Vera B. Profit: Menschlich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Vera B. Profit: Menschlich

Profit-Menschlich

WAS ICH GERNE LESE, WARUM ICH SCHREIBE

Vera B. Profit: Die erste Frage. Führten Sie jemals oder führen Sie noch ein Tagebuch, oder dient das Geschriebene als eine Art Tagebuch?

Karl Krolow: Das kann ich sagen. Ich habe… ja Tagebuch ist ein zu großes Wort, aber ein Notizbuch oder Notizbücher geschrieben. Es sind inzwischen, ja ich weiß nicht wieviele, jedenfalls zweihundertneunzig sind es sicher seit 1954 geworden. Die sind nicht publizierbar, ohne literarischen Anspruch, aber für mich Merkhefte, für mich ein Faden, der ohne Ende ist, der läuft, indem ich notiere, was mir, ich will noch nicht mal sagen, wichtig ist, aber doch, jedenfalls wichtig genug: ein Schmerz, eine Begegnung, das Wetter, oder wie man spricht oder schreibt, Kleinigkeiten. Früher hat einer gesagt, er möchte einmal ein schönes Buch über fast nichts schreiben. Nun ist dies kein schönes Buch, sondern es sind kleine, viele kleine Bücher. Aber so gesehen, zugleich eine einzelne Übung… jeweils fast nichts… Minuten-Aufzeichnungen wäre schon beinah der richtige Ausdruck, um das Phänomen zu beschreiben. Es sind Unterlassungen, wie Ereignisse, aber noch mehr und hauptsächlich Winzigkeiten, wie Atemholen, Selbstverständlichkeiten, die keine sind, die doch dazugehören, die noch etwas markieren, etwas festhalten für diesen Tag, für diese Stunde. Und so wird und wurde das notiert über die Tage und Monate und Jahre. Ein Leben, wie es insgesamt gelaufen ist. Vielleicht langweilig, vielleicht uninteressant, aber jedenfalls rückhaltlos. Und so gut es mir gelang, habe ich einiges nicht vergessen und notiert. So könnte ich das beschreiben.

Profit: Schreiben Sie an und für sich gerne Briefe, oder steht der Anlaß oder der Empfänger an erster Stelle?

Krolow: Oh! Ich schreibe schon ganz gerne. Hab’ ich immer getan. Es ist natürlich eine Skala von Möglichkeiten daran. Es kommt auf den Adressaten ja entscheidend an, wie ein Brief ausfällt. Ob er überhaupt und wie er im einzelnen zustande kommt. Aber das Briefschreiben ist eine Bestätigung von Dasein und Reagieren-können und Umgang mit der Realität; denn wie gesagt, die Adressaten sind ja ganz und gar unterschiedlich. Und es kann ein Kind sein, das etwas fragt, oder ein Leser, der etwas hören will. Aber es kann auch eine sehr nahe Person sein, mit der man im Umgang ist. Und dementsprechend ist das Briefleben ein erweitertes tägliches Leben im Schreiben, in Schreibversuchen. Ich würde es jetzt nicht gleich in die Nähe von Literatur rücken. Aber in den besten Augenblicken ist auch das nicht nur Gegenstand eines Briefes, sondern ein wenig Literatur auf einen anderen zugeschnitten und zugesagt und zugemeint und zugesprochen, ihm anvertraut. So gesehen, haben bestimmte Briefe, aber nur ganz bestimmte, einen literarischen Wert. Man schreibt an sich schon etwas Geheimes, etwas, was auf die Person und auf niemand anderen natürlich bezogen ist. Etwas, was… das Intime, was eventuell gar nicht ausgesprochen, aber im Briefe geschrieben werden kann. In einem guten, günstigen oder leichtfertigen Augenblick.

Profit: Warum schreiben Sie? Weil Sie es nicht lassen können? So haben Sie die Frage einmal beantwortet. Warum können Sie es nicht lassen?

Krolow: Es ist ein Reiz. Es ist eine Verführung. Es ist ein ganz bestimmter Impetus, ein ganz bestimmtes Bewußtsein, eine ganz bestimmte, losgelassene Empfindlichkeit, eine… ja ein Überfall. Ich meine nicht damit, beileibe nicht Pornographie, das, was man Inspiration nennt, von dem ein Franzose gesagt hat, sie sei die Schwester der Pornographie. Soweit gehe ich selbstverständlich nicht. Und dies meine ich nicht, aber… Sie sehen, ich habe behalten, wie leicht man hier was Falsches sagt. Die Frage war?

Profit: Warum schreiben Sie gerne?

Krolow: Ja. Ich weiß noch nicht mal, ob ich gerne schreibe. Es ist jedenfalls keine Luxusbeschäftigung – die könnte man auch darin erkennen – sondern ein Getriebensein. Das ist schon wieder mit Pathos beladen, das Wort. Dazwischen liegt es, zwischen Luxus und Getriebensein. Wenn Sie nicht anders können. Ich bin so aufgewachsen. Es ist eine biologische Frage. Es ist eine Sache, die in einem steckt. Etwas will man loswerden, etwas, was zuwenig oder zuviel da ist. Man will das, wie Atem, weitergeben. Es ist eine bestimmte Art von Atemübung, in dem ganzen Schreiben. Jedenfalls schon ein besonderes Bedürfnis, allem Nahen, auch sich dem Nächsten zu erschließen oder so rätselhaft zu machen, wie man sich selber ist und bleibt.

Profit: Welche geistigen oder seelischen Voraussetzungen müssen dem eigentlichen Schreiben vorangehen? Oder vielleicht gibt es in diesem Fall nur ein Entweder – Oder? Oder geschieht beides zugleich?

Krolow: Auf alle Fälle ist die Disposition da. Da kann man sich nichts vornehmen. Man gerät hinein. Ich bin in die Literatur, also ins Schreiben hineingeraten. Da war nichts vorher zu vermuten. So denke ich heute jedenfalls. Obwohl ich in meinem zehnten Lebensjahr zum vierzigsten Geburtstag meiner Mutter ein… soll ich sagen, etwas Gereimtes loswerden wollte oder mußte von mir. Damit begann eigentlich eine Vermutung, die sich dann später bestätigte und selbstverständlich damals ein Kindervergnügen besonderer Art war, eine Kinderaufmerksamkeit besonderer Art oder eine bestimmte Aufmerksamkeit und… wie soll ich sagen… Liebe. Aber das sind große Worte. Jedenfalls diese von mir sogenannte Disposition reicht weit zurück. Und wenn es auch nur ein Zweizeiler war, nach einem Frühlingsspaziergang im hannoverschen Stadtwald mündlich dahingesprochen, der sich reimte – und der Vater mit dem Sohne eine Anemone – oder so, in dieser Art. Was ich getan hatte, nämlich Anemonen gepflückt mit meinem Vater, das wollte sich eben niederschlagen als kleiner Spruch. Das ist bereits ein prähistorischer Vorgang. Aber ich sehe es manchmal, oder es wird mir so in Erinnerung gebracht, als allerfrühester Anfang von Begabung oder Nachgeben einer bestimmten Lust. Lust ist hier das letzte Wort. Es hat auch fast etwas mit treulos zu tun. Es sind auch nicht nur Spurenelemente von Sexualität dabei, die das etwa berühren. Es hat Sinnlichkeitsbedürfnis, im weitesten (Sinne) verstanden.

Profit: Liegt die „eigentliche Arbeit“, in Anführungszeichen, im Nachdenken oder gar im Empfinden, im Wahrnehmen, ehe Sie sich an den Schreibtisch setzen? Oder liegt die „Arbeit“, wieder in Anführungszeichen, im eigentlichen Schreiben? Oder trifft beides zu?

Krolow: Ja, beides ist es wohl. Ja, beides ist aufeinander angewiesen, würde ich sagen. Es ist ja eine ganze Fragenskala, und gewiß gehören sie zusammen. Spontaneität, wieder ein großes Wort, und wie Überfall, wie Hineingeraten, aber das ist ein eben so diffiziler Vorgang, wo Denken, Fühlen oder wie Sie es nennen wollen, Lust bestimmter Art, Erinnerungsfolgen bestimmter Art, Sinnlichkeitsbedürfnis bestimmter Art, zum Zuge kommen, also Sprache werden oder… ja, so würde ich es sagen.

Profit: Schreiben Sie mehrere Versionen von ein und demselben Gedicht?

Krolow: Selten. Selten.

Profit: Oder bleibt es manchmal bei der ersten?

Krolow: Es kommt, wenn es mir nicht gelingt, in den Papierkorb.

Profit: Yeats sagte: „… we must labour to be beautiful.“ Zitiert von William Carlos Williams. Stimmen Sie diesem Zitat bei?

Krolow: Wie heißt das jetzt auf deutsch? Moment mal. Sagen Sie es jetzt.

Profit: „We must labour to be beautiful.“

Krolow: Wir müssen arbeiten und

Profit: um schön zu sein oder um zu gefallen.

Krolow: Um zu gefallen, Was ist „Gefallen“ und „Schönheit“? Mein Gott. Das möchte ich gar nicht so genau wissen. Und gefallen… Wem gefallen? Mir gefallen, andern gefallen? Ich denke an so etwas nicht. Es ist mir fremd. Schönheit… dies Wort kann man, wenn man es überhaupt in den Mund nimmt, als Geheimtip allenfalls behandeln. Aber sonst sollte man vorsichtig mit solchen Ausdrücken umgehen. Jedenfalls. Ich weiß nicht… Schönheit ist eine ungeheuer komplexe Sache. Vom schönen Kleid bis zur schönen Alliteration ist ein weites Feld.

Profit: Um mit Fontane zu sprechen.

Krolow: Ja. Ja. Gewiß, gewiß. Das ist Fontane. Da haben Sie recht.

Profit: In seinem Band, Briefe an einen jungen Dichter, schrieb Rilke das Folgende: „Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen.“ Welche Bücher sind Ihnen unentbehrlich?

Krolow: Es werden immer weniger. Aber diese wenigen Bücher lese ich um so mehr und ich lese sie immer wieder. Es sind, nun gut, ein paar Hände voll sind es schon. Oder ist das schon zu viel gesagt? Es sind oft Bücher bestimmter Art: Tagebücher, Briefe, Notizen und Randerscheinungen der Literatur. Aber zum Beispiel Rahel Varnhagen oder Gustave Flaubert, Katherine Mansfield, um einige zu nennen. Mir fallen im Augenblick einfach nicht andere ein, die ich sonst noch nennen würde. Es ist noch einiges. Es sind Autoren, auf die ich immer wieder zurückkomme. Sie haben einen bestimmten Platz, den ich (immer) finden werde. Es sind meistens nicht deutsche Bücher, obwohl Rahel Varnhagen, die ich jetzt gerade in diesen Tagen wieder gelesen habe – ihre Briefe und die Gedichte und ihre Prosa – die war freilich Deutsche, deutsch. Aber es sind eben auch innerhalb der Werke dieser Namen, die ich genannt habe, dieser wenigen Namen, eher Randerscheinungen, wie die Briefe von, Sylvia Plath, oder die Briefe, die jetzt gerade wieder herausgegeben sind, die speziellen Briefe an George Sand von Gustave Flaubert. Ich meine aber insgesamt seine Briefe, sein ägyptisches oder orientalisches Reisetagebuch, würde ich nie… auch wieder vergessen und (würde auch) sagen, daß es zu den Büchern gehört, die mir den Sinn für eine ganz bestimmte Art von Prosa wiedergegeben haben, die ich manchmal in den viel bekannteren Romanen, Novellen der Autoren nicht so schnell finde. Ich werde ihrer nie müde. Der Reizfaktor spielt auch hier wieder eine Rolle. Es ist natürlich nicht ohne Reiz, Stellen, vor allem Buchstellen der persönlichsten Art, fast vulgärer Art, gebe ich zu, plötzlich zu entdecken, wieder zu entdecken, noch immer zu lesen. Ah! So reagierte der oder die, in diesen oder jenen Augenblicken, Schwierigkeiten, in Euphorien, in diesem ganzen schwierigen Leben; denn es waren alle sehr heikle Naturen. Dies ist das gelebte, literarische Leben und mag es noch so seltsam, noch so schrullig, noch so abenteuerlich oder noch so langweilig gewesen sein, so monoton, so wiederholbar. Ich liebe auch die Wiederholungen. Natürlich. Wiederholungen sind das Leben. Und noch einmal Repetition und noch einmal Repetition. Aber die Nuance dabei, die ist nicht uninteressant, die gehört dazu, wenn es gelingt in der Repetition.

Profit: Sie haben gestern erwähnt, daß Sie von Rilke Lieblingsgedichte haben.

Krolow: Ja. Schon.

Profit: Wenn Sie von Ihren eigenen Gedichten eines auswählen müßten, was würden Sie sagen, oder bleibt es immer dann beim nächsten Gedicht, das Sie vielleicht schreiben würden?

Krolow: Jetzt meinen Sie, wie ich zu meinen eigenen stehe? Ja. Man ist in gewisser Weise und muß es sein, ich will mal das Wort treulos verwenden, treulos gegenüber dem letzten Gedicht, das man geschrieben hat. Obwohl ich wiederum das Gefühl habe, ich schreibe weiter sozusagen eine, meine persönliche poésie ininterrompue, eine ununterbrechbare, ununterbrochene poésie. Sie haben es selbst zitiert in Ihrem Buch, das Problem des Zusammenhangs, wie alles miteinander sich fügt sozusagen; es gibt da schon einen Schreibzusammenhang, ich empfinde es so. Das letzte Gedicht werde ich mir ansehen, solange ich noch das Interesse daran habe. Dann beginnt gewiß eine Abkehr. Das neue Gedicht verdrängt sozusagen das alte, obwohl es unter Umständen eine Fortsetzung sein könnte, obwohl ich zugleich mir vielleicht nicht eingestehe, daß das so ist mit dem Zusammenhang, mit der Poesie, die ich nenne die poésie ininterrompue, der ununterbrechbaren, und ununterbrochenen, wie Sie wollen. Beides würde zutreffen, mit diesem französischen Wort, ja, der Jargon der Surrealisten, eine Formel, die aus der Ecke kommt: poésie ininterrompue. Ich weiß nicht, ob das Bréton gesagt hat, oder einer dieser Autoren, die auch die Theoretiker des Surrealismus waren. Aber ich erlaube mir schon deshalb so zu schreiben, weil ich eben doch diese Nähe gehabt habe, von Deutschland her, von unserer Literatur her, zu dem was ich jetzt etwas verkürzt so nenne. Surrealismus hat ja auch eine Entwicklung gehabt, hat so begonnen, ist so ausgelaufen, es geht ja um eine geraume Zeit.

Profit: Wie Sie wissen, habe ich ja versucht, Ihre Selbstporträts in einem gewissen Sinne zu verstehen, und manchmal habe ich das schneller getan als andere Male, aber im Grunde genommen versucht man, jemanden anderen zu verstehen, zu interpretieren, sich ihm zu nähern.

Krolow: Ja, ganz sicher.

Profit: Wenn ich Sie jetzt bitten würde, sich zu beschreiben, was würden Sie dann sagen, denn der in den Selbstporträts, der waren Sie vor ungefähr vierzig, vor dreißig Jahren.

Krolow: Ja, so ist es.

Profit: Wie würden Sie sich in Ihrer gegenwärtigen Lage beschreiben?

Krolow: Nicht das, was Sie jetzt im Buch analysiert haben, sondern meine augenblickliche Situation?

Profit: Ja.

Krolow: Nun, ich habe zunehmend in meinem späteren, in meinem Alterswerk – manche nennen es so und es ist auch so – eigentlich einen langen Abschied genommen, einen langen Fortgang; ein langes Verschwinden, ja, Verschwinden und Reduzieren (stellten sich ein). Aber dieses Verschwinden, ja, Verschwinden, diese Abschiede, Adieus, von der Literatur vollzogen sich durch Literatur, mit Hilfe der Literatur. Dies ist mir jedenfalls oft auch bestätigt worden, und ich würde sagen, es ist auch so. Obwohl ich es nicht lassen kann im Abschied noch, habe ich – das ist jetzt nicht alleine meine Überlegung, sondern auch die Überlegung anderer, die es so sehen – im Sichverabschieden von einer Tätigkeit, die man lebenslang, die ich lebenslang versucht habe, eine gewisse Präsenz und eine gewisse Verbindlichkeit – ja, Verbindlichkeit reicht nicht aus – eine gewisse Präsenz erreicht, wie ich sie früher… so… möglicherweise, ich bin vorsichtig jetzt wieder, nicht erreicht habe. Also im Abschied die besondere Präsenz, die besondere Dringlichkeit, es zugleich Nicht-lassenwollen und doch das Verschwinden, das Reduzieren, das Altern, die Hinfälligkeit, auch der Literatur, der Äußerung, der literarischen Äußerung, aber natürlich auch der körperlichen, der psychophysischen Hinfälligkeit, oder des Alterungsprozesses, des Genughabens. So hat es wohl ausgesehen. Ich glaube, mich schon deshalb nicht zu täuschen, weil es mir mehr als einmal bestätigt worden ist von Leuten, die sich damit befaßt haben, mit den letzten zehn oder fünfzehn Jahren. Also jedenfalls, sagen wir mal, mit den achtziger Jahren, die wiederum ein sehr produktives Jahrzehnt waren. Das eine schließt das andere nicht aus. Ich konnte es nicht lassen, noch einmal und noch einmal und noch einmal dies zu sagen. Ein Abschied, der also nicht ein schnelles Verschwinden war, sondern sich immer vorausschieben lassen wollte, offenbar, jedenfalls; (es war) ein Abschied zugleich mit einer langen Rückschau, auf Leben und auf Arbeiten, auf Literatur, auf Gedichte, nicht unbedingt nur auf meine, sondern überhaupt auf Gedichte, auf diese Tätigkeit. Was ist das für eine Sache gewesen? Aber eben rede ich in der ersten und zweiten Vergangenheit, wenn ich so sagen soll; so würde ich es schon beschreiben, ein langes Adieu, als eines der Themen, allzugleich auch unter Beibehaltung mancher dazugehörigen, bei mir dazugehörigen Bereiche, sei es die Natur, sei es der erotische Bereich, sei es der gesellschaftlichkritische Bereich. (Erzählt) wurde aber eben aus der Perspektive des Davongehenden, der manchmal auch sagt, daß er genug hat, wie es andere auf andere Weise auch gesagt haben. Nur eben es ist ein immer wieder durch seine Wiederholung und Rückschau ein bißchen widerrufener, ein zögernder Abschied, ein Abschied mit viel Rückblicken, Sich-Umsehen, Zurücksehen. So würde ich es jetzt bildhaft schildern. Ich bleibe jetzt in diesem Bild des Davongehens, so will ich’s heute sagen. Das ist der Kern des späten Werks.

Profit: Warum ist dieses Abschiednehmen in einem gewissen Sinne so zögernd?

Krolow: Nun, man muß nicht über gewaltige Vitalität verfügt haben, um ein literarisches Leben nicht gleich aus der Hand zu geben, was es gibt und ins Schweigen verfallen, was nicht aufhört. Denn ein endgültiges Schweigen wäre sehr naheliegend unter den allein biologischen Voraussetzungen der letzten Zeit. Ich meine ein Autor, der sich im achten Lebensjahrzehnt bewegt und beinahe schon das Ende dieses Jahrzehnts erreicht hat, wird an dem Leben hängen, möchte vielleicht auch auf eine besondere Weise diesen Abschied verzögern. Das ist es. Es ist eine besondere Art noch von, ja soll ich sagen, Altersvitalität. Man hat mir einiges nicht vorgeworfen, gar nicht, sogar noch gemeint, daß ich – das ist, wie gesagt nicht von mir – daß ich im Abschiednehmen, im Davongehen, noch einmal besonders präsent war. Das ist ein Wort, wie gesagt, ein Zitat, das ich jetzt verwende, von einem Kritiker, der mir andererseits manches vorhält: eine gewisse Bedenkenlosigkeit. Er hat sogar von Schamlosigkeit gesprochen. Der Betreffende hat sogar einen Vergleich, den ich jetzt vor Augen habe, geführt, der zu weit geht. Sie werden nicht wissen, glaube ich – bei der Kenntnis, die Sie haben von mir, von meinen Büchern – daß es ein Buch gibt – das führt jetzt zu einem übertriebenen Vergleich – das sich Bürgerliche Gedichte nennt. Das sind schon… ich will nicht sagen, Pornographie ist übertrieben, ein sehr starker erotischer Impetus aber: Bürgerliche Gedichte. Das Buch ist zugleich eine Kritik an bürgerlichem Liebesumgang, würde ich sagen, oder erotischem Umgang, erotischen Beziehungen und Umgang, also ein Heruntermachen, ein Abrechnen, wenn Sie so wollen, in dem man vorwirft, in dem man zeigt, in dem man rüde, manche denken schamlos, sagt, was da im Liebesverkehr passiert und möglich ist, so direkt wie denkbar, so ungeniert, so schamlos. Ich weiß nicht was Schamlosigkeit ist, ich weiß schon eher wie es mit der Scham bestellt ist, mit dem Schamgefühl. Das schon. Aber nun, es war damals ein Schocker und manche haben das, die meisten haben das kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Aber es gab auch Zeitgenossen, Kritiker, Rezensenten, die von einem Aretino unserer Zeit gesprochen haben, diesem Italiener, der für gewisse einschlägige Erotika berühmt, berüchtigt geworden ist in der Weltliteratur. Das hat’s also auch gegeben. Aber daran schieden sich wirklich die Geister und die Rezensenten, die Kritiker, und der Vergleich zu diesem letzten Buch, das Sie bekommen werden, ist ein bißchen, wie wir sagen, an den Haaren herbeigeholt. Ich würde das so sehen und ich glaube nicht nur, ich würde das so sehen, als natürlich Hauptbetroffener. Man muß nicht mein Freund sein, um mir zu bestätigen, was ich jetzt gesagt habe, daß das ein schiefer Vergleich ist, ein nicht ganz korrekter Vergleich auch. Ich spreche jetzt von einer Sache, die Sie gar nicht kennen. Ich spreche deshalb davon, weil ich es gerade eben noch gelesen habe, gerade eben noch publiziert gefunden habe, also in diesen Tagen. Aber auch da ist – und so ist es, so gesehen, wie ich es sagte – vom Davongehen und der besonderen Präsenz die Rede, sozusagen mit der Rückschau, mit dem rückgewandten Kopf und nicht nur rückgewandtem Kopf, sondern überhaupt… Man hat noch einmal das Leben auf sich zukommen lassen, auf eine besondere Weise, und zwar sehr persönlich, sehr offen, sehr rückhaltlos, so wie es früher überhaupt nicht der Fall war, wo ich mich eher anonymisierte oder doch wie in den Gedichten, die Sie zitiert haben – nicht nur in dem ganz frühen von 1945, sondern auch in den späteren – versteckt habe hinter „Robinson“ oder auch nur „Jemand“ und so. Dies alles ist freilich nicht mehr in den späteren Gedichten aufgetaucht. Sondern ich bin mir selbst gegenüber, aber auch in der Beschreibung anderer, offener geworden, direkter geworden, rückhaltloser geworden, vielleicht sogar exzessiver geworden. Ich würde das schon einen Augenblick so nennen. Nicht nur einen Augenblick. Dies ist vielleicht jetzt etwas stark herausgestellt, aber ich glaube, daß ich es so sagen muß, um mich verständlicher zu machen, um mich abzusetzen von früheren, den mittleren Jahren, den Jahren nach Ihren Jahren auch, die Sie sich ausgesucht haben.
Inzwischen ist ja schon wieder eine ganze Zeit verstrichen, Jahrzehnte verstrichen, die siebziger Jahre, die achtziger Jahre, der Beginn der neunziger Jahre. Und nach den gewissen… doch Handikaps, durch Krankheit, durch Anfälligkeit oder Hinfälligkeit, habe ich mit dem Publizieren in der allerletzten Zeit – sagen wir mal neunundachtzig, neunzig – spürbare Rückgänge gehabt oder spürbares Nichtgelingen auch. Ich will noch nicht mal sagen, ich habe immerhin in diesem Jahr, wenn ich es mal so simpel sagen soll, gar nicht wenige Gedichte geschrieben. Ich rede nicht von Qualität, von gar nichts, nur von dem Vorgang des Gedichteschreibens. Wie ich es in früheren Jahren selten gehabt habe – ob die dann veröffentlicht werden, ist eine andere Sache – habe ich sehr viele Texte, die ich geschrieben habe, nie weggeworfen, sondern halte sie für mich hier parat. Zum Teil sind sie nicht mehr hier, sondern schon in Marbach, an diesem Sammelinstitut für die Bundesrepublik. Aber ich will sagen, ich habe schon in diesem Jahr, das lange noch nicht vorbei ist, immerhin zwischen siebzig oder achtzig Gedichte geschrieben. Es gab Jahre, wo es über hundert waren, in den achtziger Jahren, in den frühen achtziger Jahren vor allen Dingen. Es war nach jener Operation, die mir zu einem neuen Leben beinahe verholfen hat. Sie hat mir nicht nur zu bestimmten körperlichen, sondern (zu) geistigen, sensiblen Kräften verholfen. Das wirkte sich aus durch Schreibfreudigkeit oder Schreibfähigkeit, die sich häufte, die öfter eintrat, als ich (es) erwarten konnte. Ganz grob gesagt, die fünfzehn Jahre zwischen meinem sechzigsten und meinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr, vor allen Dingen. Dieser Zeitpunkt, zwischen meinem sechzigsten und siebzigsten Lebensjahr, ist ein literarisch für mich wichtiges Jahrzehnt gewesen, muß ich schon sagen. Vielleicht sogar das wichtigste, sage ich jetzt aus der immer noch großen Nähe natürlich und damit auch aus gewisser Befangenheit. Ich kann bei entfernteren Arbeiten, die mir beinahe fremd geworden sind – beinah immerhin, beinah, das Wort ist wichtig dabei – den besseren Überblick haben, sie besser übersehen, weil sie nicht nahe liegen. So ist das gelaufen, so ist das gewesen. Während ich jetzt noch mitten in diesem langen Abschied stecke. Ich will damit nicht sagen, daß jedes Gedicht davon spricht. Überhaupt nicht. Aber insgesamt liegt das drin, als Temperatur, als unterschwellig, als unbewußt, so. Nicht als ausdrückliches Thema, das will ich jetzt nicht sagen; das wäre ja entsetzlich monoton. So meine ich selbstverständlich das nicht. Ich will es als Phänomen beschreiben, wie ich sagte, als unbewußt, als Hintergrundsverhalten… Ja, eben so. Das ist die lange Antwort auf Ihre kurze Frage.

Profit: Noch eine Frage dazu. Warum haben Sie dann nicht mehr Decknamen, sowie „Jemand“ oder „Robinson“ gebraucht? Da muß der Tag gekommen sein, wo Sie das alles weggelassen haben.

Krolow: Ja, ja. Ich war mir, so gesehen als Person, als Individualität, als der, der ich bin… in meiner Besonderheit oder Vereinzelung oder als einzelner, als der, der Karl Krolow heißt, nicht mehr beschreibbar geworden. Gewisserweise bin ich mir auch wichtiger geworden, wie einem etwas wichtig wird, gewissermaßen im vorletzten Augenblick, wie einem etwas besonders wichtig wird, noch im Verlieren von Fähigkeiten, im reduzierten Leben, im dezimierten Leben. Ich will es jetzt betont übertrieben sagen; so dezimiert ist es wiederum auch nicht. Aber schon das Abnehmen von physischen Fähigkeiten macht sich bemerkbar, würde ich schon sagen, und das Erleben vom Alterungsprozeß, nicht nur bei mir, sondern bei meiner Generation, um mich herum, bei Freunden und Feinden. Im Grunde habe ich den Abgang notiert, meinen und den der anderen, die ich nicht genannt habe. Schließlich jeder hat seinen besonderen Abschied. Das ist sicher. Die Welt ist voller Adieus immer gewesen und auch früh gewesen für mich. Insofern bin ich – nur besonders verstärkt vielleicht, besonders sichtbar vielleicht, besonders dringlich vielleicht, besonders hartnäckig – noch einmal auf etwas gekommen, was auch früher schon bei mir da war, aber sich anders zeigte. Es zeigte sich vielleicht nur in einem Sich-und-seiner-selbst-nicht-sicher-sein und in allen diesen Unsicherheiten, Irritationen, Widerrufbarkeiten, alles, was ich ja auch schon angesprochen habe. Das waren Vorstufen zu diesen Adieus, zu denen ich später gelangte. Natürlich war dieses Thema nur in einer Reihe von Gedichten aufzufinden, aber es war doch prononciert. Es ist nicht unübersehbar, würde ich sagen, wenn man das als Leser in die Hand bekommt in einem Buch. So habe ich es eben geschrieben.

Profit: Einmal beantworteten Sie die folgende Frage: Ihr Motto? indem Sie sagten, man kann ein Leben nicht auf einen Satz bringen.

Krolow: Ja.

Profit: Frisch, oder war es Camus? sagte einmal: jeder Schriftsteller oder Dichter widmet sich wirklich nur einem einzigen Thema oder einer einzigen Frage. Meinen Sie, das wäre auch für Sie der Fall, oder sieht man die Dinge, wenn man sie so sieht, auf zu einfache Weise?

Krolow: Es ist etwas daran, was der Frisch sagt. Es gibt bestimmte Lieblingsbereiche, auf die man immer wieder, ob man will oder nicht, zurückkommt. Es muß nicht gleich der… um noch einmal von Liebe zu reden, der erotische Bereich, in einem sehr weiten Sinne sein, sondern es kann sehr wohl auch der politische Bereich sein. Das Helfen durch Worte ist nicht wenig, und ich kann mir denken, wer sich darauf eingelassen hat, hilfreich zu sein, hilfreich sein zu wollen, im Wort, durchs Wort, mit dem Wort, mit Hilfe des Wortes, wie gesagt, (der kann) davon eben so schwer lassen, wie jemand von der menschlichen Liebesfähigkeit. Es gibt Autoren dieser Art, die immer wieder (auf ein einziges Thema) zurückkommen, (die) nuancieren, wiederholen, nicht bis ins Wort, aber doch bis in die Temperatur, bis in das Klima hinein, verstreut in mancherlei Varianten, Nuancen und so. Das schon. Aber eine Dichtung kann durchtränkt sein von ja… jener menschenlosen Natur, wie es die Naturlyrik einst war, (vom) biologischen Bereich, gleich welcher Art, (der) die letzte Zeit notwendig und verbindlich (geworden ist). Es gibt Autoren freilich, die das eine und das andere (Thema behandeln) und komplex genug sind, um sich nicht mit ein oder zwei Hauptsachen, Hauptanliegen zu begnügen, sondern in der Entwicklung ihres Lebens und ihrer Erfahrung eines und das andere und das Weitere tun und aussprechen und sagen. Ich persönlich meine, daß ein Autor auch für Überraschungen sorgen soll; wenn der sich so oder so festlegt, beginnt für den Leser und für ihn selbst, finde ich, eine besondere Art der Langeweile und des Unmuts mit sich selbst.

Profit: Was verstehen Sie unter einem ordentlichen, einem guten, unter dem besten Gedicht? Was muß dazu gehören?

Krolow: Ja. Verführung. Die Worte, die die Kraft haben, zu locken, aber natürlich auch die richtigen Leser finden müssen. Und wer sind sie? Dieses seltene Ereignis gibt es zuweilen. Darauf sind sie ja angewiesen. Und die guten Gedichte werden auch von den Lesern gemacht, und nicht nur von den Autoren. Wenn die Gedichte gute Leser finden, werden sie vielleicht erst zu guten Gedichten. Ich gehe jetzt ein bißchen weit vor. Aber natürlich, die Substanz, die Verführung, die Überredung, das Übereinstimmen, das geheime oder spontane oder überraschende oder überfallartige Übereinstimmen einer bestimmten sensiblen Temperierung, sozusagen, nicht wahr? Die muß vorliegen. Dieses Ereignis muß eintreten. Ja, es sind ja Blitze auch dabei, und also etwas… ich sagte Überfälle, es sind, es sind Bestätigungen, es sind… Wiederfindungen. Man kann sich identifizieren. Man kann vielleicht eine eigene Identität leichter finden, indem man auf das rechte Gedicht stößt. Welches ist das rechte Gedicht oder auch das rechte Stück Literatur? Dies sind Überraschungen. Dies nimmt man sich auch wieder nicht vor. Wie komme ich zu Lehmann? Vielleicht durch eine Lektüre in der Zeitung, in einer Zeitschrift? Ich weiß es nicht.

Profit: Sie erwähnten vor ein paar Sekunden den Leser, und Sie haben ihn auch gestern erwähnt. Welche Rolle spielt der Leser bei der Entstehung eines Gedichts?

Krolow: Oh, er ist eigentlich schon bei der Konzeption des Gedichtes dabei. Ich bin nicht allein, habe ich, glaube ich auch einmal gesagt, wenn ich Gedichte schreibe. Es sind die Vorbilder, die als Geister in diesem Geisterraum da sind. Die anderen (die dabei sind, sind) die Leser, die für mich disponiert sind, denn andere Leser kann ich mir nur schwer vorstellen. (Dann gibt es) die-gut, gut-(die) das brauchen, die berufshalber notwendigerweise dieses und jenes kennenlernen müssen, einfach Bescheid wissen müssen, wie Germanisten, zum Beispiel. (Übrigens können) die ummöglich alles das, was sie gelesen haben, was (ihnen) in die Hände gefallen oder gekommen ist, gutheißen. Gott sei Dank! Das ja wohl nicht. Aber immerhin müßten (sie) oder sollten (sie wissen), daß es so etwas gibt, und daß es gar nicht genug geben kann von Überraschungen und von Ärgernissen und Verwunderlichem, und wenn ein Autor dann auch noch das Seine dazu tut, diese Überraschung ein bißchen zu beleben und nicht nur ein bißchen, dann ist schon ziemlich viel erreicht. Dann hat man auch den nicht gleich unbedingt disponierten Leser, den Fan, dem ein bestimmter Schriftsteller geradezu auf den Leib geschrieben ist, und er entdeckt ihn, ein für allemal auch, und wirklich ein für allemal, das heißt für ein Leben. Das Leben mit Goethe will ich damit nicht als besonderes Beispiel jetzt nennen, obwohl ich es jetzt gesagt habe, so ein Leben auch mit Rilke, oder mit ziemlich unbekannten Autoren und Autorinnen. Ein geheimes, wiederum geheimes und höchst individuelles Leserleben mit einem gewissen Autor über eine, unter Umständen lange Zeit, um nicht Lebenszeit zu sagen, eine Entdeckung ein für allemal, ein Zuschnitt ein für allemal für diesen disponierten Leser, spielt dabei eine erhebliche Rolle. Und manchmal gibt es ja diesen gleichen Gefühlsstand.

Profit: Gestern haben Sie auch erwähnt das gute Gedicht, oder das beste Gedicht. Könnten Sie noch etwas darüber sagen?

Krolow: Das gute, das beste Gedicht? Wie es beschaffen sein soll oder?

Profit: Wie es beschaffen sein soll. Wie wissen Sie, wenn Sie diesen Punkt erreicht haben, wenn das Gedicht gerade das aussagt, was Sie sich ursprünglich vorgestellt hatten?

Krolow: Ah ja. Das gute oder beste Gedicht weist auch die Vorstellung aus – wie soll ich sagen – dies ist ein Stück von mir, von einem andern zwar oder ach! wäre es doch ein Stück von mir. Aber indem ich es so sehr mag und sage ein gutes Gedicht oder gar das beste, ist es ja wohl schon ein Stück von mir geworden, von einem andern mir angeboten. (Es ergibt sich) diese Verbindung, diese Übereinstimmung, die kompliziert, schwer beschreibbar ist, schwer in Worte zu bringen, aber vorhanden ist, als ein Bestätigungsgefühl. Auch ein Element von Euphorie und Glück ist dabei. Euphorie würde ich sicher sagen. Das Euphorisieren am Gedichte und eben diese Wünsche: als wäre es ein Stück von dir, das könntest du, das hättest du schreiben sollen, oder so. Als etwas sehr Verlangtes. Eine Identifizierung, eine Identifikation, die eintritt und wirksam wird und (es) zu solchen Überlegungen kommen läßt, wie ich sie eben genannt habe.

Profit: „Wofür sind Sie dankbar?“

Krolow: Für alles, was ich im Augenblick vergessen habe zu sagen dazu. Es sind auch hier wieder unbeschreibliche Augenblicke: menschliche Begegnungen, geistige Begegnungen, hilfreiche Begegnungen, lebensrettende Begegnungen, aber auch dafür (bin ich) dankbar, daß es, um Nietzsche wieder einmal zu zitieren, jenen Zufall, jene Unschuld gibt, von der Nietzsche gesprochen hat. Es geht nicht um den Zufall, der einem zustößt, sondern (um) diesen einem zugedachten Zufall, der auch wirklich passiert.

Profit: Sie haben vor ein paar Minuten erwähnt, daß das geschriebene Wort helfen soll. Inwiefern?

Krolow: Helfen kann, nicht muß. Ermutigen könnte ich zum Beispiel auch sagen. Ermutigen zu mancherlei. Das muß nicht gleich selber schreiben heißen, aber auch das (ist) durchaus mitgemeint. Sicher sind es die ermutigenden Verse oder die ermutigenden – ach! sagen wir mal schon Gedichte; ich will dabei bleiben – die Ansporn geben, die den Mut realisierbar machen, den Versuch realisierbar machen, es einmal so ähnlich zu versuchen. Ich will nicht sagen genauso gut, genauso vollkommen, genauso überwältigend, aber doch auf eine Weise, die, auf eine ganz bestimmte Art, auch lebensbestätigend (ist), gar auf eine bestimmte Weise am Leben, wie man einiges tut, zum Beispiel schreibt, das ist eine bestimmte Art von Lebensbewußtsein. Man ist, man spürt: hier bist du am Leben, für diese Augenblicke, für diese Zeit, für diese lange oder kurze Zeit meistens. Ich bin immer für die Minutenmöglichkeiten. Das ist schon sehr viel. Da muß man nicht aushalten, durchhalten. Da kommt der Widerruf noch nicht gleich, da kommt das Grübeln noch nicht gleich, da kommt die Rücknahme nicht gleich. Alle diese Dinge, die in Zweifel ziehen, die etwas brüchig machen, die etwas, ganz vorsichtig vielleicht nur, verändern können. Diesen Augenblicken wird in der kurzen Zeit die Gelegenheit nicht gegeben, wirksam zu werden. Daher Minutenglück und so weiter.

Profit: Also Dauerhaftigkeit hat damit nichts zu tun?

Krolow: Dauer? Dauer? Dauer? Bei Leuten mit… sagen wir, die aus dem Märchen steigen, das ist eine Märchenfigur. Da mag das möglich sein. Wie auch das Gegenteil im Märchen. Märchen sind bösartig, muten manchen manches zu. Aber ich meine jetzt das Märchenhafte im Sinne des Unglaublichen, des nie für möglich Gehaltenen, (das) Wunder.

Profit: Wofür sind Sie dankbar, war eigentlich die Frage?

Krolow: Ah ja. Das war die Frage, und ich blieb beim Wunder!

Profit: Glauben Sie an Wunder?

Krolow: Mindestens an wunderähnliche Täuschungserscheinungen.

Profit: Wunderähnliche Täuschungserscheinungen?

Krolow: Ja.

Profit: Da müssen Sie mir erklären, was Sie damit sagen wollen.

Krolow: Die Illusionen, die Sie dann aufbauen. Selbst.

Profit: Braucht der Mensch Illusionen?

Krolow: Natürlich. Unablässig. So oft wie möglich.

Profit: So oft wie möglich?

Krolow: Ja.

Profit: Warum?

Krolow: Weil das Leben sonst nicht auszuhalten wäre.

Profit: Sie meinen, daß auch eine Illusion einen Zweck erfüllt?

Krolow: Oh ja. Ja. Die Illusion ist überaus sinnreich. Wenn sie nur etwas in der Schwebe ließe, wäre das noch Hilfe genug. Aber was eine richtige Illusion ist, bietet ja sehr viel mehr. Wie gesagt, das Wunder, das Märchenhafte. Direkt aus dem Märchen entstiegen, habe ich vorhin gesagt und meinte damit eben, worauf ich jetzt noch einmal zurückkomme und wiederhole. Ich komme aus dem Fürchten und Hoffen gar nicht mehr heraus.

Profit: Welche französischen Autoren lesen Sie am liebsten? Oder deutsche?

Krolow: Die ganze französische Literatur ist mir nicht bekannt. Aber eben diese recht gute deutsche Ausgabe habe ich, na – ich weiß nicht wie lange schon, zwanzig Jahre sicher oder länger – zerlesen, im wahren Worte und so oft in der Hand gehabt, daß diese taschenbuchähnliche Ausgabe, die leicht, allzu biegsam ist und allzu anfällig ist, eben auch durch Benutzung, bei Benutzung (fast zerfallen ist). Es sind eben, nun gut, zwei Hände voll, auf die ich doch immer wieder zurückkomme. Und Flaubert gehört auch dazu. Genauso. Ich meine jetzt nicht Madame Bovary oder Salammbô oder so etwas. Nein, ich meine ganz bestimmte Briefe, seine Briefe an seine Freunde und an seine wechselnden Jugendfreunde bis zu den späten Briefen, die es auch in guten deutschen Ausgaben gibt. Gerade jetzt ist wieder ein sehr interessanter Band (von Flaubert) erschienen, sein Briefwechsel mit seiner Meisterin, wie er sie nennt, der älteren George Sand. Und das ist doch literarisch-menschlich. Da geht beides zusammen. Und dieses… und überhaupt Leben auf eine bestimmte Weise, wie es gelebt wurde; auch in seinen Grenzen natürlich. Flaubert ist ein, ein guter Onkel, ein schrecklicher Polterer, ein, ein Rauhbein. Aber er kann auch sehr, sehr nett und freundschaftlich, wohlgemerkt, gerade zu seinen frühen Freundschaften, Jugendfreundschaften (sein). Das alles ist zunehmend für mich reizvoller als eine Novelle, ein Roman. Gedicht ist doch wieder anders. Gedicht. Ich habe nicht ganz zufällig keinen einzigen Gedichtband, keinen einzigen Gedichtband genannt. Ich hätte nennen können: Rilke und noch einmal Rilke. Aber das bezieht sich auch auf Zeiten, wo ich selber noch ganz jung war, und ich muß sagen, fast nichts geschrieben habe, oder überhaupt so gut wie nichts. Es sei denn jugendliche Auslassungen, jugendliche Kleinigkeiten von der Art, wie ich sie ja gestern angedeutet habe. Aber Rilke war mir so wichtig und so nah, daß in den Tagen als der zweite Weltkrieg ausbrach, und wir alle nicht wußten, natürlich nicht wußten, was das nun wohl würde – dieser neue Krieg – habe ich mich, ja ich muß sagen, zu Rilke geflüchtet. Es war ein Refugium: der späte Rilke, der Rilke der „Sonette an Orpheus“, der „Duineser Elegien“, aber überhaupt Rilke und was mit Rilke zu tun hatte. Ich sehe mich noch lesen und versuchen, die Tage so gut wie möglich nicht zu vergessen, aber doch zu überbrücken, zu überwinden oder so literarisch, menschlich, persönlich, für mich zugerichtet sozusagen, angerichtet, wie Sie’s stellen wollen, wie möglich (zu überleben). Das ist meine wirklich sehr alte Beziehung, die schon aus der Schüler-, Schulzeit stammt, zu Rilke eben. Aber im Laufe der Zeit hat sich sehr viel dazwischengedrängt, und ihn, so gesehen als wichtigen Autor, auf den man immer wieder zurückkommen könnte, abgedrängt. Da würde ich eher Benn sagen. Oder zum Beispiel auch… ja, es fällt mir schwer deutsche Namen oder überhaupt ausländische Namen zu nennen, obwohl ich Valéry einmal sehr… mir sehr wichtig war. Oder einige Spanier. Nicht nur die, die ich übersetzte, auch Autoren, die ich nicht übersetzt habe. Die zum Teil (von) mir, auch aus reinen Gründen der Übersetzungsfähigkeit, nicht übersetzt wurden. Einige mir zu komplizierte Autoren, schon. Aber, ich will endlich sagen, daß Paul Valéry (mir wichtig war). Ihn hatte ja Rilke eben schon übersetzt und ich kannte Valéry zunächst via Rilke, durch Rilke eben; das muß ich auch sagen. Aber gut, ich meine jetzt später, die Originale, das Lesen der Originale, der Gallimardausgaben mitten im Krieg eben zu einer Zeit, wo es nur mit bestimmter Erlaubnis möglich war so etwas zu lesen, (mir diese Zeit zu überbrücken verhalf). So weit ging das immerhin. Gut. Das war das.

Profit: Sie haben auch einmal Musil erwähnt. Warum lesen Sie gerne Musil?

Krolow: Nein. Ich lese gerne das, was sein Leben ausmachte und was er hinterlassen hat an Tagebuchaufzeichnungen. Der Mann ohne Eigenschaften, und nicht nur er, es könnte auch Der Zögling Törleß sein, sind für mich ein bißchen… ah nein, ich habe nicht die Geduld. Das ist überhaupt ein Problem, die Geduld am Lesen, am Lesen wohlgemerkt. Abgesehen davon, daß ich ein ungeduldiger Mensch bin und immer stärker ungeduldig (werde). Schlecht für mich. Aber es ist so, und ich sehe es gerade in schwierigeren Zeiten, wie jetzt, wo ich diese Krankheit, diese Operationen hinter mir habe, (da) wächst so etwas. Und das wirkt sich aus. Das wirkt sich aus beim Fragen und Antworten. Das wirkt sich auch aus beim Lesen und eigentlich bei vielen Dingen, beim Warten auf irgend etwas. Ich bin ein leider sehr wenig geduldiger Mensch, der das Warten nicht versteht, das Warten auf jemanden, und wenn es meine Frau ist, die Einkäufe macht und nicht so schnell wiederkommt, wie ich es erhoffe, und allerdings es kommt hinzu, daß ich befürchte, es ist ein Unfall oder so etwas (vorgefallen). Nicht? Das muß ich hinzufügen. Das wäre für mich nicht auszudenken und einfach eine Katastrophe sowieso. Dies spielt in diesem Falle natürlich auch eine bestimmte Rolle.

Profit: Sie haben auch vorher Rilke erwähnt. Haben Sie da ein Lieblingsgedicht oder ist das zu eng gesteckt, das Thema?

Krolow: Ja, ich würde… aus dem Kopf kann ich nicht sagen, welches der Sonette es ist. Ich könnte es vielleicht nachsehen, wenn Sie wollen. Es sind einzelne Sonette an Orpheus, die ich meine, aber die ich jetzt nicht zitieren kann, wie ich überhaupt meine eigenen Gedichte, nicht ein einziges, zitieren kann. Wohl aber ein so verrücktes Gedicht, wie von Paul Arp, Hans Arp. Jean Paul ist falsch, Jean Hans Arp, so heißt er wohl, wir sagen nur Hans Arp. Es gibt einen Gedichtband von ihm, der heißt Opus Null, und darin kommt dieses Gedicht vor:

er kommt abhanden mit der hand
er kommt abfußen mit dem fuß
und trägt in seinem taschenfleisch
den aufgerollten redefluß

in acht und bann und neun und zehn
so übermannt und überfraut
daß keiner je sich je und je
und an der tafel nacktes kaut

sonst triptycht das grammatikkreuz
stanniol verpackt als schwarzer spaß
als einzahl mehrzahl rübezahl
als faselhans am faselfaß

Das war Hans Arp. Aber wenn Sie mich nach einem eigenen Gedicht fragen, werde ich sagen: ich bedaure, ich kann keines.

Profit: Wieso ist das so?

Krolow: Weiß ich nicht! Ich stelle das nur fest. Kann ich nicht sagen.

Profit: War es immer schon so?

Krolow: Ja. Ich hätte Ihnen dieses Gedicht auch mitten im Kriege, also vor wirklich, sagen wir mal, fünfzig Jahren (aufsagen können). Es hat sich mir eingeprägt durch das vollkommene Anders-sein dieser dadaistischen Lyrik von kurz nach dem ersten Weltkrieg oder im ersten Weltkrieg geschrieben, als ich selbst noch ein ganz junger Mann war. Und das war so sehr konträr zu der Zeit, als ich es kennenlernte, nämlich zur Zeit eben wo, ja, der Krieg entweder drohte schon oder war es schon Krieg, ich weiß es nicht. Ich habe es meinem kleinen Jungen als eines der ersten Gedichte, die ich überhaupt ihm zuführte oder womit ich ihn bekannt machte, dieses Gedicht so oft gesagt, wie ich es Ihnen eben auch aufgesagt habe. Es erstaunt irgendwie. Warum ich es behalten habe, muß unter den ungewöhnlichen Umständen des Konträren (zu finden sein), des Gegensätzlichen zu dem, was um mich herum geschah und auch geschrieben wurde. Nicht nur, aber auch anders geschrieben. Aber ich meine jetzt das, was wichtig war für die damalige Zeit, was eine Rolle spielte, was charakteristisch war, jene jetzt weit entfernte, ja geradezu vollkommen vergessene Poesie, oder – wie soll ich sagen – überhaupt Literatur der faschistischen Jahre in Deutschland. Und vor diesem Hintergrund muß solch ein verrücktes Gedicht oder besonderes Gedicht sich eingeprägt (haben), solch ein Gegensatz an Schreibfähigkeit und Gedichtmöglichkeit, daß es sich überhaupt so hartnäckig bei mir festgesetzt hat. Bitte. Damit hört mein Zitat auf. Ich kann Ihnen kein Goethe Gedicht aufsagen, dies nicht. Dieses und jenes, das schon, manches (kann ich Ihnen aufsagen). Ich meinte das so, wie ich es eben gemacht habe. Nun ja. Eine Anekdote, es ist mehr, mehr anekdotische Bedeutung, was ich Ihnen eben gesagt habe. Aber so ist das bei mir. Und Sie haben es jetzt (gesehen), durch Ihre Fragen.

 

Geleitwort

Wo ich mir den erforderlichen Mut herholte, daß weiß ich wohl heute nicht mehr. Aber zu guter Letzt wurde dann doch mein Buch – ausgerechnet über seine autobiographischen Gedichte – einfach verpackt und Karl Krolow zugeschickt. Daß sein Brief und somit die Einladung ihn zu sprechen überhaupt, geschweige denn, so schnell eintraf, das hätte sich unter den günstigsten Voraussetzungen nicht träumen lassen.
Die genauen Daten des Besuches wurden festgelegt, die Reise unternommen. Am 25. Juli 1992 lernte ich Karl Krolow zum ersten Male persönlich kennen. (Durch seine Werke bin ich mit ihm schon bekannt gewesen, aber jetzt standen wir uns leibhaftig gegenüber. Das war etwas ganz anderes.)
Erwartet hatte ich natürlich einen Dichter: somit Empfindsamkeit und die außerordentliche Gabe, die Welt in Worte zu fassen. Infolge mehrerer Briefe und Telefongespräche erwartete ich ebenfalls einen schmächtigen, älteren, einen von Krankheit geprüften Mann. Beides fand ich vor. Der eine war nicht ohne die Gegenwart des anderen zu denken.
Gleich an diesem ersten Samstagvormittag fingen wir zu arbeiten an. Als die Reisepläne geschmiedet wurden, wußte ich nicht, ob Krolow es mir erlauben würde, ein Tonbandgerät zu benutzen; er erlaubte es mir. Auch erlaubte er mir, alle und jedwede Fragen zu stellen. Ich hingegen meinte, würde er es für richtig halten, so bestand für ihn jederzeit die Möglichkeit, die eine oder die andere Frage unbeantwortet zu lassen und dieselben würden infolgedessen nicht ins Protokoll aufgenommen werden. (An einem ungeduldigen Nachmittage bezeichnete er unsere Gespräche als ein Verhör.) Außerdem versuchte ich, ihn zu vergewissern, daß er später die Transkriptionen zu lesen bekäme und wolle er dann etwas streichen oder hinzufügen, so könne dies ohne weiteres auch noch geschehen. Alle Fragen wurden beantwortet; nichts wurde gestrichen, nichts geändert. Krolow nahm die Transkriptionen (samt den meisten Anmerkungen) sogar zweimal unter die Lupe.
Die Fragen selber waren von zweierlei Art: die von mir und die von Max Frisch gestellten. Erstere verstehen sich fast von selbst; sie bezogen sich hauptsächlich auf Krolows dichterische Tätigkeit, seine Beziehungen zu zeitgenössischen Schriftstellern. Zweitere hingegen nicht.
Mitte der siebziger Jahre hatte sich mir die Möglichkeit geboten, einem Vortrag von Frisch in Chicago beizuwohnen. Des Schweizers Wahl fiel auf seine zwischen 1966 und 1971 entstandenen Tagebücher. Auf einmal fing er damit an, die darin enthaltenen Fragebogen zu zitieren. Schlagartig schenkte ihm die Hörerschaft ihre ganz besondere Aufmerksamkeit. Deutlichst konnte man wahrnehmen, wie einzelne mit allen Mitteln versuchten, auf diese bedeutungsvollen Fragen Antworten zu formulieren, über sie ernsthaft nachzudenken. Diesen Fragen und den ihnen zugeordneten Themenkreisen mußte man seine ganze Konzentration aufbieten, denn sie waren alles andere nur nicht oberflächlich oder einseitig.
Sie erforschten das gesamte menschliche Leben: nach welchen Richtlinien steuert der Mensch sein Leben, wo versucht er seine Existenz aufzubauen, mit wem teilt er seine Stunden, seine Tage, worüber muß er verfügen, damit das Leben lebenswert wird?
Im einzelnen waren die Fragen folgendermaßen formuliert: Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben? Hoffen Sie auf ein Jenseits? Was bezeichnen Sie als Heimat: ein Dorf, eine Stadt oder ein Quartier? Kann Ideologie zu einer Heimat werden? Lieben Sie jemanden und woraus schließen Sie das? Halten Sie die Dauer einer Freundschaft für ein Wertmaß der Freundschaft? Wissen Sie, was Sie brauchen? Was empfinden Sie als Eigentum: was Sie gekauft, geerbt oder gemacht haben?
Diese Fragebogen öffneten manchmal auf behutsame, manchmal auf eindringliche Weise die Türen des Geistes, des Herzens, die Falten der Seele. Kurzum, sie ließen einen nicht in Ruhe.
In demselben Augenblick, wo mir die Gelegenheit geboten wurde, Krolow zu sprechen, erinnerte ich mich an diese Tagebücher, an diese Fragenstellungen. Wie würde jemand, der sich den äußerlichen und innerlichen Landschaften mit Haut und Haaren seit Jahrzehnten verschrieben hatte, wie würde jemand, der genauestens das sagen könnte, was er wollte, diese Fragen beantworten?
Hinzugefügt muß noch werden, daß Krolow nicht die leiseste Ahnung von der Art der Fragen hatte, die ihm gestellt werden würde. Auch wurde ihm nie deren Reihenfolge oder Anzahl im voraus bekannt gegeben. Ihm wurde die Möglichkeit dazu nicht angeboten, und gebeten hat er auch nicht darum. Offensichtlich schien er nicht das geringste Interesse daran zu haben, die Sache etwas leichter in den Griff zu bekommen. Für ihn hieß das oberste Gebot Spontaneität. (Und es blieb dabei. Noch in einem Telefongespräch viele Monate später, wies er darauf hin, daß nur auf diese Weise hätten sich diese Gespräche vollziehen können oder sollen; das Unmittelbare des Gesprochenen müsse auf alle Fälle beibehalten werden.)
Aber an diesem ersten (sowie an den darauffolgenden zwei Tagen) mußte der Dichter noch zusätzliche Schwierigkeiten in Kauf nehmen. Unmittelbar vor meiner Ankunft in Darmstadt hatte Krolow sich zwei Operationen unterziehen lassen müssen. An Diabetes hatte er schon jahrelang gelitten; daran hatte sich nicht das Geringste geändert. Die enorme für Darmstadt ungewöhnliche Hitze, die hohe Luftfeuchtigkeit, auch diese erleichterten ihm die Aufgabe nicht. Außerdem nahm ihn diese ihm alles abverlangende Arbeit nicht nur ein oder gar zwei Stunden täglich in Anspruch, sondern dieselbe setzte meistens um zehn Uhr morgens ein und hielt bis sieben oder halb acht Uhr abends an. Unterbrochen wurde der Arbeitsablauf nur zweimal: zur Mittagszeit und wieder um ungefähr vier.
Es wäre ein beträchtliches Versäumnis, würde es völlig ungesagt bleiben, wie die Mahlzeiten bei den Krolows verliefen. Denn auch sie galten als Ausdruck dafür, in welcher Atmosphäre sich diese Gespräche vollzogen haben und wieviel Wohlwollen, Großzügigkeit und mitmenschliche Wärme Karl Krolow und seine Frau Luzie mir entgegenbrachten. (Seit diesem ersten Besuch im Juli 1992 war ich bei den Krolows noch zweimal zu Gast; diese ersten Eindrücke sind immer noch maßgebend.) Unsere Tischgespräche waren offen, aufschlußreich und sobald ein literarisches Thema angeschnitten wurde, für jemanden, der die meisten (wenn auch nicht alle) zeitgenössischen Literaten und Schriftsteller ausschließlich durch Lesen hatte kennenlernen können, von bleibendem Wert. Auch die Speisen bezeugten ein beachtliches Verständnis für Gastfreundschaft; beim Tafelspitz, Perlhuhn, Lachs und den Wachteleiern fing dieses an und bei der Sachertorte; dem Rhabarber- und Mohnkuchen war es noch lange nicht zu Ende.
Aber zurück zur eigentlichen Arbeit, zum Interview. Schon allein seine Gedichte, seine Aufsätze, das was die Öffentlichkeit von Krolow zu sehen bekam, aber auch die Art und Weise, auf die er seine Briefe an mich entwarf, hatten mich darauf vorbereitet, daß ich es mit keinem verschlossenen, sondern mit einem zugänglichen Menschen zu tun haben würde. Aber trotzdessen war ich besonders in den ersten Stunden eher zurückhaltend und wählte absichtlich als Ausgangspunkt aus dem Themenvorrat diese die mit dem Wort, der dichterischen Berufung, mit dem Schreiben zu tun hatten. In diesem Bereich würde sich Krolow nicht nur vortrefflich auskennen, sondern gerade weil dies offensichtlich der Fall war, könnte er sich mit den Einzelheiten des gesamten Unternehmens (und auch mit mir) vertraut machen, konnte sozusagen Fuß und zu gleicher Zeit Mut fassen.
Letzteres bedarf einer Erklärung. Wie schon erwähnt, war Krolow kein gesunder Mensch, als wir uns kennenlernten, die Rückkehr aus dem Krankenhause war erst wenige Tage vor meiner Ankunft erfolgt und außerdem – das ist jetzt vermutlich das Wichtigste dabei – obwohl dieser Dichter zweifelsohne Außerordentliches geleistet hat und ihm dies auf einer bestimmten Ebene natürlich auch gewahr ist, haftet ihm bis zum heutigen Tage eine unverkennbare Verletzlichkeit an, ein Hauch von Scheu, eine gewisse Sanftmut. Während ihm Frage um Frage gestellt wurde, hatte ich ab und zu das unentrinnbare Gefühl, daß sich in seinem Innersten Bedenken anmeldeten, ob und auch wie er das Erforderliche schaffen, bewältigen, meistern würde. (Dieses Ergebnis fand ich um so erstaunlicher, als ich keinerlei Zweifel hatte, daß er der gegebenen Situation standhalten würde; meine Zweifel kreisten ausschließlich darum, ob hingegen ich der Sache gewachsen war.)
Es liegt auf der Hand, daß die gefährdete Gesundheit, die biologischen Voraussetzungen eine größere Rolle spielten, aber die geistigen Anforderungen, die der Dichter sich selber auferlegte, spielten eine weit markantere. Immer wieder sah ich einen Menschen vor mir – war er im Moment müde, ungeduldig, gereizt oder ruhig und gelassen – der den Fragen, den unablässigen Fragen gerecht werden wollte. Er rang mit ihnen (möge es kosten, was es wolle), hatte das Bedürfnis sie gründlichst durchzudenken, jede Nuance abzutasten, wollte schließlich die für ihn verbindlichen Worte finden.
Diese Worte durften nicht mit Pathos beladen oder anmaßend sein. Nein, nein. Nur nicht unumstößlich oder zu deutlich. So leicht wie ein Vogel der „durch ein Gedicht fliegt, ohne es zu belasten.“ Bescheiden. Unaufdringlich. „In unauffälligen Worten ist etwas“ und dann legte er eine Pause ein und schloß mit dem Wort „Menschliches“.
Manchmal erreichte er sein Ziel, erreichte das Menschliche, war mit dem Resultat zufrieden, andere Male schien er es nicht zu sein. Und dann bestätigte er sein Mißfallen. Indem ich ihn so stunden- und tagelang vor mir arbeiten sah (und er leistete Schwerarbeit), ihn beim Laut-vor-sich-hin-Denken beobachten konnte (manchmal geriet ich dabei in eine gewisse Verlegenheit; in solchen Momenten sollte man allein sein), erinnerte ich mich unwillkürlich an Rilkes Vermutung, die im Malte den Niederschlag fand: „Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre. …“ Rilke hätte genauso gut noch hinzufügen können: und liebte das Menschliche.
Wenn ich an Krolow (an meine Besuche bei den Krolows) zurückdenke, wie zuvorkommend er mir gegenüber war, wie er die Haustür schon aufgemacht, obwohl ich erst die Schwelle des Gartens erreicht hatte, so fällt mir immer wieder dieses Wort ein. Und des öfteren habe ich es auch in unseren Werk- und Tischgesprächen gehört! Des öfteren lese ich es in Krolows Briefen! Es ist für ihn, für sein gesamtes Wesen, für seine Ausdrucksweise, seine Lebenseinstellung kennzeichnend, entscheidend. Menschlich ist für ihn zum Stichwort geworden. Er ist und bleibt Dichter, ein berühmtgewordener Dichter (das ist nicht wegzudenken), aber vorallem ist und bleibt er in erster Linie Mensch.

Zur Textgestaltung

Die sechs Kapitel stellen die Gespräche dar, die Karl Krolow und ich bei drei verschiedenen Gelegenheiten führten: am 25. bis zum 27. Juli 1992, am 6. bis zum 8. März 1993 und am 20. und 21. Juni 1995. Die in Klammern gefaßten Worte fügte ich den Transkriptionen hinzu, weil Krolow manchmal mit so sanfter Stimme antwortete, daß das Tonbandgerät das Gesagte nicht aufnehmen konnte. Hoffentlich erleichtern sie dem Leser seine Aufgabe. Wie schon angedeutet, hat Krolow diese Seiten zweimal durchgelesen und gemeint, sie entsprächen seinen Erwartungen.

Vera B. Profit, Vorwort

 

Ohne die exemplarische Bedeutung

des Werkes Karl Krolows ist das deutsche Gedicht nach 1945 nicht zu denken (Walter Helmut Fritz). Im Laufe dieses tagelangen Interviews versucht Karl Krolow Frage um Frage zu beantworten. Rückhaltlos erteilt er Auskunft: welche Bücher ihm unentbehrlich sind, warum er das Schreiben nicht lassen kann, welche Menschen ihm einst nahe standen und ihm noch heute wichtig sind. Indem dieser Dichter Bilanz zieht, wird Einblick gewonnen nicht nur in dieses vielfältige Leben, sondern auch in das literarische Leben Deutschland und der Nachkriegszeit. Erläuterungen ergänzen das Porträt Krolows und durch seinen beträchtlichen Anteil daran auch jenes seiner Epoche.

Peter Lang Publishing, Klappentext, 1996

 

 

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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