– Zu Thomas Braschs Gedicht „Der schöne 27. September“ aus Thomas Brasch: Der schöne 27. September. –
THOMAS BRASCH
Der schöne 27. September
Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen
und mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.
Das literarische Leben der DDR hat, im Gegensatz zu dem der Bundesrepublik, ein Zentrum: in Ost-Berlin wohnen die meisten Autoren, hier residieren die wichtigsten Verlage, dazu die Akademie der Künste und der Schriftstellerverband. So konnte sich zwischen den Erzählern, Lyrikern und Dramatikern des Landes ein erstaunlich dichtes Netz von Freundschaften oder auch Rivalitäten entwickeln, die nicht selten poetische Folgen zeitigen.
Christa Wolf veröffentlichte 1974 eine vierzehnseitige Tagebuchnotiz, „Dienstag, der 27. September“, in der sie detaillierte Auskunft gibt über ihren Arbeitsalltag zu Beginn der sechziger Jahre. Demselben Datum widmet Thomas Brasch, der 1976 die DDR verließ, ein Gedicht, das später auch seinem Lyrikband den Titel gab: „Der schöne 27. September“. Die zwei Texte lassen sowohl tiefgreifende ästhetische Differenzen zwischen diesen beiden Schriftstellern erkennen als auch ihre konträren Weltbilder. Christa Wolf berichtet ausführlich von den Mühen des Gewöhnlichen: vom Versorgen der Kinder, vom Besuch beim Arzt und in einer Parteibetriebsgruppe, von einem Gespräch mit ihrem Mann über „Kunst und Revolution“ und nicht zuletzt von der kräftezehrenden Arbeit an einer Erzählung, zu der sie erst am Abend Zeit findet. Nichts davon ist in irgendeiner Weise außerordentlich oder bemerkenswert. Trotzdem schildert die Autorin ihre Handlungen mit penibler Genauigkeit und mißt ihnen – als winzige Bausteine zu einem großen Ganzen – einigen Wert bei. Sie folgt der Überzeugung, so heißt es gegen Ende, „daß nur eine fortdauernde unbeirrte Anstrengung den kleinen Zeiteinheiten, in denen wir leben, einen Sinn gibt“.
Von einem solchen „Sinn“ ist in Thomas Braschs Gedicht keine Rede. Im Gegenteil: Hier hat sich jemand nicht nur den schlichten Verrichtungen entzogen, mit denen wir üblicherweise unsere Tage füllen, sondern auch den moralischen oder sozialen Forderungen, die gemeinhin als Richtschnur unseres Handelns gelten („Ich habe nicht über mich nachgedacht / … / Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht“). Die Reihe kühler Unterlassungserklärungen macht eine erschreckende Situation erkennbar: Für den Sprecher haben die Gewohnheiten, Konventionen und philosophischen Maximen, die dem Leben einen inneren oder auch nur äußeren Halt geben können, ihre Macht verloren. Dennoch bezeichnet Brasch diesen 27. September ausdrücklich als „schön“.
Jenes „Ich“ nämlich, das in zehn Zeilen neunmal stolz an die Spitze gestellt wird, ist zwar aus jeder Ordnung gefallen, damit aber auch frei von allen Pflichten und Zwängen. Es kann auf die erwähnte „fortdauernde unbeirrte Anstrengung“ verzichten, das eigene Tun auf einen höheren Zusammenhang hin zu organisieren. Damit gewinnt es die Möglichkeit und die Bereitschaft zum Selbstgenuß und zum Genuß des Augenblicks.
Ein radikalerer Widerspruch läßt sich kaum denken: Christa Wolfs Tagebuchprosa schenkt selbst banalen Einzelheiten Beachtung, da auch in ihnen ein umfassender Plan aufscheint, dem sich alles unterzuordnen hat. Sie bemüht sich geradezu obsessiv um Sinnstiftung. Gegen jeden derartigen Versuch polemisiert Thomas Braschs Gedicht in nüchternen, knappen Versen. Es setzt sich dem Wissen um eine hoffnungslos chaotische Welt aus und beschwört zugleich die anarchische Freiheit des einzelnen.
Uwe Wittstock, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
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