DER TOTE
Für Rafael Morales
Unter der Erde dunkelt
der Tag. Seltener Vogel,
Vogel hoch im Baum, der du um einen Toten singst.
Unter der Erde schlummre ich
wie eine weitere Wurzel dieses Baumes, den ich in mir
aaaaanähre ganz allein.
Du lastest nicht, machtvoller und schrecklicher Baum,
aaaaader in die Lüfte du emporsteigst
der du von meiner Brust geboren mit drängendem Grün,
um dich zu zeigen und auszubreiten in lachendes Gezweig,
wo nun ein Vogel feurig singt, über meiner Brust.
Schönes lichtes Leben eines Baumes, auf der
gleichen Erde lebend, die einst ein Mensch gewesen.
Vollkommener Leib, der noch lebt, nicht schlummert, niemals schläft.
Heute wacht er im schimmernden Baum, den eine Sonne glühend durchdringt.
Ich bin nicht Erinnerung, Freunde, noch Vergessen. Freudig steige ich auf,
leichthin durch einen Stamm ins Leben rauschend.
Freunde, vergeßt mich. MeinWipfel singt immer
zärtlich in den Raum, unter einem unendlichen Himmel.
Mit dem 1898 geborenen Spanier Vicente Aleixandre vergab die schwedische Akademie den Nobelpreis 1977 an einen Dichter, der wie Lorca, Alberti und Machado zur legendären Generation des Jahres 1927 gehört, die wenige Jahre später, nach der Niederschlagung der Republik, durch Tod und Exil dezimiert und verstreut wurde. Aleixandre überdauerte Francos Diktatur im eigenen Land. In der Stille reifte sein kosmisch zu nennendes Werk, das in Versen großer Strahlkraft ein Hohelied auf die Einheit der unvergänglichen Natur und das solidarische menschliche Herz singt. Von den lebenden Dichtern Spaniens ist Aleixandre der in seinem Land folgenreichste und durch sein schlichtes Alterswerk populärste.
Ankündigung in Dieter Süverkrüp: Poesiealbum 130, Verlag Neues Leben, 1978
singt die Vollkommenheit, die integrierende Macht und Einfachheit der Natur in großen freien Rhythmen, oft in Bibelversform, mit heftiger und kühner Leidenschaftlichkeit seines Ichs, das alles intim Erfahrene in dichterische Materie verwandelt: Wort, Liebe, Anschauung, Welt, Natur, Geheimnis.
Erich Arendt, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1978
Vicente Aleixandre: dieser Name, heute weltberühmt, bezeichnet ein lebendiges, Person gewordenes Paradox. Er ist die Chiffre für die elementare Einheit des scheinbar Unvereinbaren. Er steht für die ebenso rätselhafte wie augenscheinliche Identität von ausharrender Zurückgezogenheit und täglicher, hellwacher Zuwendung, Krankenlager und Werkstatt, Desillusionierung und Hoffnung, Einsamkeit und unablässig geleisteter Kommunikation. Der Außenseiter als Zentralfigur, der Fixierte als Emissär, der kluge, konsequente, notgedrungene Diätetiker als Dichter hymnisch ausbrechender, schrankensprengender, grenzverachtender Bewegung: Vicente Aleixandre.
„Intimidad extensa“ – die widersprüchliche Wortverbindung in seinem Gedicht „Sie liebten sich“ ist vielleicht die Grundformel seiner Wirkungsmacht, der Hauptschlüssel für das Verständnis seines Wesens, seines Lebens, seines Werkes:
weitgebreitete Innigkeit.
Denn dieser Ausdruck, in dem die Vorstellung sich erfüllender Liebe kulminiert – besagt er nicht dasselbe wie der anscheinend so simple Fundamentalsatz der Poetik Aleixandres:
Der Dichter ist der Mensch.
Nicht die Einschränkung aufs Private der individuellen Existenz ist hier gemeint, sondern eine Ausweitung in der Durchdringung, eine Aufgabe, deren Erfüllung erst den umfassenden Namen der Gattung rechtfertigt. Gewiß, auch der Wille zur realistischen, sensiblen Bescheidung ist hier im Spiel, eine Distanzierung von dem Bild des Künstlers als Wundertier, eine Absage an die Adresse derer, die das Gedicht als absolutes, dem Leben enthobenes Gebilde zelebrieren – wichtiger jedoch ist die moralische Forderung an sich selbst, der bestimmende Impuls, der Dichtung und Liebe verbindet, wie es der Titel jener Rede tut, in der diese Maxime zum erstenmal erscheint, jener Rede nämlich, die Aleixandre 1949 bei seinem Eintritt in die Königlich-Spanische Akademie hielt:
En la vida del Poeta: el amor y la poesía.
Und diese Verbindung wiederum macht verständlich, weshalb der Autor in seinen Notizen zu einer Poetik aus dem Jahr 1950 (Poesía, moral, público) zu dem Schluß kommt: „Servir: la única libertad de la poesía“ – „Dienen: die einzige Freiheit der Dichtung“.
Nun, nach Dienst, nach Genügsamkeit unterm freiwillig getragenen Joch, haben dem Leser des vorliegenden Bandes die darin versammelten Verse wohl nicht geklungen. Die soeben zitierte Parole artistisch-sozialer Selbstverpflichtung erscheint ihm vielleicht geradezu als grotesk nach der Folge poetischer Eruptionen, die er lesend erlebt hat. Ist es nicht, im Gegenteil, der Wille zur radikalen, rasenden Selbstentfesselung, was Ton und Technik dieser Gedichte bestimmt? Hat der Dichter als Kommentator seiner selbst da nicht ein Hütchen moralistisch gefärbter Altersweisheit dem Feuerkopf aufgestülpt, der er einstens war?
Nein. Es ist keine nachträgliche Legitimation. Dies beweist die Tatsache, daß Aleixandre schon zwei Jahrzehnte zuvor, fünf Jahre vor der Erstpublikation von La destrucción o el amor, also 1930, in Gerardo Diegos berühmt gewordener Anthologie zeitgenössischer spanischer Lyrik den eigenen Versen ein paar wenige Zeilen zur Poetik seines Schaffens anfügt, in deren Mitte ein Satz steht, welcher dem obigen Postulat unbestreitbar verwandt ist:
… die Dichtung erscheint mir manchmal als Dienst; ein andermal als Ausweg zur einzigen Freiheit.
Bedeutsam ist freilich, daß das, was später verkoppelt ist zur Einheit, hier als Dualität, als Wechselmöglichkeit, als zwei alternierende Erfahrungen gesehen wird. Und deren Diskrepanz hat wohl den unmittelbar folgenden Satz bedingt:
Doch sie (die Dichtung) eines Tages nicht mehr zu brauchen, wird mir vielleicht als die wahre Befreiung erscheinen.
Das legt den Verdacht nahe: Poesie als Lebenssurrogat. Aber zehn Jahre später schreibt derselbe Autor in einem Brief an Damaso Alonso:
Du, der Du mich genau kennst, weißt, daß ich der Dichter oder einer der Dichter bin, auf die das Leben den stärksten Einfluß hat.
Den richtigen Kommentar dazu bieten wiederum drei Sätze aus der Poetik von 1930:
Das Leben – es – empfinde ich mehr und mehr als fordernd und tyrannisch; einzig. Das Leben, natürlich; nicht mein Leben. Und auch mein Leben.
Zusammenhänge und Spannungen sind erkennbar, Konsequenzen und Widersprüche. Wer die Evolution des Werkes und in ihm die einzelne Dichtung – begreifen will, wird vom Linienverlauf der Biographie nicht ganz absehen können, auch wenn der Autor die Bedeutung des privaten Schicksals halbwegs reduziert, auch wenn die Geschichte seiner Existenz keinerlei pittoreske Episoden und nichts an äußerer Dramatik bietet, ja eine extreme Armut an sichtbarer Bewegung aufweist.
Am 26. April 1898 wurde Vicente Aleixandre in Sevilla geboren, als Sohn eines Ingenieurs, der es im Dienst verschiedener spanischer Eisenbahngesellschaften zu einem bescheidenen Wohlstand brachte. Die bestimmenden Eindrücke seiner Kindheit aber stammen aus Málaga, der Stadt, in der das Kind neun Jahre lebte und zum Bewußtsein erwachte, der Stadt, die der Dichter später besang als „Cuidad del paraíso“:
Immer sehen dich meine Augen, Stadt meiner Meerestage.
Hängend am gewaltigen Berg, kaum aufgehalten
in deinem senkrechten Sturz zu den blauen Wogen,
scheinst du zu herrschen unter dem blauen Himmel, über den Wassern,
schwebend in den Lüften, als hätte eine selige Hand
dich gehalten, für einen Augenblick der Herrlichkeit, ehe sie dich versenkt für immer in den liebenden Wellen…
Der Elfjährige übersiedelt mit seinen Eltern nach Madrid, der Hauptstadt, deren noch biedermeierlicher Verkehr es dem Jungen erlaubt, auf seinem Fahrrad wie im Flug durch die breiten Straßen zu sausen:
… ich erinnere mich genau, wie ich geheimnisvoll meine Flügel zusammenfaltete direkt an der Torschwelle der Schule.
1913 macht er dort das Abitur und beginnt, da seine unüberwindliche Abneigung gegenüber der Mathematik eine direkte Nachfolge im väterlichen Beruf unmöglich macht, mit dem Studium der Rechte und der Wirtschaftswissenschaft. Die Ausbildung nimmt ihren ökonomisch-vernünftigen Gang, auch wenn der Student – wie schon der Schüler – des öfteren, statt zu den Pflichtlektionen zu gehen, sich Eskapaden zur Nationalbibliothek erlaubt; und obwohl im Sommer 1917, während des Ferienaufenthalts in einem kleinen Gebirgsdorf unweit von Ávila, eine Begegnung sich ereignet, deren Bedeutung spanische Literarhistoriker heute in durchaus nicht grundloser Euphorik mit dem Zusammentreffen von Juan Boscán und Andrea Navagiero in Granada vergleichen, also mit jenem historischen Moment, rund vierhundert Jahre früher, da ein Funke italienischer Renaissancepoesie nach Spanien übersprang und dort das schöne Feuer der Lyrik Gareilasos aufflammen ließ. In Las Navas del Marqués lernt Vicente AIeixandre einen gleichaltrigen Burschen kennen, der Straßenbauingenieur werden wollte, seiner Kurzsichtigkeit wegen aber zu eben dieser Zeit auf die Philologie umsattelte: Dámaso Alonso. Und dieser (der spätere Dichter der Söhne des Zorns) war es, der bei gemeinsamen Wanderungen durch die Pinienwälder der Sierra als erster mit Leidenschaft zu ihm von Lyrik sprach. Er gab ihm das erste Gedichtbuch in die Hand: Verse von Rubén Darío. Der dionysische Virus wirkte:
Jene wahrhaft jungfräuliche Lektüre war eine Revolution in meinem Geist.
Bis dahin hatte der junge Aleixandre alles, was nach Versen aussah, vorsätzlich gemieden. Ein alberner „Leitfaden der Literatur“ hatte früh diese Abwehrhaltung hervorgerufen, an der sich auch nichts geändert hatte, als der Halbwüchsige zu einem unersättlichen Leser wurde, der bei seinen heimlichen Ausflügen in die Nationalbibliothek Unmengen von Gedrucktem verschlang: fast den gesamten klassischen Bestand der erzählenden Literatur Spaniens aus dem neunzehnten Jahrhundert und einen Großteil der Romane und Novellen des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, außerdem eine Masse von Dramen des Siglo de oro.
Doch ich erinnere mich, daß ich in den Theaterstücken nicht die Verse las – ich spürte, daß es Verse waren –. Ich suchte die Aktion, die menschliche Schicksalswendung, nicht die Sprache.
Der achtzehnjährige Gedichtverächter, der gern Historiker würde, ist also zugleich ein besessener Literaturenthusiast, Liebhaber von Schiller und Galdós, und darum in gewisser Weise reif für die poetische Infektion.
Gegen Ende jenes Sommers ,entdeckte‘ ich Antonio Machado, und etwas später Juan Ramón Jiménez. Kennzeichnendes Faktum: obwohl Dario der Enthüller meines Wesens war, meine ersten Verse, einige Monate danach, waren nicht mehr rubenianisch. Machado als erster und Juan Ramón Jiménez, das waren die großen Schatten, die, wie bei anderen Jungen meiner Generation, auf meinen ersten jugendlichen Versen lagen.
Aleixandre hielt diese Versuche unter Verschluß:
Nicht aus Bescheidenheit; später habe ich begriffen, daß es Furcht vor dem Schmerz war.
Die Revolution im Geist änderte vorerst nichts am äußeren Lebensgang. 1919 absolviert Aleixandre das juristische Staatsexamen, erwirbt den Titel eines Betriebswirts, und noch im selben Jahr wird er Lehrer für Handelsrecht an der Escuela Central de Comercio in Madrid. So gering auch die Neigung zum Fach ist – der Unterricht macht ihm Vergnügen. Doch schon 1921 übernimmt er einen vom Vater vermittelten Posten in der Eisenbahnverwaltung, wird Mitarbeiter der Semana Financiera (Finanzwoche), in der er über ökonomische Fragen des Bahnverkehrs schreibt, und erstellt im Auftrag seiner Firma ein ausführliches Gutachten über die zu realisierende Altersversorgung für das Bahnpersonal.
Die Weichen für eine gutbürgerliche Karriere scheinen gestellt – da zerschlägt eine Krankheit jählings die gesamte Basis normaler Lebensführung und väterlich konzipierter Lebensplanung: den Siebenundzwanzigjährigen befällt eine Nierentuberkulose, die ihn zum Abbruch jeglicher Berufstätigkeit zwingt und zur Stille eines inkalkulablen Patientendaseins verdammt. Das Erlebnis tödlicher Bedrohung, hilfloser Ungewißheit, kläglicher Abhängigkeit ist zugleich ein tief verstörender Vorgang der Befreiung: das dichterische Selbstbewußtsein, bisher durch allerlei Befangenheiten zurückgehalten, verschleiert und gelähmt, wird zur klar erkannten Bestimmung, zur radikal bejahten Aufgabe.
Dieser totale Wandel entschied über mein Leben. Ich schrieb mein erstes Buch. Es wurde veröffentlicht…
Ambito (Umkreis) erschien 1928 in dem avantgardistischen Kleinverlag der von Emilio Prados und Manuel Altolaguirre herausgegebenen Zeitschrift Litoral in Málaga. Erst anderthalb Jahre zuvor war die Nummer 1 dieser mit Elan und Sorgfalt im Handpressenbetrieb gemachten Zeitschrift ausgeliefert worden. Sie enthielt Beiträge von Rafael Alberti, José Bergamin, Federico García Lorca, Gerardo Diego, Jorge Guillén und Emilio Prados. Einige Einzelgedichte, die Aleixandre etwa zur selben Zeit in Ortegas Revista de Occidente publizieren ließ, hatten Prados veranlaßt, den unbekannten Autor – der sich als Grundschulkamerad des Herausgebers entpuppte – zur Mitarbeit einzuladen.
Die schlanken Verse seines ersten Gedichtbuches lassen noch kaum die charakteristischen Züge der Wesensphysiognomie von Aleixandre erahnen. Die Kontur des Zeilen- und Strophenbaus ist von fast klassizistischer Klarheit und Regelmäßigkeit. Die Satzfügung zeigt das Verlangen nach abstrahierender Verknappung; einen Willen zur Kargheit, der die innere Vibration hinter anmutiger Sprödigkeit verbirgt.
Einen Autor von gänzlich anderer Sprache und Thematik schien vier Jahre später der zweite Gedichtband Aleixandres zu offenbaren: Espadas como labios (Schwerter wie Lippen). Dieses Buch ließ einen Bruch erkennen, der sich insgeheim schon 1928/29 vollzogen hatte und dessen Ausmaß erst sichtbar wurde, als 1935 Pasión de la tierra (Leiden der Erde oder Leidenschaft zur Erde) in Mexiko publiziert wurde, eine Sammlung von Prosagedichten. Statt der feingeschliffenen Facetten einer kristallinen Welt, wie sie in Ambito präsentiert wurde, der Bilderstrudel des Sturzes in die Abgründe einer Innenwelt voll geheimer Schrecknisse und Entzückungen: ein Ausbruch nach unten, wie der ursprüngliche Titel des Werkes sagt (Evasión hacia el fondo). „Eine Welt fast unterirdischer Bewegungen“ – so kommentierte der Autor rückblickend –, „wo die unbewußten Elemente einer Vision des ursprünglichen Chaos dienten“, vernehmbar in der „tellurischen Stimme des elementaren Menschen“.
Es ist das Buch von mir, das dem Surrealismus am nächsten kommt.
Bedeutsam ist, daß Aleixandre dieser Etikettierung die programmatische Erklärung folgen läßt, daß er sich dennoch nie als Surrealisten im orthodoxen Sinne verstanden habe, da er nie überzeugt gewesen sei von der Möglichkeit „automatischen“ Schreibens und folglich zu keiner Zeit auf die künstlerische Bewußtheit verzichtet habe. Auch diese Versenkung ins Unerhellte ist getrieben von einem das Dunkel durchwühlenden Verlangen nach dem Licht – einer „Aspiration“, in welcher der Autor die immanente Grundtendenz seines gesamten Schaffens zu erkennen glaubt. Und er sieht es selbst als kennzeichnend an, daß er bereits beim Abschluß seiner Arbeit an Pasíon de la tierra (1929) eine heftige Sehnsucht nach Rückkehr zum Vers verspürte.
Was er – der sich wie seine Generationsgefährten Lorca, Alberti und Guillén 1927, beim dreihundersten Geburtstag Góngoras, als Bewunderer der kühn-strengen Spracharchitektur des großen Cordobesen bekannt hatte – dann in Schwerter wie Lippen vorlegte, ist freilich alles andere als eine praktische Rehabilitierung traditioneller Metrik. (Trotz einigen makellosen Sonetten ist diese für immer in Randbezirke seines Schaffens verbannt geblieben.) Der „versículo“, die frei schwingende, atemgenaue, dem inneren Rhythmus gehorchende Zeilenfügung, ist von nun an das gültige Ausdrucksmedium. Noch bestimmen recht differenzierte Seelenbewegungen den eher vagen, selten zum „Thema“ sich konkretisierenden Umriß der einzelnen Gedichte. Erst in La destrucción o el amor ist der künstlerische Glücksmoment einer spannungsvoll gehaltenen Balance von divergierenden Kräften erreicht: der Traum nimmt das Gewicht des Körpers an, die Wirklichkeit wird leicht und befiedert wie die Phantasie; das Nahe ist gleich dem Fernen, die Sterne sinken in die Hand, die Stirne ist der Stein, der Tod ein Leben, die Zärtlichkeit wie der Zorn.
„Die Zerstörung oder die Liebe“: nicht eine Alternative meint das „oder“ im Titel, sondern eine Gleichsetzung, eine Identität. Denn die Erfüllung der Liebe ist die Aufhebung des Ichs, die Entgrenzung des einzelnen, Vernichtung der Individuation, glückhafter Untergang der Erscheinung in dem allumfassenden Dunkel, dem jede Gestalt entstammt und dessen reale Substanz nichts anderes ist als das Rasen erotischer Energien im Widerspiel von Sonderung und Vereinigung. Menschliche Liebe ist nur ein glühendes, unzulängliches Gleichnis für den Tod, die „letzte Geburt“ (wie der Titel eines anderen Gedichtbandes lautet, den Aleixandre 1952 veröffentlicht hat: Nacimiento último).
Liebe ist das Leiden an den Rändern der Existenz – und doch zugleich die Lust an den Grenzlinien sichtbarer, fühlbarer Form. Die Wörter „borde“ und „límite“ wiederholen sich in den Texten Aleixandres mit auffallender Beharrlichkeit, und ihr Gebrauch ist stets aufs neue ambivalent. Die Differenz der Wertung entspricht dem Unterschied von Kleid und Haut. Hier Nacktheit, Natur, Berührung – dort Machwerk, Trennung, Lüge.
Der Impuls, aus dem dieser Hymnus auf die liebendzerstörende Verwandlungskraft entstanden ist, zeigt sich vielleicht nirgends in solcher Schärfe wie in einem Gedicht aus Espadas como labios, aus dem Band also, der unmittelbar vorausging. Es heißt „El vals“ – „Der Walzer“:
Du bist schön wie der Stein,
o Verstorbene;
o Lebendige, Lebendige, du bist glücklich wie das Schiff.
Dieses Orchester, das meine Sorgen
schwenkt wie eine Lässigkeit,
wie eine elegante Beredsamkeit voller Taktgefühl,
mißachtet den Flaum der Schamberge,
mißachtet das Lachen, das aus dem Brustbein kommt wie ein großer Dirigierstock.
Ein paar Kleiewellen,
ein bißchen Sägemehl in den Augen,
oder vielleicht auch an den Schläfen,
oder vielleicht die Frisuren schmückend;
lange Röcke, aus den Schwänzen von Krokodilen geschneidert;
ein paar Zungen oder Lächelfalten, aus den Panzern von Krebsen gemacht.
Alles, was hinreichend gesehen ist,
kann niemanden mehr überraschen.
Die Damen erwarten ihren Augenblick, sitzend auf einer Träne,
die Feuchtigkeit verhehlend kraft eines unermüdlichen Fächers.
Und die Herren, verlassen von ihren Hintern,
wollen gewaltsam alle Blicke auf ihre Schnurrbärte ziehen.
Aber der Walzer ist gekommen.
Er ist ein Strand ohne Wellen,
ist ein Zusammenrasseln von Muschelschalen, Absätzen, Schäumen oder Zahnprothesen.
Ist alles Umgewälzte, das herspült.
Üppige Brüste, kredenzt auf den Armen,
süße Torten, auf verweinte Schultern gefallen,
ein Schmachten, das überläuft,
ein Kuß, überrascht in dem Augenblick, da er zum „Engelshaar“ wurde,
ein süßes „Ja“ aus grünbemaltem Glas.
Ein Hauch von Zuckerstaub auf den Stirnen
verleiht den gefeilten Worten ein reines Unschuldsweiß,
und die Hände stocken, rundlicher denn je,
während sich runzeln die Kleider aus geliebtem Espartobast.
Die Köpfe sind Wolken, die Musik ist ein langgezogener Gummi,
die bleiernen Schleppen fliegen fast, und das Getöse
hat sich in den Herzen zu Sturzströmen aus Blut verwandelt,
zu einem Likör, einem zwar weißen Likör, der nach Erinnerung oder Zitat schmeckt.
Adieu, adieu, Smaragd, Amethyst oder Mysterium;
adieu, wie eine gewaltige Kugel ist gekommen der Augenblick,
der notwendige Moment der Nacktheit vom Scheitel bis zur Sohle,
da die Flaumhaare zu sticheln beginnen die schamlosen Lippen, die sie kennen.
Es ist der Augenblick, der Moment, auszusprechen das Wort, das zerbirst,
der Moment, in dem die Kleider sich verwandeln werden in Vögel,
die Fenster in Schreie,
die Lichter in Hilferufe,
und dieser Kuß, der (in der Ecke) zwischen zwei Mündern war,
wird sich verwandeln in einen Stachel,
der den Tod austeilt, indem er sagt:
Ich liebe euch.
Eine groteske Genreszene aus dem Fin de siècle, hineingerissen in einen Wirbel von Musik, dissonantisch gescheckt von Sarkasmen und Spuren des Mitgefühls, expolodierend schließlich in einem apokalyptischen Finale, das überraschend nicht die Fetzen der gesprengten Staffagewelt dem Gelächter vorwirft, sondern die Entblößten umarmt, den Tod als Liebe darbietet.
Das Begehren nach Nacktheit zielt nicht auf Beschämung und Verhöhnung, sondern auf Befreiung des Wirklichen durch die Zertrümmerung beengender Maskerade. Ein Ausbruch aus der lachhaft-rigiden Beschränktheit der Konventionen, ein Durchstoßen der Scheinrealitäten – der vehemente Gestus, mit dem die ihrer eigenen Schalheit überdrüssige Einsamkeit in La destrucción o el amor verzweifelt hoffend sich den Gewalten der ursprünglichen, ungezähmten, grausam-herrlichen Natur aussetzt.
Papier, Pappe, Textilien, Stricke sind in dieser Dichtung Synonyme für die Falschheit der Menschenwelt. Materialien aus dem Fundus eines Schmierentheaters, dessen Drapierungen mehr verstellen als darstellen. Dahinter die Welt des realen Chaos, der leibhaftigen Schönheit, der Elemente. Die Hierarchie des Gran teatro del mundo ist umgestürzt, seine Rollenverteilung außer Kurs gesetzt, oder richtiger: aus der Fixierung wieder in ungesteuerte Bewegung gebracht. Und da erscheint das Geringgeachtete als das Hohe, das überschätzte als das Niedrige, das Ende als der Anfang. Tiere sind dem Wahren näher als der Mensch, und die Wirklichkeit der Pflanzen wird nur noch übertroffen vom Leben des scheinbar Unbelebten: den Steinen, den Sternen, dem Licht, dem Wasser. Aber nichts ist isoliert, nichts an seinen Ort gebunden. Gesetz ist nicht die Statik einer begrenzenden Ordnung, sondern allein die stetige Verwandlung des einen in das andere, die blitzhafte Verschmelzung der Erscheinungen in der gegenseitigen Durchdringung, die Liebe ist oder Tod, ein unaufhörliches Werden in niemals endendem Vergehen.
Die Metapher ist daher hier nicht Aufputz der dichterischen Rede, nicht der Versuch einer ornamentalen Erhöhung ihres Gegenstands, sondern der gemäße, gebotene Ausdruck einer Wirklichkeit, die einzig als Metamorphose erfahren wird, einer Welt, wo eines nur im anderen sich selbst erkennt. Und es entspricht einem radikaleren Realitätsprinzip, wenn der Autor in einem Brief erklärt:
Darum steigert sich die persönliche, das heißt: individuelle Liebe bei mir immer in Bilder einer Liebe, die überströmt zum Leben, zur Erde, zur Welt. Wie oft wird die Geliebte für mich eins mit der liebevollen Erde, die uns beide trägt! Im Grunde ist es nichts anderes als das Verlangen nach Vereinigung, deren Trugbild gleichsam die Liebe ist, das einzig mögliche im Leben, denn ihre Vollendung ereignet sich nur in der wahren Zerstörung durch Liebe: im Tod… Weiß man dies, so erklärt sich leicht meine Liebe zur Natur, meine Empfänglichkeit für die Lust der Sinne: Gesicht, Gehör usw.; meine Anbetung der sichtbaren Schönheit, und sogar die Mystik der Materie, die unzweifelhaft in mir ist.
Pedro Salinas, selbst ein großer Lyriker und Literaturwissenschaftler, der als einer der ersten die kapitale Bedeutung dieses Gedichtbuches erkannte, hat zur Interpretation den Begriff eines „pessimistischen Pantheismus“ ins Spiel gebracht. Luis Cernuda, ein anderer hervorragender Poet, spricht von dem „verzweifelten Vitalismus“, der sich darin ausdrücke. Aleixandre selber betont (in einem Kommentar zu dem Auswahlband Mis poemas mejores von 1956), daß dieses Werk nicht dem Zustand der Krankheit entstammt. Der größte Teil von La destrucción o el amor sei Ende 1932 und im Laufe des Jahres 1933 geschrieben worden, nach einem schlimmen Rückfall seines Nierenleidens, „in einem wahren Wiedererwachen der Kräfte und der Lebenslust. Nur auf der Basis heiterer Ausgewogenheit, die der gesunde Körper ist, der Körper, ,den man nicht spürt‘, kann ich schöpferisch tätig sein… Darin bin ich gänzlich antiromantisch. Aus dem Fieber habe ich niemals auch nur eine Zeile schreiben können. Und die wunderbare ,Wohnung‘, der Körper, muß wirklich ihre vollkommene Ruhe haben, ehe er – ja, er – die Bewegung des Geistes beherbergt oder zuläßt. Gesundheit: Schaffen. Das scheinen mir Synonyme.“ Er fügt hinzu, daß das Buch weithin im Gebirge geschrieben worden sei, nördlich von Madrid (in Miraflores de la Sierra, wo der Vater für den gefährdeten Sohn eine Hütte erworben hatte).
Es ist möglich, daß man dies merkt.
Was dort in der Einsamkeit entstand, fand alsbald lebhafte öffentliche Resonanz. Noch vor der Publikation des Buches wurde das Manuskript im Herbst 1933 mit der höchsten Ehrung ausgezeichnet, welche die spanische Republik zu vergeben hatte: dem Premio Nacional de Literatura. Noch heute gilt es – auch den nachfolgenden Generationen – als ein Gipfelwerk des „spanischen Surrealismus“ oder der „spanischen Neoromantik“, neben Lorcas El poeta en Nueva York, Cernudas Donde habite el olvido und Nerudas Residencia en la tierra. Sein „Irrationalismus“, die Entschiedenheit einer Weltsicht, die den Menschen primär als Naturerscheinung begreift, hat nichts von ihrer Aktualität und provokatorischen Kraft verloren. Seine dunkle Schönheit ist unbestritten. Leopoldo de Luis, ein Lyriker der Nachkriegsgeneration, steht nicht allein mit der Überzeugung:
Für mich ist es das schönste Erzeugnis der gesamten surrealistischen Dichtung.
Das Haus in einem nordwestlichen Randbezirk von Madrid, oberhalb der Universitätsstadt, am Hang, wo der Blick bis zum Guadarramagebirge schweifen kann, das schlichte zweistöckige Haus, in dem der Dichter seit nunmehr einem halben Jahrhundert wohnt – lange Zeit zusammen mit seinen Eltern, heute mit seiner Schwester –, wurde in jenen Jahren zu dem, was es noch heute ist: ein Treffpunkt der Schriftsteller und Künstler. Lorca, Alberti, Diego, Alonso, Neruda, Hernández gingen als Freunde dort ein und aus. Der Flügel, auf dem Lorca so oft spielte, steht freilich nicht mehr an seinem Platz – er wurde im Bürgerkrieg zerstört, als das stille Gartenwohnviertel zur Kampfzone wurde, wo Belagerer und Belagerte sich erbittert bekämpften.
Als die Niederlage der Republik dann die meisten der überlebenden Freunde ins Exil trieb, mußte der immer aufs neue von Krankheit Gefesselte bleiben. Und er wollte bleiben, das Schicksal seines Volkes teilen. Aus seinem Abscheu gegenüber der Diktatur und seiner Sympathie für die verlorengegangene Demokratie hat er nie einen Hehl gemacht. Nicht mit einer einzigen Zeile hat er diese Haltung kompromittiert. Auch dies hat dazu beigetragen, daß der Zurückgezogene, trotz vielen Jahren des Schweigens, der persönliche Orientierungspunkt, Freund und Helfer zahlreicher nachwachsender Autoren wurde. Nicht als fixe Größe, sondern durch die Kraft konsequenter Wandlung, die nie sich selber verrät und doch wach auf alle Vorgänge im Leben der Gemeinschaft reagiert.
Das erste Buch, das er nach der blutigen Zäsur publiziert, 1944, fünf Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, ist eine strahlende Elegie: Sombra del paraíso (Schatten des Paradieses). Die Grundspannung des Werkes ist bereits in den zwei Begriffen des Titels annonciert: „Schatten“ ist Synonym der Nicht-Existenz, des ausgestoßenen, erniedrigten Menschen; „Paradies“ meint ein Universum in der frischen Helle der Schöpfungsmorgenröte, den Frühling der Erde. Das Ganze: ein Lobgesang auf das Licht, angestimmt im Bewußtsein der Dunkelheit, aus der Sicht des in düstere Gegenwart Verbannten. Erinnerung holt Bilder einer lichten Kindheit herauf. Autobiographisches, anfänglich scheinbar nur Folie für die Beschwörung einer in mythischer Unverderbtheit leuchtenden Welt, leitet über zu dem, was Gegenstand des großen Gedichtbandes wird, den er 1954 veröffentlicht: Historia del corazón (Geschichte des Herzens).
War früher die Auflösung des Ichs in die Einheit der vormenschlichen Natur, Treue zur Kreatürlichkeit, die Grundorientierung seines Dichtens, so ist es nun das von der Zeitlichkeit bestimmte, in die Geschichte vermengte Leben der Menschen, was den Einzelnen zur Solidarität bestimmt und die Form der poetischen Mitteilung entscheidend verändert: die Komplexität der Metaphernsprache wird zu schlichtester Klarheit, ohne den Reichtum ihrer rhythmischen Bewegtheit zu verlieren. Das vielleicht beredteste Zeugnis für diesen Wandel ist das Gedicht „Auf dem Platz“:
Schön ist es, schön bescheiden und vertrauensvoll, belebend und tief, sich unter der Sonne fühlen, zwischen den andern allen, angetrieben, getragen, geleitet, vermengt, geräuschvoll mitgerissen.
Nicht gut ist es,
am Ufer zu bleiben
wie der Damm oder wie die Molluske, die kalkig dem Fels zu gleichen versucht.
Doch rein ist es und heiter, gelassen sich hinzugeben dem Glück
des Fließens und sich selbst zu entgleiten,
sich selbst zu finden in der Bewegung, mit der das große Herz der Menschen im Weiten schlägt.
Wie der, der dort wohnt, ich weiß nicht, auf welchem Stock, und den ich gesehen habe, wie er ein paar Treppen hinabstieg und tapfer hineinging in die Menge und darin sich verlor.
Die große Masse zog vorüber. Aber erkennbar war das winzige Herz, das hinzugeflossen.
Dort – wer würde es erkennen? Dort voll Hoffnung, mit Entschlossenheit oder mit Glauben, mit ängstlicher Kühnheit,
mit schweigsamer Demut, dort trieb auch es vorbei.
Ein großer offener Platz war’s, und es roch nach Dasein.
Ein Geruch nach großer, enthüllter Sonne, nach Wind, der ihn kräuselte,
einem großen Wind, der seine Hand über die Köpfe gleiten ließ,
seine große Hand, der die vereinten Stirnen streifte und sie erfrischte.
Und da war das Geschlängel, das sich bewegte
wie ein einziges Wesen, ich weiß nicht, ob hilflos, weiß nicht, ob machtvoll,
doch wirklich und wahrnehmbar, doch die Erde bedeckend.
Dort kann ein jeder sich sehen und kann sich erfreuen und kann sich erkennen.
Jetzt, da im glühenden Nachmittag, allein in deiner Kammer,
mit den fremden Augen und dem Zweifel im Mund,
du dein Bild etwas fragen möchtest,
suche dich nicht im Spiegel,
in einem erloschenen Zwiegespräch, in dem du dich nicht hörst.
Geh hinunter, langsam hinunter und suche dich unter den anderen.
Dort sind alle, und du zwischen ihnen.
entkleide dich und schmilz ein und erkenne dich.
Geh langsam hinein, wie der Badende, der furchtsam, mit viel Liebe zum Wasser und Scheu,
zuerst seine Füße in den Wellenschaum taucht
und fühlt, wie das Wasser steigt, und schon es wagt, und fast schon dann sich entschließt.
Und jetzt, mit dem Wasser an der Hüfte, traut er sich immer noch nicht.
Aber er breitet seine Arme aus, öffnet endlich seine zwei Arme und gibt sich gänzlich hin.
Und da erfährt er seine Kraft, und er wächst und stürzt sich hinein,
und dringt voran und wirft Gischtkämme auf und springt und vertraut,
schlitzt auf und schlägt in den lebendigen Wassern und singt und ist jung.
So geh hinein, mit den nackten Füßen. Geh hinein ins Gebrodel, auf den Platz.
Geh hinein in die reißende Strömung, die dich verlangt, und dort sei du selbst.
O kleines, winziges Herz, das schlagen möchte,
damit auch es das einmütige Herz sei, welches das einzelne einholt.
Die Einheit alles Geschaffenen war die Leitvorstellung im Frühwerk des Dichters. Das Verlangen nach Identifizierung mit dieser Totalität der Natur ist Essenz und Antriebskraft der erotischen Sprache in La destrucción o el amor. Spiegelbildlich scheint sich in Historia del corazón dieselbe Bewegung zu wiederholen, im Bezug auf ein anderes Gegenüber: die Menschengemeinschaft. Zwei Aspekte eines einzigen Vorgangs, dessen Synthese der Dichter in einem neuen, sehr komplexen, sehr umfangreichen Werk unternahm, das 1962 erschien: En un vasto dominio (In einem weiten Bereich). Es zeigt jene Einheit, indem es die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins verbindet mit der Darstellung der als Prozeß, als Aufgabe, als Werden in Erscheinung tretenden Materialität menschlicher Existenz, die nicht zu trennen ist von ihrer Spiritualität – sichtbar in der Evolution der Organe und Gliedmaßen des menschlichen Körpers, die zugleich die Untrennbarkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem erweist: Einheit nicht nur der Materie, des räumlich Existenten, sondern auch der Zeit, aller Zeit.
Entgegen dem, was man nach dieser – in der Kürze wohl unvermeidlichen – Skelettierung der Thematik vermuten könnte, ist dieses Versbuch von erzählerischer Geduld und Genauigkeit geprägt, von der Sachlichkeit eines Blicks, der den Spiegel ignoriert, das Ich verläßt und um so treuer das Betrachtete erfaßt, in einem Realismus, der an Velazquez erinnert und als konstantes Widerlager jener expressiven Kräfte, die zum jähen übersteigen des Gegebenen drängen, von jeher die Antinomie spanischen Geistes bestimmt.
Doch in den 1968 veröffentlichten Poemas de la consumación (Gedichte vom Ende oder Gedichte der Vollendung) überrascht der Siebzigjährige, dessen Stil man definitiv zu kennen glaubte – einen Stil, der sich als Hochebene von weitestem Horizont darzubieten schien, grenzenlos begehbar, übergenug für den Rest eines Lebens –, mit einer neuen Verwandlung seiner Sprache. Sie verkürzt sich, wird karg und in der Sprödigkeit der Notation, ja der Chiffrierung, rätselhaft suggestiv. Anklänge an die Metaphorik der Jugendwerke tauchen auf, gesetzt mit der Leichtigkeit letzter Nüchternheit, die es nicht nötig hat, ihre Irritationen zu verbergen. Der Modifizierung des Ausdrucks entspricht eine Veränderung des Inhalts, die Rückkehr zur Introspektion, zur Selbstbefragung, zu einer illusionslosen Betrachtung des eigenen Alterns. Die Gelassenheit der Einsicht artikuliert sich mit dem Schmerz der Vergeblichkeit; das Wissen des Alten, seine Weisheit, ist empfunden als der starre Gegensatz zum lebendigen Vorgang des Erkennens, des Kennenlernens in der Jugend: Maske des Todes.
Eine dritte Epoche des Werkes, voll innerer Dramatik, zeichnet sich ab, deren gänzlich neue poetische Machart und Intensität auch das bisher letzte Werk Aleixandres bezeugt, die Diálogos del conocimiento (Dialoge der Erkenntnis, 1974). In fünfzehn, meist sehr langen Gedichten führt der Autor jeweils zwei konträre menschliche Daseinsweisen und Erfahrungswelten vor, nicht eigentlich im Gespräch, sondern in „verflochtenen Monologen“, wie der Autor selber erklärt. Der Dichter leuchtkräftiger lyrischer Utopien, vor das Ende aller Projektionen gestellt, macht die Poesie zum Instrumentarium für die rigorose Erforschung der Möglichkeiten menschlicher Wahrheitsfindung – objektiv, aber nie in dürre Abstraktion verfallend, weil er nicht urteilt, sondern sieht und zum genaueren Sehen Figuren widerstreitender Erfahrung paarweise auf die innere Bühne holt, dicht konfrontiert, nicht für ein Duell, nein, in gegenseitiger Blindheit und doch fürs Spiel einer Begegnung auf Leben oder Tod.
Das „poetische Irisieren“ bleibt – auch im letzten Ernst – das unentbehrliche Mittel der Mitteilung, und um diese geht es, wie Aleixandre sagte, in der Poesie:
Es ist keine Frage von Häßlichkeit oder Schönheit, sondern von Stummheit oder Kommunikation.
Und das wiederum bedeutet: ohne die Form, ohne die rechte, farbige, sichtbare Erscheinung bliebe auch das Tiefgedachte nur geschwätziger Ersatz.
Es gibt keine häßlichen oder hübschen Wörter in der Dichtung, sondern nur lebendige oder tote Wörter.
Aleixandre hat die Macht des lebendigen Worts. Sie beruht wie das Werk aus fünf Jahrzehnten beweist – auf der Kraft einer Bereitschaft zur konsequenten Wandlung. Befragt nach den Dichtern, die er am meisten liebe, antwortete er:
Diejenigen, deren Entwicklung eine ganze Lebenskurve beschreibt. Zum Beispiel Properz, Quevedo, Yeats.
Er selber ist für solche Leistung ein Exempel.
Sich selber fragend, was er seiner Lyrik für die Zukunft wünsche, antwortete er – daß einer, der vielleicht noch den Hals danach dreht, nicht ganz unberechtigt zu dem Urteil käme:
In seiner Zeit blieb er nicht ganz am Rand der lebendigen Strömung der Dichtung. Er hat Verbindung gehalten mit einem Gestern und ist keine Blockierung gewesen für das Morgen.
Der weithin zur äußeren Selbstisolierung Genötigte steht in der Tat nicht am Rande. Der von Jugend an Kranke ist treibende Kraft. Der Verlauf seiner eigenen dichterischen Entwicklung hat die dominanten Linien der Geschichte spanischer und lateinamerikanischer Lyrik während eines halben Jahrhunderts vorgezeichnet, mit einer dauerhaft beispielstiftenden Intensität, die sich vielleicht nur mit derjenigen Pablo Nerudas vergleichen läßt. (Eine Parallelität des Wachstums und der Wandlungen beider liegt auf der Hand.) Und sein Ruhm unter der literarischen Jugend Spaniens ist, wie Dámaso Alonso schon 1950 erklärte, „nicht Ruhm, nein: Enthusiasmus, Raserei, Anbetung“. Seit den vierziger Jahren stellt er – so fährt Alonso fort – „die gleiche Attraktion dar, die für uns in den zwanziger Jahren Juan Ramón Jiménez bedeutete“. Daß die Schwedische Akademie Ende 1977 Vicente Aleixandre mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur ehrte, wirkte daher in den Ländern spanischer Sprache nicht als Überraschung, nicht als Kaprice, sondern als späte, längst fällige Bestätigung.
Wer hierzulande noch immer in ihm einen Artisten des Abseitigen vermutet, sollte die Konfession zur Kenntnis nehmen, die Aleixandre seinem Buch En un vasto dominio vorangestellt hat, das Gedicht: „Para quién escribo“ – „Für wen ich schreibe“:
Für wen ich schreibe – fragte mich der Chronist, der Journalist oder einfach der Neugierige.
Ich schreibe nicht für den Herrn im geschniegelten Sakko, nicht für seinen gereizten Schnurrbart, nicht einmal für seinen mahnend erhobenen Zeigefinger zwischen den traurigen Wellen von Musik.
Auch nicht für das Fahrzeug, noch für seine verborgene Dame (zwischen Glasscheiben, wie ein kalter Blitz, das freche Funkeln der Lorgnette).
Ich schreibe vielleicht für die, die mich gar nicht lesen. Diese Frau, die durch die Straße läuft, als eilte sie, um der Morgenröte die Tür zu öffnen.
Oder diesen Alten, der einnickt auf der Bank dieses kleinen Platzes, während die sinkende Sonne liebevoll ihn nimmt, ihn umringt und sanft ihn auflöst in ihren Strahlen.
Für alle die, die mich nicht lesen, die sich nicht kümmern um mich, aber doch für mich sorgen (obwohl sie mich nicht kennen).
Dieses kleine Mädchen, das im Vorbeigehn mich anschaut, Gefährtin meines Abenteuers, indem sie lebt auf der Welt.
Und diese Alte, die, hockend an ihrer Tür, Leben gesehen hat, entbindend vielerlei Leben, und müde Hände.
Ich schreibe für den Verliebten; für den, der vorüberging mit seiner Angst in den Augen; für den, der ihn hörte; für den, der im Vorbeigehn nicht aufsah; für den, der schließlich niederstürzte, als er fragte und niemand ihn hörte.
Für alle schreibe ich. Für die, die mich nicht lesen, schreibe ich vor allem. Für jeden einzelnen, und für die Menge. Und für die Brusthöhlen und für die Münder und für die Ohren, wo – ohne daß sie mich hören –
mein Wort ist.
II
Aber ich schreibe auch für den Mörder. Für den, der mit geschlossenen Augen sich auf eine Brust stürzte und Tod aß und sich nährte, und im Wahnsinn aufstand.
Für den, der sich reckte wie ein Turm der Empörung, und herniederbrach auf die Welt.
Und für die toten Frauen und für die toten Kinder, und für die sterbenden Männer.
Und für den, der heimlich die Gashähne aufdrehte, und die ganze Stadt kam um, und am Morgen lag da ein Haufen von Leichen.
Und für das unschuldige Mädchen, mit seinem Lächeln, seinem Herzen, seiner zarten Medaille, und ein Heer von Plünderern ging drüberhin.
Und für das Heer der Plünderer, das davonpreschte in einem Endgalopp und versank in den Wassern.
Und für diese Wasser, für das unendliche Meer.
Oh, nicht für das unendliche. Für das endliche Meer, mit seiner fast menschlichen Begrenztheit, wie eine lebendige Brust.
(Ein Kind geht jetzt hinein, ein Kind badet darin, und das Meer, das Herz des Meeres, ist in diesem Puls.)
Und für den letzten Blick, für den höchst begrenzten letzten Blick, in dessen Schoß jemand schläft.
Alle schlafen. Der Mörder und der, welcher Unrecht erlitt, der Ordnungshüter und das Neugeborene, der Verblichene und der Feuchte, der Willensdürre und der Stachlige, aufgesteilt wie ein Turm.
Für den Drohenden und den Bedrohten, für den Guten und den Traurigen, für die Stimme ohne Stofflichkeit und für allen Stoff der Welt.
Für dich, Mensch ohne Vergöttlichung, der du, ohne sie schauen zu wollen, diese Buchstaben liest.
Für dich und alles, was in dir lebt,
bin ich am Schreiben.
Konfession? Programm? Sozialfrommes Wunschdenken? Wer will, mag von einer Mystik der Kommunikation reden. Vielleicht aber macht dieser Text verständlich, was es bedeutete, als der Fünfunddreißigjährige mit Entschiedenheit erklärte:
Nein, die Dichtung ist keine Frage von Wörtern.
Gewiß ist, daß Intention und Haltung, Werk und Wirkung im Leben Aleixandres sich mit seltener Reinheit decken. Dienst und Freiheit der Poesie sind darin eins.
Der Dichter ist der Mensch.
Fritz Vogelgsang, aus: Vicente Aleixandre: Geschichte des Herzens, Coron Verlag
Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016
Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016
Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.
Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953
Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963
Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968
Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968
Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968
Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973
Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973
Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973
J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978
Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978
H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978
Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983
Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983
Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988
Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003
Hans-Jürgen Heise: Die Rückkehr des Rhetorischen
Merkur, Heft 361, Juni 1978
Vicente Aleixandre – Spanischer Dokumentarfilm 1/2.
Vicente Aleixandre – Spanischer Dokumentarfilm 2/2.
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