so:
Das hat nirgendwo etwas Endgültiges, das bleibt nicht so, das muss sich verändern! Verbale Beteuerungen machen nicht richtig, was sichtbar falsch ist. Beeindruckende Ansätze sind zu erkennen, Mühen ohnegleichen. Wegstrecken aufs vorgestellte Ziel hin und solche, die sich weit von ihm entfernen. Man benötigt keine Belehrungen, man hat doch alles selbst gesehen und eine Vorstellung von den Zusammenhängen. Nur die Gewissheit, fortschreiten zu müssen von dem, was ist, unentrinnbar einer gewandelten Zukunft ausgeliefert zu sein, die über uns kommt, so oder so, macht sicher. Wie diese vor uns liegende Zeit aussehen wird, wir haben es in der Hand.
Dann bist Du weg.
Ich bekomme neue Aufgaben, werde Programmchef des neugegründeten Aufbau-Taschenbuchs, beschäftige mich mit Sachbüchern. Später verlasse ich den gewandelten Aufbau-Verlag auf eigenen Wunsch. Lyrikbände betreue ich längst nicht mehr. Nur manchmal lese ich Gedichte, allein zu meinem Vergnügen. Nie vergesse ich die dunkle Musik Deiner Gedichte.
Die Liebe fährt weit übers Meer
Und einmal, da kommt sie zurück.
Doch leb ich dann lange nicht mehr,
und das ist mein wirkliches Glück.
Hast Du den Goldklumpen weggetauscht, den zu behalten Fühmann Dir einst gewünscht hat, oder besitzt Du ihn noch?
Günther Drommer, aus: Stefan Elit (Hrsg.): „… notwendig und schön zu wissen, auf welchem Boden man geht“, Peter Lang, 2012
Der Weg vom Westen in den Osten und um Mitternacht wieder zurück vom Osten in den Westen der Stadt Berlin führte durch den Tränenpalast, eine pissgelb gekachelte Halle mit hartem Neonlicht für die Passkontrolle. Tränenpalast, ständiger Wohnsitz von Abschiedstränen, erinnerst du dich? Ich bin ziemlich oft rübergekommen, und einmal war es an einem Freitag, und an jenem Freitag damals bin ich auch nicht zum ersten Mal nach Pankow gefahren, Vinetastraße ausgestiegen und zu Fuß zur Dorfkirche Pankow gelaufen, vielleicht, weil ich Udo Lindenberg im Kopf hatte und auf keinen Fall etwas übersehen wollte. Weder das Wort „Haarfärber“ an der nächsten Kreuzung noch die Einschusslöcher aus dem letzten Krieg unter dem Wort, und unter den Einschusslöchern auf Kopfhöhe den Telefonkasten ohne Häuschen. So ein nackter Apparat und ungeschützt an die Hauswand gedübelt, der aussah, als könne man damit nur nach Sibirien anrufen, erinnerst du dich. Die Mauer um den Telefonapparat entblätterte sich in drei Schichten, daran erinnere ich mich jedenfalls. Die Straßenbahn, die ich hätte nehmen können, rumpelte hinter meinem Rücken vorbei, und in dem Moment dachte ich wohl an jene Straßenbahnen daheim, in dem kleinen Ort am Rand des Ruhrgebiets, aus dem ich komme, und die dort längst nicht mehr verkehren. Andere Zeiten waren das gewesen, als die Straßenbahn auch bei uns noch die Leute nach Hause fuhr, dachte ich wohl, während ein Paar, das noch nicht zwanzig war, auf der anderen Straßenseite in der Sonne sich küsste, und ein Junge in weißen Turnschuhen – in einen dunklen Hauseingang gelehnt – ihnen dabei zusah. „Wohnkultur“ stand über dem Eingang, erinnerst du dich. Die Fenster waren schwarz, die Fensterbänke abgebrochen, aber alles von der Sonne beschienen. Verfall mit Sonne ist besser als Verfall ohne Sonne – oder, Uwe? Die Frauen trugen an jenem Freitag ihre Jacken über dem Arm. Sie sahen anders aus als die Frauen aus dem Westen, zarter und zugleich entschlossener, mit feinen, bleichen Katzengesichtern, die nach so vielen Jahren Bruderschaft mit der Sowjetunion den Gesichtern der Frauen aus Moskau ähnlich geworden waren, nicht nur wegen der rosa Puderakzente. Ich bin weiter gelaufen, Richtung „Stille Zeile“ und „Majakowskiring“, dorthin, wo sich heute auch keiner mehr um den Garten von Johannes R. Becher kümmert, und plötzlich ist es auf der Straße ganz still gewesen. Kein Auto fuhr. Ich bog in eine Seitenstraße ein, studierte die Öffnungszeiten unter einem Saunaschild und überlegte, ob es vielleicht in der DDR ein Fahrverbot in der Mittagszeit gab, und gerade, als ich deswegen eine schöne junge Frau fragen wollte, die mit einer Tüte aus der Fleischerei kam, fuhr eine Kolonne von schwarzen Limousinen vorbei, vorbei an uns beiden, der schönen Frau und mir, wie wir so ganz allein auf einem Bürgersteig standen, der ziemlich schlecht gepflastert war. Die Bürgersteige damals, erinnerst du dich, Uwe? Die Limousinen hatten dunkle Scheiben, mit rosa Gardinen verhängt. Bis auf eine. Die nur halb. Und während ich noch dachte, wieso denn rosa, schob sich die Gardine im Fonds jener einen Limousine hinten rechts ganz beiseite, und eine Hand winkte, eine Männerhand, die zu einem schon kahlen Kopf und einem freundlichen Lächeln gehörte.
Die schöne Frau neben mir riss ihre Tüte vom Fleischer hoch, winkte so zurück und schrie: Da ist er, da ist er! Bis auf sie und auf mich waren die Bürgersteige noch immer leer. Wen wollte sie also so dringlich davon überzeugen, dass er da war? Die Hand im Fonds der Limousine hatte nur uns beiden gewinkt, und schon war die Kolonne mit 60 oder vielleicht fast 70 Stundenkilometern und also mit überhöhter Geschwindigkeit vorüber.
Was ist denn in der Tüte, fragte ich die schöne, junge Frau, die auch so ein russisches Gesicht hatte wie die Frauen in der Gegend hier, aber deutsch sprach.
Katzenfutter, sagte sie, Freitag gibt es immer frisches Katzenfutter. Wer war denn das, fragte ich später dich, Uwe? Erinnerst du dich? Gorbatschow, sagtest du, das war wohl Gorbatschow.
Er hat mir zugewinkt, sagte ich.
Nimm’s nicht persönlich, sagtest du, und ein himmelblauer Trabi knatterte draußen vor dem geöffneten Fenster vorbei.
Judith Kuckart, Juli 2012, aus: Stefan Elit (Hrsg.): „… notwendig und schön zu wissen, auf welchem Boden man geht“, Peter Lang, 2012
1980 bis 1984: Apokalyptik und Verweigerung
(…) Uwe Kolbe (*1957) tauchte mit siebzehn 1974 zum erstenmal beim Schweriner Poetenseminar auf. Seither gab es von ihm Kunde, zunächst ein Bündel frecher Texte, von denen sich die Literaturfunktionäre sofort distanzierten. Doch F. Fühmann erklärte ihn zu seinem Schützling und rief:
Ecce poeta!
Da wohnte Kolbe im vierten Stock eines Hinterhauses am Prenzlauer Berg in einem verquollenen Verschlag, um sich Bücher von George, Pessoa, Rilke; Frau und Kind. Er schrieb an den Texten für seinen ersten Gedichtband Hineingeboren. Dieser Titel wurde nun zum Gattungsbegriff für jene Lyrikergeneration, die in den Sozialismus der Väter und Großväter hineingestoßen wurden und die ihnen – so Fühmann – kein besonders gutes Vorbild gewesen waren.Ich möchte… den Jungen raten, nicht so viel auf uns zu schauen! Und F. Fühmann ließ Nietzsche gucken:
Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Mund: Ich, der Staat, bin das Volk.7
In diesem Staat also willkommen soll er uns sein, dieser Uwe Kolbe, der auch sogleich mit der Beschreibung jener Gesellschaft begann, die er vorgefunden hatte, und er sprach von seinem Unbehagen in diesem geteilten Land: wo man havel-, spree-, elbwärts vom Kahn aus mordet, motorisiert, und darüber Schweigen ansage, wo Wald umfunktioniert werde zu Stangenholz… am Staatsarsch. Hier müsse er sein Ich herausschreien und -schreiben auch:
Ich knacke Gedankenschalen,
Zähle die Schritte im leuchtenden Schlamm…
dieses kleinen Orts.
Fühmann prophezeite ihm im Nachwort: Diese Gedichte sind gute Provokateure, und schwer genug wird er’s noch haben, dieser Kolbe. Und Kolbe selbst:
Ich richte was an
Und genieße
die Unruh der anderen.
Da verband sich Bitterton mit Kraftmeierei. Poesie zwischen Klartext und Sprachprotz. Er goß das in freirhythmische Strophen, aber immer noch Form und Grammatik wahrend.
Dann, 1981, ein Band Liebesgedichte. Da war er schon ein junger Wilder. Er hatte sich mit dem wilden Maler Thrakia Wendisch zusammengetan, und sie provozierten mit lasziver Wonne die Prüderie, mittels der sich die DDR-Kulturinstanz gegen die Sexwelle aus dem Westen abschirmen wollte. Seit G. Kunert hatte es in der Poesie keine solchen Töne mehr gegeben. Doch Kunert war Rationalist, auch Stilist und Dialektiker gewesen: Kolbe haute seine schamlosen Texte nur noch heraus:
Verbiegen Verrenken und eng beieinander
Du schönstes perfektes Geschlinge
Dies sing ich und schwimme gelöst ganz
Durchfahr eine Grotte der Wiedergeburt
Verbieg mich verrenk dich wir sind nicht zu fassen
Verleugne jetzt nur nicht das feuchtwarme Tierchen…
Und er schwelgte öffentlich in Geilheit, ließ die Sau raus. Da hatte Bukowski schon graviert:
… Kniefall zwischen Schenkel.
Klebriges wirres Haar, die Trennungswunden.
Tiefschwarz. Aderblau. Verschwollenes.
Blutig hemmungslos versoffenes Ineinander…
Grapscht er geil und stinkend
Nach der Braut, verlangt zuweilen eine Jungfrau
Auf dem Opfertisch. Er reißt sie auf
Und er fickte selbst das Land und schob es nach dem Akt beiseite wie eine ausgeglühte Metze. Die Hure Partei, in der ihn jeder drinhaue, hatte es bei H. Müller schon gegeben.8 Den unverschämten Politpornographen, die sich auf ihren Polittagungen ständig frivol verbal befriedigten, kam Kolbe mit Politpornos. Das muß zu jener Zeit gewesen sein. als A. Endler in seine Sudelblätter schrieb:
Ein kleines Typoskript-Konvolut, die von Uwe Kolbe lancierte Zeitschrift DER KAISER IST NACKT, zugesteckt bekommen: die Texte von Uwe Kolbe selber die radikalsten. Eines der kleineren Gedichte von einem Werner A. Markert ist dem Herrn Mickel zugeeignet und geht so: Zugeb ich, daß ich ganz privat / Reflektiere nah am Hochverrat, / meine Gerade ist ein Grat… (Wer ist Markert? Natürlich Kolbe!…)9
1986 in Bornholm II dann endgültige Absage, Sturm und Drang waren voll in Fahrt. Kolbe hatte die Poetiken rebellischer Weltkunst sich ins Herz injiziert: Thomas, Trakl, Benn. Bald probierte er Formzwang, das Sonett gar, bald ließ er die Sprache einfach flanieren:
Sprachlust. Wollust… mein Weg ist Klang. Slang!
Oder er inszenierte Subversions-Spektakel:
Wir sollten uns diesen Höllenspaß erlauben, die kargen Masken
aaaaahinzureichen in den Ämtern, hinzuwerfen vor die Ämter in
aaaaaallen Städten und Flecken.
Wir sollten jene Sprache wieder erlernen, die vor den Gazetten und
aaaaaKameralügen lag, sich den Bauch hielt und lachte.
Ich bin nur einer der Boten.
Kommt laßt uns lästern die Prediger des Wassers.
Wir lachen sie kaputt…10
Das war Aufruf zu respektloser Polit-Perforrnance. Kolbe wollte den Aftersängern mit ihrer Mauersucht in diesem Kleeland und Zaunland, Kuhland und Huhnland, das ein riesiger Hühnerknast war, in dem die Rattenfänger mächtig stanken, Paroli bieten. Dieses Land war für ihn am Ende:
Die Fahnen blind, die Zeichen
abgenutzt, die Losung
gleicht sich Tag für Tag.
Soll ich dessen Ende singen?11
Und sein Entschluß war radikal:
Mein Name ist Trennung, ich heiße Verrat, und ich weiß. was ich tu.12
Dies wurde sagbar, druckbar 1986, als Glasnost schon grassierte. Freilich, die Buchauflage war klein, und zu haben waren solche Gedichtbände im angepflockten deutschen Zuchtforst meist nur unterm Ladentisch, und es gab Volksbuchhändler, die schrieben auf Listen, wer solchen Büchern nachfragte. Kolbe hatte sich inzwischen eine Poetik zurechtgeschrieben:
Es kann einer nicht einen Schriftsteller sich nennen, der in seinem Inneren gräbt und in sich hört und seiner Verzweiflung hörig ist und davon nicht absehen kann. Schriftsteller sein ist Abstand halten, rundum.
Da konnte es keine Beziehung zu einer G. Eckart geben. Sie waren Antipoden im gleichen Land. Für Kolbe war Schreiben:
Seine Verzweiflung dem Rechner anvertrauen, sie abrufbar halten.
Und er puzzelte mit Kern eines Romans ein Akrostichon zurecht, circa 185 Wörter, ein Wörtersammelsurium, zu fünf mehr oder weniger hohen und ziemlich sperrigen Haufen zusammengeschaufelt,13 in dessen scheinbaren Non-Sens er kryptorch und nach bitterbösem Plan eine Botschaft schmuggelte, die wie ein Kassiber die Zensurbehörden unterlief:
1 Eure Massen sind elend
2 Euren Forderungen genügen Schleimer
3 Eure ehmals blutige Fahne bläht sich träge zum Bauch
4 Eurem Heldentum den Opfern widme ich einen Orgasmus
5 Euch mächtigen Greise zerfetze die tägliche Revolution14
Als Botschaft dünn und banal, wenn auch nicht falsch, als poetisches Gebilde irrelevant.15 Doch die Anthologie, in der das stand,16 wurde zurückgezogen und eingestampft. Aber das Akrostichon kursierte bereits. Da entließ man Kolbe mit Freuden und einem Dauervisum aus der DDR.
(…)
Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995
– Das Land Sachsen-Anhalt ehrt den Dichter Uwe Kolbe in Stendal mit dem Klopstockpreis. –
Für sein lyrisches und prosaisches Gesamtwerk wird der Schriftsteller Uwe Kolbe am 2. Oktober mit dem Klopstock-Preis für neue Literatur des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet. Der Preis ist mit 12.000 Euro dotiert. Grit Warnat hat den Preisträger getroffen und mit ihm über Dichter und die Kunst des Dichtens gesprochen.
Grit Warnat: Herr Kolbe, Dichter haben ein überschaubares Publikum. Stimmt Sie das traurig?
Uwe Kolbe: Ich klage nicht darüber. Leute, die Gedichte lesen und hören, egal ob von Rilke, Klopstock oder Kolbe, wollen ihre eigene Sprache entwickeln und erweitern, sie schätzen das Gedicht als lebendige, schöne Sprache. Schöne Sprache ist mein Anspruch.
Warnat: Sie dichten seit den 1980er Jahren. Wie hat sich Ihre Sprache entwickelt?
Kolbe: Meine Sprache war von Anfang an eine relativ starke und voluminöse Muttersprache, die stets aus allen Quellen nahm. Ich habe mit sieben angefangen zu lesen und habe nicht mehr aufgehört. Ich habe immer gelesen und gelesen, bis 14 aber nie Gedichte. Zu der Zeit vor allem Science Fiction, soweit es das gab – von Jules Vernes bis Stanislaw Lem.
Warnat: Und dann haben Sie geschrieben. Ihr erster Lyrikband kam 1980 heraus. Er heißt Hineingeboren. Weil Sie in die DDR hineingeboren worden sind?
Kolbe: Weil ich ein Gedicht geschrieben hatte, das „Hineingeboren“ heißt.
Warnat: Aber es ging um die DDR.
Kolbe: Dieser erste Gedichtband hat offenbar einen Nerv getroffen. Damals war dieser Band etwas anderes als die Lyrikwelle, die es gab. Bei mir ging es wohl deutlicher um die Existenz eines Menschen von Anfang 20 in der DDR. Das kam offensichtlich an.
Warnat: Sie waren damals schon mit Gedichten erfolgreich.
Kolbe: Ich habe in der DDR drei Gedichtbände veröffentlicht. Dass man damit vergleichsweise populär werden konnte, gehörte zu den Merkwürdigkeiten dieses Staates.
Warnat: Ihr Mentor Franz Fühmann hatte damals zu Ihrem ersten Band geschrieben, dass es gute DDR-Lyrik trotz beengter Erfahrung gibt. Meinte er das jugendliche Alter von Ihnen oder Beengtsein durch Nicht-reisen-Können?
Kolbe: Der von mir sehr verehrte Franz Fühmann hatte ein Nachwort geschrieben, weil der Gedichtband sonst wahrscheinlich gar nicht erschienen wäre. Er meinte nach allem, was ich weiß, durchaus die Grenzen, die die DDR setzte, die Erfahrung von Welt, die Erfahrung von Sprachen und anderen Kulturen, die ja Richtung Osten auch begrenzt war. Es war ein sehr abgeschottetes Dasein.
Warnat: Haben Sie in Ihren Gedichten Botschaften versteckt?
Kolbe: Ich habe nie etwas versteckt. Ich habe geschrieben, wie ich es handwerklich konnte und was ich auch genau so ausdrücken wollte. Mein Selbstverständnis war immer sehr kämpferisch. Der Aufbau-Verlag hat meine Texte zensiert. Aus Bornholm waren etwa 20 Gedichte rausgeflogen. Mir wurde vom Verlag klar gesagt: Bleiben diese Gedichte, gibt es das Buch nicht. Ich wollte aber mein Publikum im Land erreichen. So lief die Erpressung.
Warnat: Was sagen Sie, wenn Sie heute diese frühen Gedichte lesen?
Kolbe: Dann denke ich hier und da, schön gesagt. Schön und auch heute noch gültig.
Warnat: Lyrik war einst eine Königsdisziplin. Heute ist sie schwer zu vermarkten. Verleger scheuen sich, Gedichte herauszubringen. Was ist Lyrik heute?
Kolbe: Es war und ist die Königsdisziplin. Sie wird es auch immer bleiben. Aber das Gedicht hatte noch nie einen Marktwert. Es ist noch nie verkauft worden.
Warnat: Auch nicht zu DDR-Zeiten?
Kolbe: Das Leseland DDR war Not. In Notzeiten spricht das Gedicht. In solchen Notzeiten wurden Pablo Neruda groß und Majakowski. Das weltgrößte Poesiefestival der Welt wurde vor 25 Jahren zu Escobar-Zeiten in Medellin in Kolumbien gegründet. In der kriminellsten Stadt der Welt kamen damals zehntausend Leute zusammen, um Gedichte zu hören. Die Menschen wollten sich mit Lyrik ihrer selbst versichern und spüren, dass es etwas anderes in der Welt gibt als Gewalt, Kriminalität, Drogen. 2010 war es kleiner, aber noch immer berauschend.
Warnat: Wie entsteht ein Gedicht?
Kolbe: Die handwerkliche Version hat Paul Valéry wunderbar auf den Punkt gebracht:
Die erste Zeile ist geschenkt. Alles andere ist Arbeit.
Tatsächlich ist mit dieser ersten Zeile die Struktur, das Maß gegeben. Das muss man erfüllen und abschließen können. Das Ende ist die Kunst.
Warnat: Sie reden vom Handwerk?
Kolbe: Im Gedicht geht es um Form, Gestaltung, Präzision. All das entwickelt sich im Laufe der Jahre. Meine Anfänge waren schon unbewusst. Ich habe auch immer wieder experimentiert. Heute habe ich eine eigene Sprache mit einem Rhythmus, der hoffentlich wiedererkennbar ist.
Warnat: Tut es dem Dichter Kolbe manchmal weh, wie wir im Smartphone-Zeitalter mit Sprache umgehen?
Kolbe: Ich habe nichts gegen die Beschleunigung unserer Kommunikationswege. SMS hat mich am Anfang total begeistert. Gerade wegen der Kürze. Junge Menschen perfektionieren das, sie sind die Kreativsten, übrigens auch die empfänglichsten für Gedichte. Ich halte es für ein verwandtes Talent, neue Worte, Abkürzungen zu finden. Es ist fast ein poetisches Prinzip, innerhalb weniger Zeichen auf den Punkt zu kommen. Ich finde, das ist hochkreativ.
Warnat: Twittern Sie?
Kolbe: Nein. Ich würde aber diese technische Sprachkultur abtrennen von öffentlicher Sprache, auch von politischer Sprache, und der Art und Weise, wie reduziert Menschen miteinander umgehen. Aber das ist nicht neu. Darüber haben schon die alten Römer geklagt. Jede Zeitgenossenschaft hat dieses Empfinden.
Warnat: 2014 kam Ihr erster Roman heraus. Warum wollten Sie als Lyriker einen Roman schreiben?
Kolbe: Mit Mitte 20 hatte ich darüber schon nachgedacht. Ich habe mich auch mal an einem 250 Seiten langen Krimi versucht. Es war ein handwerkliches Experiment. Ich wollte über die Distanz gehen. Der Roman ist handwerklich ganz anders als ein Gedicht, andere Sprache, anderes Maß. Und seine Wahrnehmung ist eine ganz andere. Auf der Buchmesse sirrten Kameras, die sich um Dichter gewöhnlich nicht kümmern. Mit einem Roman findet man auch andere Leser. Trotzdem war der Roman für mich eine Eintagsfliege. Aber er musste sein.
Warnat: Des Handwerks wegen oder weil Sie unbedingt diese Geschichte um Verrat in der DDR schreiben wollten?
Kolbe: Ich wollte diese Geschichte schreiben. Ich hatte auch in den Leserreaktionen gespürt, dass da etwas drin ist, was die Leute umtreibt. Es ist diese Welt, deren Erfahrung viele teilen. Ich wollte kritisch und selbstkritisch über dieses angepasstes Leben und die unehrliche Haltung von Menschen zwischen politischen Ansprüchen und dem wirklichen Leben im Alltag schreiben.
Warnat: Das haben Sie in Ihrem Brecht-Essay noch einmal aufgegriffen.
Kolbe: Der Essay ist im Gefolge des Romans entstanden. Im Gespräch mit dem Publikum war ich immer genötigt, nach Brecht zu greifen. Brecht war perfekter Kapitalist, ein Ausbeuter und gleichzeitig ein geschätztes Genie. Er wusste genau Bescheid über den Gulag und damit über die Qualität der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion. Aber sein Thema war nur der Faschismus. Ich habe von der Leber weggeschrieben und das verlogene Modell Brecht untersucht.
Warnat: Sie thematisieren immer das Erinnern.
Kolbe: Gedichte haben mit Erfahrung und Erinnern zu tun. Für Gedichte muss man alte Schichten durchbrechen, dann findet man den nötigen Ernst und den Blick auf das wirkliche Leben. Beides ist mir wichtig.
– Gespräch mit Uwe Kolbe. –
(…)
Carsten Gansel: Kommen wir zu einem anderen Aspekt. Das Titelgedicht Ihres ersten Gedichtbands Hineingeboren von 1980 ist ja gewissermaßen zu einer Metapher geworden für eine Generation, die in der DDR groß geworden ist. Ist es Segen oder Fluch, wenn die eigene Person als Dichter auf diese Art über einen bestimmten Zeitraum an einen solchen Text gebunden ist?
Uwe Kolbe: Naja, das ist so ein kleines einfaches Gedicht. Ein Neunzehnjähriger hat es geschrieben und heute ist es in Schulbüchern. Ich bin ganz stolz auf diesen jungen Mann, dass er das schreiben konnte. Aber den Titel des Gedichtbandes hat natürlich mein cleverer Lektor beim Aufbau Verlag ausgewählt. Die wunderbarste Entdeckung in meinen Stasi-Akten war das Engagement meines Lektors für das Buch hinter den Kulissen. Fantastisch, wie clever der mit der Zensurbehörde verhandelt hat, das war genial. Das war ein guter Mann und wir haben dann auch zusammen den dritten Gedichtband mit offenen Augen zensiert. Aber Franz Fühmann hat sich erfolgreich für mich eingesetzt. Sonst hätte es dieses Buch nicht gegeben. Aber wie geht man mit einem solchen Schulbuch-Text als Autor heute um? Insbesondere wenn ich sozusagen „ostelbisch“ unterwegs bin, werden mir, im besten Fall, immer nur die ersten drei Gedichtbände zum Signieren unter die Nase gehalten. Dann wird mir gesagt: „Das war wichtig damals.“ Und wenn ich dann sage: „Naja, aber danach habe ich noch 17 weitere Bücher veröffentlicht“, heißt es nur: „Ja, also dann tschüss.“ (lacht) Im Ausland bin ich noch gerne Historiker in eigener Sache und erzähle von früher. Und ich verstehe auch, dass Rückblicke gerade im Zusammenhang mit germanistischen Gesprächen nach wie vor von einigem Interesse sind. Aber es gibt verschiedene Dinge, die möchte ich jetzt nicht mehr machen. Auch diesbezüglich ist das Buch als Abschied gemeint, als ein Schlussstrich unter dieses Thema.
Gansel: Dann berufe ich mich einmal auf den germanistischen Anteil an dieser Veranstaltung, um noch etwas bei Ihren Anfängen als junger Autor in der DDR zu verweilen. Sie haben auf die schlechten Erfahrungen hingewiesen, die der Erzähler in Mein Usedom benennt. Auch Sie waren in den frühen 1980er Jahren in Konflikt mit der Zensurbehörde geraten.
Kolbe: Ich bin kein Verfechter der Auffassung, man habe unter den Bedingungen des Literatursystems nicht das schreiben können, was man wollte. Man konnte es im Zweifelsfall nur nicht veröffentlichen, schreiben konnte man wohl. Ich war sicherlich nicht der mutigste DDR-Kritiker, aber ich habe meine Gedichte geschrieben und wenn sie zensiert worden sind, dann waren sie eben nicht im Gedichtband. Aber immerhin habe ich es versucht. Wenn manche Autoren hinterher behaupteten, sie hätten dies und das nicht schreiben können, hielt ich das für ziemlichen Kokolores.
Gansel: Immerhin haben Sie drei Jahre Publikationsverbot erhalten, nachdem Ihr Text „Kern meines Romans“ 1982 in einer von Brigitte Böttcher herausgegebenen Anthologie unter dem Titel Bestandsaufnahme 2. Debütanten 1970–1980 erschienen war.
Kolbe: Laut Stasi-Akten haben sie die eine Hälfte der Auflage gleich wieder zurückgeholt und eingestampft. Aber die anderen 2.500 Exemplare sind irgendwo in der Welt. Der Text wurde nur mit aufgenommen, weil die Zensoren nicht richtig gelesen haben. Die Großbuchstaben des ganzen Texts ergaben zusammengenommen folgende Sätze: „Eure Maße sind elend. Euren Forderungen genügen Schleimer. Eure ehemals blutige Fahne bläht sich träge zum Bauch. Eurem Heldentum den Opfern widme ich einen Orgasmus. Euch mächtige Greise zerfetze die tägliche Revolution.“ Das haben die allen Ernstes 1982 im Mitteldeutschen Verlag gedruckt. Und dann haben sie offenbar einen Schreck bekommen. Ich habe einfach nur gelacht. Diese drei Jahre Publikationsverbot danach waren dann, naja, kalter Kaffee. Das war übrigens das einzige Mal, dass ich im Spiegel erwähnt worden bin. Der Artikel hieß „Brisantes Lyrik-Rätsel“. Große Überschrift, kleiner Kasten. Aber immerhin. Die Anthologie wurde nie wieder aufgelegt. Es gibt aber einen Nachdruck dieses Textes in einer Sammlung zu zensierter Literatur, die im Zusammenhang mit der Ausstellung Zensur in der DDR im Literaturhaus Berlin entstanden ist.
Gansel: Kommen wir auf Franz Fühmann, den Sie bereits als Mentor genannt haben. Er hat das Nachwort zu Hineingeboren geschrieben. Darin heißt es: „Gelingt es uns jetzt nicht mehr zu leisten, was nur wir zu leisten vermögen, fällt wesentliche Erfahrung meiner Generation ins Vergessen. Denn Chroniken, gesetzt selbst sie existierten, bewahren dies Wesentliche nicht.“ Wenn man diesen Satz von Franz Fühmann hört, der auf seine Generation gemünzt war: Welche Aussage würden Sie über Ihre Generation treffen? Ist da bis zum jetzigen Zeitpunkt Wesentliches geleistet worden und wenn ja, in welcher Hinsicht?
Kolbe: Naja, wenn wir es gut machen, dann haben wir die Erfahrung zumindest einer Zeitenwende verinnerlicht. Wir in der DDR Aufgewachsenen haben grundsätzlich zwei Erfahrungen gemacht: die Erfahrung in einer geschlossenen und einer offenen Welt gelebt zu haben. Mit den Westdeutschen teilen wir eine letztlich verdammt positive Erfahrung, nämlich eine der Öffnung. Wenn man beide Erfahrungen hat und davon reden kann, dann soll man das auch tun. Und wenn wir auf gute und interessante Weise etwas vom 20. Jahrhundert mitteilen können, dann vermitteln wir eine ganz gute Botschaft, die wir in dieses inzwischen unerhört anstrengende 21. Jahrhundert mitnehmen können. Die Geschichten, die von heute zu erzählen wären, die können wiederum nur andere erzählen, diese jetzige Erfahrung. Die Revolution, die mit dem Computer begonnen hat, oder das Wiederhochkommen des radikalen Monotheismus, die Re-Konfessionalisierung der Welt und all diese fatalen Konsequenzen die das hat, das sind zwei Aspekte, die ich nur noch als Zeitgenosse wahrnehme. Ich habe dazu auch eine Meinung, als Zeitgenosse, aber im Gegensatz zu Erfahrungen sind Meinungen nicht literarisch. Erfahrungen sind literarisch zu verarbeiten und meine Erfahrungen siedeln eben im 20. Jahrhundert.
(Das Gespräch mit Uwe Kolbe wurde geführt am 13. November 2014 im Rahmen der 7. Hans Werner Richter Literaturtage in Bansin /Insel Usedom.)
Aus Carsten Gansel: Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989–2014, Verbrecher Verlag, 2015
UWE KOLBE
Lehrgedicht plus Deutung und Übersetzung
für junge Experimentalisten
Ohr Wunde Bahre Wählt Macht
Front Mut Zug Murmel Weidmann Sarg
Denkmal in der Auster Vers Kralle Haut
Widder Börse Wisch Gruß Modem
Rot Weiß Ehrfurcht
Es lebe Dick Jagger
Übersetzung
Oh wundervolle Märchenwelt
Von Mund zu Mund gegangen
Den Kindern aus vergangener Zeit
z. B. wie Bänker Großmütter schröpfen
bis hin zum Tod der Rotgardisten
Ruhm und Ehre den Düsenjägern
Deutung
Nur durch umsichtiges Verhalten der Waldanwohner konnten die Raubtiere für die Karnickelaufzucht gewonnen werden. Herr Wolf leitet heute ein Mädcheninternat. Frau Fuchs hat zwei süße Kinder ausgesetzt und genießt mehrere Vergünstigungen sozialer Art.
Peter Wawerzinek
Uwe Kolbe und Max Czollek sprechen über Gedichte, die sie in einer bestimmten Zeit besonders geprägt haben.
Die Zeitschrift Belletristik fragt Uwe Kolbe
Uwe Kolbe liest auf dem XX. International Poetry Festival von Medellín 2010.
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