– Zu Heiner Müllers Gedicht „Montaigne meets Tasso I“ aus Heiner Müller: Werke I. Die Gedichte. –
HEINER MÜLLER
Montaigne meets Tasso I
Tasso in den Abruzzen auf der Flucht vor seinem Wahnsinn
aaasein Kleidertausch
mit einem Bauern. Lenz im Gebirge bei Strassburg, Büchner
aaagejagt auf seiner Spur.
Hölderlin im Turm, der vor sich hinreimt. Montaigne, wenn
aaaer mehr Zeit gehabt
hätte als einen Tag in Ferrara, wo er Tasso verrückt sah,
aaa„mit mehr Ärger als Mitleid“,
was hätte er ihm sagen können. Was sind Worte dem, der sich
aaaan ihnen sattgegessen
hat und sie nicht mehr ausspein will.
Zu den Mythen der literarischen Moderne gehört die Idee des ruhmreichen Scheiterns: Während die übrige Welt nur blind auf Erfolg setze, auf die bloße Machbarkeit des Möglichen, sei die Literatur der Zufluchtsort jener heiligen Narren geworden, die sich am Unmöglichen versuchen und verschleißen. Der Dichter, der über strengsten Sprachexerzitien dem Schweigen oder dem Rauschgift verfällt, die Dichterin, die im Ringen um poetische Reinheit wahnsinnig oder todessüchtig wird, das alles zählt längst zum festen hagiographischen Repertoire unseres Kulturbetriebs. Mehr noch, ein Autor, der von derartigen Katastrophen lebenslang verschont bleibt, hat es heute nicht ganz leicht, für die Ernsthaftigkeit auch seiner Arbeit Anerkennung zu finden.
Heiner Müller ruft in diesem kurz vor seinem Tod entstandenen Gedicht gleich vier Märtyrer der Literatur an: Tasso, Lenz und Hölderlin, die in geistiger Zerrüttung endeten, dazu Büchner, der, aus seiner Heimat verjagt und steckbrieflich gesucht, viel zu früh starb. Als Kontrastfigur bringt er Montaigne ins Spiel, der 1580 den kranken Tasso besucht und sich später in einem seiner Essays den wenig warmherzigen Satz leistete:
Ich fühlte noch mehr Unmut als Mitleiden, als ich ihn zu Ferrara in diesem erbärmlichen Zustand sah, wie er sich selbst überlebte und weder sich noch seine Werke mehr kannte.
Kein Zweifel, welcher der beiden Seiten sich Müller selbst zuordnete: Schon gegen Ende der siebziger Jahre ließ er anklingen, daß er den Stoff seines Lebenswerkes mit dem Scheitern des Sozialismus für erschöpft halte, daß er als Dramatiker „nur noch weiße Seiten abliefern könne“ und also befürchte, sich selbst zu überleben. Die Lyrik seiner letzten Jahre zeugt denn auch von dem Gefühl, sich an Worten „sattgegessen“ zu haben, und von der wachsenden Sehnsucht, keine mehr „ausspein“ zu müssen. Immer direkter wird sein inständiger Wunsch benannt, endlich im Schweigen verschwinden zu dürfen. „Ich sterbe zu langsam“, lautet sein Fazit in einem dieser späten Gedichte. Wer Heiner Müller kannte, wird das nicht ohne Erschütterung und Anteilnahme lesen. Zugleich aber betreibt Müller damit natürlich eine spürbare Selbststilisierung. Schließlich ist die literarische Ahnenreihe von Tasso bis Büchner, die er hier für sich reklamiert, ohne sich selbst explizit ins Spiel zu bringen, alles andere als leichtgewichtig. Vor allem aber fällt auf, in welch ungünstiges Licht Montaigne von Müller gerückt wird. Gerade mal einen Tag, so klingt an, ließ er sich Zeit für den Besuch beim kranken Tasso, und sein kaltschnäuziges, politisch reichlich inkorrektes Resümee der Begegnung trägt ihm schwerlich Sympathien ein.
Tatsächlich ist Montaigne in vieler Hinsicht ein Gegenbild zu den vier anderen – und zu Müller: ein wohlhabender, konservativer Adliger, der sich mit den Mächtigen seiner Zeit klug arrangierte. Aber er war darüber hinaus auch ein weiser Skeptiker, der Selbstbeschränkung und maßvolles Leben als höchstes aller Kunstwerke betrachtete. Daß es ruhmreich sein könnte, an hochfahrenden, die menschlichen Möglichkeiten mißachtenden Zielen zu scheitern, wäre ihm wohl schwer begreiflich zu machen gewesen.
So macht das frühneuzeitliche Treffen zwischen Montaigne und Tasso im Blick Müllers zweierlei deutlich. Zum einen, wie eng die literarische Moderne, die stets Grenzüberschreitungen anvisiert und die damit das Scheitern ihrer Heroen provoziert, verwandt ist mit unserer grenzensprengenden, fortschrittstrunkenen Gegenwart, von der sie sich zu distanzieren vorgibt. Zum anderen, neben aller Selbststilisierung, eine leise, schmerzvolle Selbstkritik Heiner Müllers, das maßvolle Leben eines Montaigne verfehlt zu haben.
Uwe Wittstock, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2000
Schreibe einen Kommentar