Vicente Aleixandre: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Vicente Aleixandre: Gedichte

Aleixandre-Gedichte

LETZTE GEDANKEN

Er ward geboren und ohne Erfahrung. Gab Antwort
aaaaaund sprach nicht.

Die erstaunten Seelen schauen dich an,
wenn du nicht vorübergehst. Nie hält der Wind sein
aaaaaWort.
Langsam und allein fallen deine Gedanken.
Fallen wie die abgestorbenen Blätter
und fallen erneut, wenn der Wind sie verstreut.
Die nüchterne Erde indes erwartet sie,
sich öffnend. Still das Herz, stumm die Augen,
dein träger Gedanke löst sich auf
in der Luft. Sanft bewegt. Ein Laut von letzten
Zweigen, ein mißlungener Traum von lebendiger Raute
breitet sich aus… Es fallen die Blätter.

 

 

 

Vicente Aleixandre

Kein anderer Dichter des neuen „goldenen Zeitalters“ spanischer Dichtung hat mit seiner Thematik und Gestaltungsweise, besonders durch sein Werk La destrucción o el amor (Die Zerstörung oder die Liebe), einen so entscheidenden Einfluß auf die junge spanische Dichtung ausgeübt wie Vicente Aleixandre; nicht Lorca, nicht Alberti, nicht einmal Antonio Machado, dessen Werk unter der Nachkriegsgeneration den Einfluß, Lorcas verdrängte. Aleixandres Dichtung bewirkt seit Jahrzehnten eine völlige Neuorientierung. Mit Gerardo Diego, Jorge Guillén, Pedro Salinas, Rafael Alberti und García Lorca die führende Dichtergruppe des Jahres 1927 bildend, des Jahres, da Spanien den dreihundert jährigen Todestag Góngoras wie eine poetische Erleuchtung, eine Befreiung von allem Herkömmlichen, Sentimentalen und Kleinbürgerlichen in der Dichtung feiert, ist unter ihnen Aleixandre die bestimmende Erscheinung der spanischen Moderne.
1898 in Sevilla geboren, verlebt er seine Jugend in Málaga und an seinen früchtereichen, elementaren Küsten, in einer Landschaft, deren paradiesische Ursprünglichkeit tief in sein späteres Schaffen einwirkte. Von seinem weiteren Leben berichten bedeutet einzig von seinem Werk sprechen, in dem er sich ganz offenbart, das, bei aller góngorinischen Dunkelheit und Metaphernkühnheit, seinem surrealistisch alogischen Strophenbau, der unmittelbare und notwendige Ausdruck eines poetischen Ichs ist, eines Lebens. Nie ging es Aleixandre vorrangig um ein formales Prinzip. Auch der Surrealismus war ihm, zeitweilig nur, Befreiung, Weitung von Welt und Innenwelt, Erschließung unterbewußter Strömungen des Erlebten, nie Programm oder Methode des psychischen Automatismus, sondern frei, autogen angewandtes Mittel, eine Möglichkeit, Ausdrückbares tiefer, verzweigter, feiner und abgründiger zu gestalten. Im Skurrilsten noch authentisch, eigen in Stil und Gehalt, nie wie Alberti in seinem Cal y canto ins bloß Phantastische, Spielerische entgleitend. Aleixandre weist dem Dichter den mythischen Rang eines „Sehers, eines Propheten zu…, der das Vergangene, Gelebte verkündet…, der zum Ursprünglichen im Menschen spricht…, an das Unvergängliche in ihm sich wendet.“
Thematisch wie stilistisch können wir zwei voneinander stark sich abhebende Gedichtepochen Aleixandres unterscheiden: Der ersten gehören alle Veröffentlichungen von Ámbito (Umkreis, 1928) bis Nacimiento último (Letzte Geburt, 1944) an; der zweiten bisher Historia del corazón (Geschichte des Herzens, 1954) und En un vasto dominio (In einem weiten Bereich, 1962). Der Wendepunkt in Konzeption und Stil seines Schaffens setzt um 1940 ein und erreicht in der Nachkriegszeit eine neue dichterische Höhe.
Grundthema der ersten Dichtperiode ist der Kosmos, die täglich Ewige Schöpfung. Nicht als deskriptives Verhalten zu den Erscheinungen des Universums gestaltet, nicht als philosophische Interpretation oder gar als Belehrung, sondern als zuinnerst Erlebtes, als des Menschen inhärentes Element. Aleixandre schreibt: „Sich in das eigene Menschsein versenkend, erreicht der Dichter die Tiefen des Tellurischen, wo alle Menschen übereinstimmen.“ Die Einheit in und von allem, in der großen Natur wie in der des Menschen, den tiefen Bezug von Mensch und Universum singt Strophe auf Strophe, stets überwältigend neu und originär:

Die gelebte Wirklichkeit
Schlägt ein ungeheures Flügelpaar…
diese dichten Wasser, die wie schwarze Lippen nun alles Unterschiedliche tilgen
(„Nach dem Tode“).

Die volle Einheitlichkeit des Kosmischen und seine Verschmelzung mit dem eigenen Leben bilden die Hauptthematik, wirken verschlüsselt im Kern der dichterischen Bilder, lebendig und fruchtbar:

Die weißen Haarfluten, die jugendlichen Lebensfreuden,
sie kämpfen von Fischen bevölkert, heiß
um das anwachsende Leben, das nun beginnt…
(„Lichtlos“).

Aleixandre singt die Vollkommenheit, die integrierende Macht und Einfachheit der Natur in großen freien Rhythmen, oft in Bibelversform, mit heftiger und kühner Leidenschaftlichkeit seines Ichs, das alles intim Erfahrene in dichterische Materie verwandelt: Wort, Liebe, Anschauung, Welt, Natur, Geheimnis. Sein Ausdrucksvermögen, das das Subtilste und Unsagbare leicht und natürlich zu fassen scheint, ist künstlerisch aber von höchster Differenziertheit, erlesen und abgewogen und wortgewaltig zugleich, barock und transparent, läßt das Geheimnisvolle und das Untergründige leuchtende Wirklichkeit werden. Sein Stil – an jeder Verszeile spürbar – ist er selbst, sein teilhabendes Wesen. Aleixandre lebt eine pantheistische moderne Mystik, selbstverständlich, naturhaft:

Ein Mund mit Flügeln von der Größe des Schnees legt in die Brust seine glühenden Kohlen.

Oder:

Deinen Leib zu schauen ohne anderes Licht als deines,
als diese Melodie, die die Vögel lockt,
die Wasser, die Wälder, das verbundene Pochen dieser absoluten Welt, die ich zur Stunde auf den Lippen fühle.

Ein sphärenhaft zu nennender, ganz irdischer Glanz liegt auf den Worten, kommt aus ihnen, aus einer Tiefe, die, unberührt, aufstrahlt, erster Atemhauch der Welt. Er selber schreibt über seine Dichtung:

Diese Gedichte sind Visionen von jenem Paradies, das ich Jugend nenne, das aber über die Jugend des Einzelnen hinausreicht, um die Jugend der Welt zu sein.

Ein Lebensgefühl, das seinen Tag und sein Innerstes uneingeschränkt durchwaltet, das er vor sich realisiert sieht, greifbar und transparent. Romantisch gewiß, nicht aber als evasive Sehnsucht, als Erträumtes, nicht als, des Realen Verschönung, höchstens als ureigenste Subjektivität, die den Kosmos neu erschafft, im Wort, in der Herrschaft des autonomen Gefühls. Aleixandres innerste Identität mit allem Vegetativen, Animalischen der Erde, dem lebendig Anorganischen der Welten wird fast in jedem Gedicht manifest. Er selber ist Wald, Meer, Licht, Sonne, Pferd, Schlange, Tiger, Gazelle, Käfer, die untereinander verwandt sind wie Welle mit Welle im Meer:

Ich bin die Sonne, die unter der Erde kämpft, sie zu zersprengen
wie ein sehr einsamer Arm…
Ich bin das Funkeln der Fische
(„Erzgrube“)

Ich bin die Musik, die unter so vielem Haar
die Welt schafft in ihrem geheimnisvollen Flug,
Vogel der Unschuld, der mit Blut in den Schwingen
vergeht an einer bedrückten Brust…
Ich bin das Geschick… alleiniges Meer…
bin das Roß, das seine Mähne am nackten Wind entflammt,
bin der von der eigenen Mähne gepeinigte Löwe,
die Gazelle…
der unterjochende Tiger, der die Wildnis entvölkert,
der winzige Käfer, der auch am Tage glänzt.

Diese Wesensverbundenheit und diese Einheitlichkeit der Dinge und der Lebenden vollzieht sich in einem hohen Akt der Liebe, da, wie Aleixandre es faßt, „… der Mensch Element des Kosmos ist, von dem er sich in seiner Substanz nicht unterscheidet“. Die Liebe, allerschließendes Kraftfeld der Schöpfung, ist aber Bejahung des Seins und Zerstörung zugleich, schöpferische Zerstörung. Tod und Liebe, auch hier die kosmische Identität: denn im letzten alles ist Liebe. Sie als Zugang, als Zentrum, als die Vollendung eines absoluten Seins bekunden Hunderte Zeilen:

Lieben, wer liebt nicht, wenn er geboren ist,
wer weiß nicht, daß Grenzen hat das Herz,
Gestalt hat, fühlbar den Händen ist,
den abgründigen Küssen, wenn man niemals weint?

Das Hauptwerk der ersten Schaffensperiode – im Jahr 1933 konzipiert und vollendet – trägt den Titel La destrucción o el amor (Die Zerstörung oder die Liebe). Dieses „oder“ wie auch die anderen der meisten Gedichte meint nicht Trennung. Bedeutet nicht Konfrontierung, nicht Reihung, sondern will völlige Gleichheit besagen, Ineinssetzung. Zerstörung und Liebe sind nicht als Gegensatz zu sehen. Liebe ist Zerstörung. Zerstörung des Zufälligen, des Ichs. Unerbittliche Macht, die auslöscht und die in einem tieferen Sinn vereint:

Bis Zum Urgrund dringt der Liebende nur vor, wenn er sich selbst zerstört, um im Blut des geliebten Wesens neu zu erstehen – und neu zu leben.

In der Liebe erwächst jene mystische Vereinigung, die den Tod mit einbezieht:

Erst der Tod bringt die dauernde Liebe.

Oder:

… komm wie dunkle erloschene Kohle, die eine Tote umschließt;
komm wie die blinde Nacht…
komme, komm, Tod, Liebe; komm bald
(„Komm immer, komm“).

Aleixandre begreift im Tod die All-Einheit der Natur. Somit wird ihm alles, Leben, Tod und Schlaf, Grenzbereich. Tod nicht als das absolute Nichts, als Leere gesehen, wie in Nerudas Werk Residencia en la tierra (Aufenthalt auf Erden). Im tellurischen Bereich elementar verwurzelt wie Neruda, der im genannten Werk ungefähr zur selben Zeit seine Verse eines Verzweifelten niederschreibt, der nur Zerstörung und Sinnlosigkeit allen Daseins erleidet, das für ihn einzig und allein zu einem absurden Tod hinstrebt, wird für Aleixandre der Tod „letzte Geburt“. – „In der Tiefe der Erde der Tote lebt / als absolute Erde…“ Auch hier, in seiner Todessicht, erfährt Aleixandre die ungemeine Identifikation:

Unter der Erde schlummre ich
wie eine weitere Wurzel dieses Baumes, den ich in mir nähre
ganz allein.

Und über die Schlafenden, die den Tod vorwegnehmen, schreibt er:

… tödlich Verstummte, wie Monde
aus Stein, in Erde, taub dauert ihr hin, ohne Grab.
Eine Nacht aus Schleiern, Federn, Blicken
fliegt durch die Räume, euch tragend, Unbegrabene.

Leben und Tod sind eines, wie Liebe und Tod. Aus ihnen aber kommt eine gewaltige Schönheit: „O du, Lied, das einen toten oder lebendigen Leib, / das ein schönes Wesen, das unter der Erde ruht, / steinfarben, kuß- oder lippenfarben du singst, singst, als schliefe oder atmete das Perlmutt.“ („Toten oder lebendigen Leib“, auch hier Tod und Leben als Einheit, als gleich empfunden.) Während von Neruda die „Zerstörung“ als unumschränkt herrschendes Element, als alleiniges Ziel des Daseins gesetzt ist, hat sie bei Aleixandre nichts Zerstörerisches. Ihm wird alles lebendig, der Tod mit einbegriffen, zugehörig, Grund und Anlaß eines großen Rühmens, eines Lobgesanges, der in seinem Gefühlsbereich der schlichten Daseinsbeglückung eines Jorge Guillén verwandt ist oder den Lobpreisungen der Erde und des geschichtlichen Menschen eines Saint-John Perse. Breit hinlagernd, äußerste Fernen erfassend wie grenzenlose irdische Ebenen, wie Gezeiten von Meer und Himmel sind beider Verse, wenn Saint-John Perse schreibt: „Murrend die Meere unter dem Zaudern des Abends, wie eine Qual von lastbaren Tieren mit prallen Eutern“, oder Aleixandre:

Kraftvoll das Meer ohne Flügel sich aufschwingt, dich zu lieben,
o gestufter Himmel, wo noch keiner gelebt…
seine Hellen es schleudert, seine vibrierenden Gestirne.
Kraftvoll, irrsinnig, wie ein Titan es hält in den Armen
einen ganzen Himmel oder die Brust einer Liebe.

Sein 1953 erschienenes Buch Nacimiento último (Letzte Geburt), mit der Grundidee, daß allein der Tod fähig, den menschlichen Liebeshunger zu stillen, thematisch noch zur ersten. Schaffensperiode gehörend, leitet formal bereits zur zweiten über: In Nacimiento último sind alle poetischen Dunkelheiten, metaphorischen Emphasen, barocken Konstruktionen vermieden. Die Gedichte, ebenso weitgreifend, im gleichen breiten Rhythmenfluß, in gleicher Spontaneität, in gleicher Identifikationsstärke geschaffen, sind von einer fast radikal zu bezeichnenden Schlichtheit. Die Sprache realistisch, einfach, direkt:

Denn es war die letzte Liebe. Weißt du es nicht?
Es war die letzte. Schlafe. Schweig.
… Nacht ist.

Oder in einem anderen Gedicht:

Er schaute, schaute ein letztes Mal und wollte reden.
Trübe Lettern tauchten auf seinen Lippen auf.
Liebe. Ja, ich liebte. Habe geliebt. Ich liebte, liebte viel.
Er hob seine schwache Hand, seine kluge Hand, und ein Vogel
flog auf einmal im Schlafgemach. Ich liebte sehr, sagte der Atem noch.

Sind in diesem Zyklus die begrabenen Liebenden, der Tote, der Sterbende, seinem kosmischen Gefühl tief verwoben, Hauptgegenstand, ja Träger desselben, so wird in der großen dreiteiligen Elegie bereits der konkrete Mensch sichtbar, seine Geschichte gestaltet: Tod und Glorie, das Leiden und Sterben und die kosmische Bewahrung seines in Spaniens Gefängnissen elend zugrunde gerichteten Dichterfreundes Miguel Hernández. Mit dem im folgenden Jahre 1954 veröffentlichten Band Historia del corazón (Geschichte des Herzens) kulminiert der seit langem sich anbahnende Umschwung in WeItsicht und Schaffen des Dichters: An Stelle des Kosmos tritt der Mensch. Der Mitmensch. Die menschliche Situation: des Lebenden, des Liebenden, des Verlassenen, des Alternden. Die Menschenwelt: sie mitzuleben, in Hoffnung, Schmerz und Freude! Das reale Geschehen wird wesentlich, wird gültige Chiffre des ganzen Lebens, so in Der Besucher und Ewiger Vagabund. In verstehender, reifer Verbundenheit ist hier der Mensch gesehen, zur Gestalt erhoben. Des Menschen Leben hat die Bedeutung des zuvor dargestellten Kosmos erlangt, ohne daß Aleixandre dabei zum exemplarisch politischen Dichter wird wie Pablo Neruda, Rafael Alberti oder Miguel Hernández, die in ihren Werken seit Beginn des Spanischen Bürgerkrieges nicht allein das Dokument der Zeit geben, sondern die Zeit als Menschengeschichte, als eine entscheidende Dimension des Menschen, der mit seiner Tat, seinem Opfer seine überpersönliche Selbstverwirklichung erfährt; Neruda in seinen España en el corazon und Canto general, Alberti in seinen Liedern, Sonetten und Gesängen −: große humane Dokumente aus dem Freiheitskampf – und Hernández in seinen Beschwörungen, Klagen und tragischen Versen voller Liebe, Leidenschaft und humaner Größe aus den Gefängnissen Francos. Doch Aleixandres gesamtes Werk, die großen Hymnen vom Kosmos wie die Gesänge vom Mitmenschen, steht ebenfalls und von Grund her gegen Knechtung, Erniedrigung, Entrechtung, Elend und Verkümmerung. Dieses dichterische Ich bleibt das immerselbe; es wurzelt ganz im Elementaren, das keine Minderung der Welt und des Menschenantlitzes zuläßt. Aleixandres tiefe spontane Identifikation, Mittelpunkt seines Wesens, einst bezogen auf Pflanze, Stein, Tier, auf den Menschen als Natur, nun auf denselben mit all seinem schmerzlichen, mutigen Mühen an jedem Tag, schafft die eindringliche Lebendigkeit und Wahrheit seines Spätwerks. Er selber sagt über dieses: „Dichtung ist Mitteilung, sie wendet sich an das Menschenherz, wenn möglich an das aller Menschen.“ Und weiter: „In der Dichtung nun ist die andere Seite der menschlichen Einsamkeit. Nein, der Mensch ist nicht allein. Selbst die Liebe ist ein Wissen von der Gemeinsamkeit…, des Dichters Stimme kommt aus seinem solidarischen Herzen… In allen Etappen seines Schaffens war er überzeugt, daß es in der Dichtung keine Frage der Häßlichkeit oder der Schönheit gibt, einzig die des Verstummens oder der Mitteilung. Durch die Dichtung geht der Pulsschlag des Lebens, der sie ermöglicht, und in dieser Gabe der Übermittlung liegt vielleicht das einzige Geheimnis der Dichtung. Sie besteht nicht so sehr in der Darbietung der Schönheit als im Erreichen der tiefen Verbundenheit der menschlichen Seele. Daher gibt es keinen ,einsamen‘ Dichter: er setzt zumindest zwei Menschen voraus. Und dieser zweite – der Leser – kann Legion repräsentieren oder er ist der zweite tatsächlich. In einem tiefen Sinn ist alle Dichtung an alle gerichtet, auch die schwierigste.“
Mit diesen Worten ist ein Weltverhalten enthüllt, das dem der besten und entscheidendsten Geister Europas seiner Epoche entspricht. Aleixandres geistiger Standort war immer der der gesamteuropäischen Dichtung, war wie der französische Surrealismus, der deutsche Expressionismus und der Futurismus Majakowskischer Prägung der entschiedene Ausdruckswille der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, die psychische Möglichkeit und Notwendigkeit, Welt im Dichterischen, das Dichterische als Welt in Erscheinung treten zu lassen, neu, neuerfahren und zukunftweisend. Könnte man Individualismus und Arationalismus als die Hauptcharakteristiken der Jahre 1925 bis 1939 bezeichnen (Lorca, Jorge Guillén, Trakl und Heym als Vorwegnahmen, Neruda, Else Lasker-Schüler, Breton, Aragon, Eluard und so fort), so Einfachheit, Kommunizierbarkeit als Wesensmerkmale europäischen Dichtens in der Nachkriegszeit. Welch grundlegende Wandlung Aleixandre aber auch durchmacht, sein Gedicht mit seiner spannungsweiten Geist- und Raumwelt zeichnet sich immer aus durch die Größe der Konzeption, durch die Intensität und Einmaligkeit seines Ausdrucks, seiner Formgebung; Intensität und Eigensein, die, keine traditionelle Gestaltungsart zulassend, das Wort einzig sinngebend, sinnerhellend setzen. Jedwedes Wort wird somit Baustoff, wenn es die dichterische Wahrheit vollkommen wiedergibt. Aleixandres Stil wächst aus einer steten schöpferischen Verwandlung. Wie er selbst bekundet, erfahren Sprache und Metapher von Werk zu Werk fortschreitend Helle und Transparenz, trotz der machtvollen und großen Surrealität seiner Bildwelt und jenes „Dunkels“, das als Spiegel des Unterbewußten ergründende, aufhellende Schatten wirft. – Wenn heute uns, die wir vor oder in einem schöpferischen Realismus, sei er magischer, sozialer oder artistischer Natur, leben, diese und jene Metapher übersteigert erscheint, manches Emphatische und Emotionale der ersten Schaffensperiode in ihrer Intensität und Stetigkeit befremden, so empfinden wir doch zur gleichen Zeit: Dieser, Aleixandres Überrealismus ist immer Natur, Sichtbarwerdung innersten Wesens, voll überzeugender Leuchtkraft, wahr. Kann man dem jüngeren Aleixandre in künstlerisch bedeutsamer Eigenheit noch Lorca, Jorge Guillén und Alberti an die Seite stellen, so dem späteren in Mundo a solas (Verlassenheit der Welt, 1950) und in Sombra del paraíso (Schatten des Paradieses, 1944) nur noch Cernuda an dichterischer Kühnheit und Einmaligkeit. In Sprache, Formgebung, Metapher und Vision gehört Aleixandre zu den extremsten und fruchtbarsten Erscheinungen der Weltdichtung. Und jedem Vers ist anzumerken: aus innersten Zwängen, aus einer unbedingt gelebten Welt ist alles organisch erwachsen und aus unendlich vielen, äußerst eigenen Positionen erfaßt und gestaltet.
Ist nun in den späten letzten Werken Aleixandres das Menschenleben als Geschichte gesehen, so wird auch der Stil gemäß: psychologisch, erzählerisch, einfach. Nähe und Distanz verschmelzen. Jetzt singt Aleixandre mit schlichtem Wort die Altersstufen, Kindheit, Reife des Menschen, seine Herbstlichkeit. Im Momentanen und konkret Aktuellen immer den großen Lebensablauf einfangend; die Grundauffassung, daß der Mensch Element des Kosmos, ist nicht aufgegeben. Des Dichters Mitleben, Mitfühlen geschieht hier ohne melancholische Klage, hart, wie in Der Blöde, authentisch und gültig, in einem universellen Ton. Spürbar wird: das schwere und oft tragische Einstehen des Menschen geschieht um seine Selbstverwirklichung. Und Hoffnung wächst zuletzt aus der Verbundenheit des Menschen, aus seinem „solidarischen Herzen“. Aleixandre ist unter den gegenwärtigen spanischen Lyrikern nicht nur der bedeutendste, der heutige Dichtung mitbestimmt und weiterführt, er ist, durch sein Spätwerk, auch der populärste seines Landes.

Erich Arendt, Nachwort, 1963

 

Interview der Zeitschrift La Quinzaine littéraire

mit Vicente Aleixandre

Vicente Aleixandre: Der Surrealismus war nur eine Etappe meines dichterischen Werdegangs, obwohl mein ganzes Werk gewissermaßen vom Irrationalismus geprägt ist, wenn man dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung gebraucht. Doch war ich strenggenommen nie ein surrealistischer Dichter, weil ich mich nie an die dogmatische Voraussetzung hielt, auf der die ganze surrealistische Bewegung beruht: Weder glaubte ich an die automatische Schreibweise noch an die Ausschaltung des künstlerischen Bewußtseins, die sich daraus ergibt.
Mein erstes Buch, Ámbito (Umkreis), entstand in einem bestimmten Klima. Es herrschte damals das vor, was man reine Poesie nannte, und ich habe sehr rasch die Notwendigkeit verspürt, mit dieser Durchsichtigkeit zu brechen, das Gefängnis aus Kristall zu zerschlagen, in das man die Dichtung einsperren wollte. Mein zweites Buch, Pasión de la tierra (Leidenschaft der Erde) verrät diesen Willen zum Bruch. Ich trachtete damals danach, mich sehr tief zu versenken, mich bis in die Tiefen des Unbewußten treiben zu lassen, bis in jene Untergründe des Seins, aus denen das Leben hervorgeht. Aus der Versenkung in die undurchsichtigen Regionen, in denen das herrscht, was man das Dunkel der Tiefe nennen könnte, ist die Dichtung für mich ein langsames Streben zum Licht geworden.
Bei alledem hat die Lektüre Freuds eine entscheidende Rolle gespielt. Und auch die Entdeckung von Joyce, Lautréamont und Rimbaud – ich denke da vor allem an die Illuminations. Aber wenn ich auf meine Anfänge zu sprechen komme, auf meine Geburt als Dichter, so waren meine ersten Lehrer Rubén Darío, Bécquer, Antonio Machado und Juan Ramón, Jiménez, bald gefolgt von Keats, Shelley und den deutschen Romantikern. Und ich müßte sicher präzisieren, daß die ständige Begegnung mit den spanischen Klassikern: Góngora, Lope, San Juan de la Cruz, Quevedo mich mitgeformt hat. Trotz alledem glaube ich, daß in erster Linie das Leben selbst den Dichter prägt und dann erst jenes Sediment, das sich nach und nach in ihm durch die fortwährende Entdeckung authentischer Dichter bildet.

La Quinzaine Littéraire: Ihre Interpreten sind sich darin einig, daß es in den schwarzen Jahren der Nachkriegszeit niemand besser verstand als Sie (vor allem mit Ihrem Buch Sombra del paraíso [Schatten des Paradieses]), die neue Dichtergeneration zu ermutigen, jene, die dem Faschismus die Stirn boten. Was hat Sie dazu bewegt? Was waren die treibenden Elemente Ihrer Dichtung?

Aleixandre: Die Solidarität. Ja, ich glaube behaupten zu können, daß die Solidarität mit dem Ganzen der Schöpfung das Leitprinzip, die Antriebskraft ist, die meine ganze Dichtung in Bewegung setzt. In einer ersten Etappe, von Ámbito bis Nacimiento último (Letzte Geburt), betrachtete ich die Schöpfung (wenn man mir den bombastischen Ausdruck nachsieht – ich persönlich würde gern von „Kosmos“ sprechen) und brachte das Gefühl der Solidarität zum Ausdruck, das ich aus dieser Betrachtung gewann. Jetzt aber ist der Mensch da, der für sich allein genommen auch schon ein Kosmos ist.
Ich ging dann zu einer neuen Etappe über, in welcher der Kosmos, die Natur ganz offensichtlich in den Hintergrund traten und der Mensch im Vordergrund stand. Wenn in meinen ersten Werken der Mensch dazu neigt, mit der Natur eins zu werden, wirkt in den späteren Werken die Solidarität auf ihn wie ein Magnet, und er fühlt sich unwiderstehlich an die Gemeinschaft der Menschen gebunden. Die Solidarität der Menschen, ja, das ist das große Thema der Werke aus jener Zeit. Doch schon in den vorangegangenen war jene Konstante da, die man später wiederfindet, jenes Einheit stiftende Prinzip, jene Verschmelzung zu einem Ganzen, das Einswerden der Welt. Und jene einigende Substanz, die der Welt das Einssein bringt, nennt der Dichter Liebe.

La Quinzaine LittéraireJenes Prinzip der Solidarität, das Sie ansprechen, hat sich nach dem Bürgerkrieg noch mehr herauskristallisiert. Sie sind seit damals nicht mehr der pantheistische, paradiesische Dichter von Ámbito und bis zu einem gewissen Grad von Pasión de la tierra, sondern nähern sich in Retratos con nombre (Porträts mit Namen) dem, was man übereingekommen ist, engagierte Literatur zu nennen. War das Zufall, oder spürten Sie damals wie so viele andere, daß der Augenblick gekommen war, Zeugnis abzulegen?

Aleixandre: Richtig, das Buch, das Sie anführen, gehört in die Periode, die ich eben erwähnte, und es hat für mich das Besondere, daß ich versuchte, diese Solidarität zu  k o n k r e t i s i e r e n. In Retratos con nombre wollte ich den unterschiedlichsten Menschen meine Stimme leihen. Die einen sind bekannte Persönlichkeiten, die sich mit ihren Werken oder ihren Taten einen Namen gemacht haben. Die anderen sind konturenlose Wesen, die anscheinend nur ihre menschliche Qualität in die Waagschale zu werfen haben, doch gerade das macht ihren Wert aus. Aber alle werden als Individuen gesehen, haben einen Namen, und ihre Ansammlung ergibt eine menschliche Gesellschaft. Alles in allem, wenn ich mich in irgendeinem Augenblick meines poetischen Werdegangs einer Art Engagement näherte (um Ihren Ausdruck aufzugreifen, doch das Wort Zeugnis scheint mir mehr am Platz zu sein), dann habe ich mich einfach vom natürlichen Lauf meiner Dichtung tragen lassen und mich damit begnügt, ganz und gar spontan zu befolgen, was sie von mir je nach Zeit und Stunde verlangte. Was nicht heißen soll, daß der Dichter nicht mit seiner Zeit mitgeht. Der Dichter ist ins Geschehen eingehüllt, und er reagiert auf das Geschehen je nach seinen Überzeugungen und seinen Gefühlen.

La Quinzaine LittéraireNach jener Zeit des Engagements oder des Zeugnisablegens finden Sie offensichtlich zu einer Inspiration zurück, die der Ihrer Anfänge sehr nahe zu sein scheint. Aber vielleicht handelt es sich nicht um eine Umkehr, sondern doch um die Ankunft an einem Ziel. Eine Art, den Kreis zu schließen…

Aleixandre: Nein, es gibt absolut nichts Gemeinsames zwischen meiner jetzigen Art der Inspiration und der meiner Anfänge. Was mir geschah, ist, mir selbst von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Nachdem ich von der Erarbeitung dessen in Anspruch genommen war, was man Weltanschauung nennen könnte, fand ich mich wieder vom Leben beansprucht, das gleichermaßen seinen natürlichen Lauf nahm. Und ich mußte mich der letzten Etappe meiner Existenz stellen. Meine letzten Bücher haben das Alter zum Gegenstand, und das entsprach einer Lebensnotwendigkeit, nämlich auszudrücken, was ich angesichts des letzten Abgrunds und jenes Ins-Nichts-Fallens empfand, denn das ist das Alter. Die Jugend allein ist Lebensträger, und der Greis ist nur ein Schatten. Und jenes Wissen oder vielmehr jene Weisheit, die das Leben und nur das Leben vermitteln kann, habe ich weitergeben wollen. Doch da jenes Wissen in nichts anderes mündet und all das ohne Ausweg ist, haben meine letzten Werke eine tragische Färbung. Das heißt: etwas der Jugend ganz und gar Entgegengesetztes. Dennoch ist die Jugend in diesen letzten Gedichten sehr präsent, und wäre es nur als Antinomie, denn ich feiere in ihr die einzige Realität der Welt.

La Quinzaine LittéraireSie gelten als großer Einzelgänger, oder zumindest ist die Einsamkeit eines der Schlüsselelemente des Bildes, das sich die Öffentlichkeit von Ihnen macht. Diesen Ruf verdanken Sie sicher der Tatsache, daß Sie immer darauf bedacht waren, am Rande dessen zu bleiben, was von fern oder nah mit dem franquistischen Apparat zu tun hatte oder, um einen Ausdruck aufzugreifen, der sich durchgesetzt hat, Sie verdanken ihn Ihrer inneren Emigration. Doch sagt man Ihnen auch nach, daß Sie ein außerordentlich entgegenkommender Mensch sind. Wenige Dichter aus Ihrer Gruppe haben der aufstrebenden Generation so viel Aufmerksamkeit gewidmet und sich ihrer so angenommen wie Sie.

Aleixandre: Was meine Einsamkeit anbelangt, so gäbe es dazu viel zu sagen. Die Prinzipien, die meine Dichtung regieren, stehen der Einsamkeit entgegen: Sie postulieren vor allem die Gemeinschaft mit der Welt und die Gemeinschaft mit den Menschen. Es stimmt, ich verlasse nicht oft mein Haus. Aus einem sehr einfachen Grund: Ich war schon immer von schwacher Konstitution, und meine Gesundheit ist ganz offensichtlich im Alter nicht besser geworden. Doch bleibe ich dabei nicht weniger mit der Welt verbunden, denn ich habe eine Menge Freunde, die mich besuchen kommen. Freunde aller Art, die ich zu den verschiedensten Gelegenheiten kennenlernte, und unter ihnen sind natürlich auch viele Dichter jeden Alters… Was meine Haltung dem jungen Dichter gegenüber angeht, der mir Gedichte zeigt, die mir nicht ganz befriedigend scheinen, so will ich Ihnen sagen: Ich bin kein Prophet, und infolgedessen hüte ich mich, den jungen Dichter zu verdammen, wenn er mich fragt, was er von seiner Zukunft aufgrund dieser ersten Arbeiten zu erwarten hat, denn ich verfüge weder über die erforderliche Autorität noch Kenntnis, um über sein Schicksal zu entscheiden. Statt dessen sage ich ihm die Wahrheit. Und daß man durch vieles Arbeiten, Lesen und Schreiben Dichter wird.

La Quinzaine LittéraireDie Freundschaft hat offenbar zu jeder Zeit eine wesentliche Rolle in Ihrem Leben gespielt. Sie sind heute einer der wenigen Überlebenden der sogenannten Generation von 1927, die mehr als eine literarische Schule vor allem eine Gruppe von Freunden gewesen zu sein scheint.

Aleixandre: Eine Gruppe von Freunden, ja, Sie haben vollkommen recht. Der älteste meiner Gefährten ist Emilio Prados, den ich in Málaga mit drei oder vier Jahren kennenlernte. Eine Gruppe von Freunden, die bis zum Ende Freunde geblieben sind, die weder Revolution noch Exil trennen konnten. Drei von ihnen, die mir die liebsten waren, fanden einen brutalen Tod: Federico García Lorca, Manuel Altolaguirre und Miguel Hernández, den ich zu der Gruppe dazurechne, obwohl er eigentlich nicht zur Generation von 1927 gehört, da er doch 1910 geboren ist. Sie sind brutal umgekommen, und ihr Tod hat mich im Grunde in großer Einsamkeit zurückgelassen, um so mehr, als die meisten der anderen Spanien verlassen hatten. Ja, wir waren nur eine sehr kleine Handvoll Überlebender in unserem eigenen Land.

Das Gespräch für die Quinzaine littéraire führten Adélaïde Blasquez und Ramon Chao kurz vor der Verleihung des Nobelpreises an Vicente Aleixandre 1977.

 

Vicente Aleixandre (geb. 1898), Nobelpreisträger von 1977,

äußerte sich gegenüber der Zeitschrift La Quinzaine littéraire zu seiner künstlerischen Entwicklung: Der Surrealismus war nur eine Etappe meines dichterischen Werdegangs, obwohl mein ganzes Werk gewissermaßen vom Irrationalismus geprägt ist, wenn man dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung gebraucht… Ich ging dann zu einer neuen Etappe über, in welcher der Kosmos, die Natur ganz offensichtlich in den Hintergrund trat und der Mensch im Vordergrund stand. Wenn in meinen ersten Werken der Mensch dazu neigt, mit der Natur eins zu werden, wirkt in den späteren die Solidarität auf ihn wie ein Magnet, und er fühlt sich unwiderstehlich an die Gemeinschaft der Menschen gebunden. Die Solidarität der Menschen, ja , das ist das große Thema der Werke aus jener Zeit… Meine letzten Bücher haben das Alter zum Gegenstand, und das entsprach einer Lebensnotwendigkeit, nämlich auszudrücken, was ich angesichts des letzten Abgrunds und jenes Ins-Nichts-Fallens empfand, denn das ist das Alter…“

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1980

 

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Die Rückkehr des Rhetorischen
Merkur, Heft 361, Juni 1978

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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Vicente Aleixandre – Spanischer Dokumentarfilm 1/2.

 

Vicente Aleixandre – Spanischer Dokumentarfilm 2/2.

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