Victor Chlebnikov & Aleksej Kručënych: Höllenspiel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Victor Chlebnikov & Aleksej Kručënych: Höllenspiel

Chlebnikov/Kručënych-Höllenspiel

Die Zeit verstreicht – dieselben Karten,
desselben Goldes Rot,
es graut der Tag – der Gram des Spieles
ist mächtig wie der Tod!

Im steten Dämmern wächst der Dunst,
die Kehle krampft zusammen,
das Haus zeigt Risse, aus dem Mund
aufwirbeln stinkend Flammen.

Die Stunden sind dem Wahnsinn nah,
dem Auge droht ein Streich,
ein Krachen… Donnern… Spiel, Eklat –
ist ihnen alles gleich…!

 

 

 

Nachbemerkung

„Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ waren die aufsehenerregenden lithographierten Bücher der russischen Futuristen, von denen zwischen 1912 und 1916 etwa 50 verschiedene herausgegeben wurden. Sie vereinten außergewöhnliche künstlerische Ansprüche mit billigster Herstellung und zerstörten gründlich den Heiligenschein einer Kunst, die aus ehrfürchtiger Distanz betrachtet werden will. Erfolgreich erregten sie das Mißfallen der älteren Künstlergeneration; „alberne Bilderbüchlein“, urteilte Benois.
Kručënych, einer der wichtigsten futuristischen Theoretiker, schrieb 1913:

Gibt es erst einmal eine neue Form, so gibt es folglich auch einen neuen Inhalt, die Form bedingt somit den Inhalt. / Unser Sprachschaffen wirft auf alles ein neues Licht. / Nicht die neuen Objekte des Schaffens bestimmen seine wahre Neuheit. Das neue Licht, auf die alte Welt geworfen, kann ein ganz wunderliches Spiel auslösen.

Text und Illustrationen wurden konzeptionell und im lithographischen Verfahren so eng miteinander verbunden, daß ein organischer Zusammenhang entstand, der der Abbildung ihre sekundäre Rolle nahm und die Schrift einer Abbildung annäherte; man fühlt sich an chinesische oder japanische Schrift-Bilder erinnert.
Die billige Aufmachung, graues oder gelbliches, grobes Papier, alte Tapeten, grobe Schablonen, Hand- oder Stempelschrift und sogar Kartoffeldruck, die stilisierte Unordnung – all das bedeutete eine Provokation gegenüber den ,feinen‘ Büchern der Ästheten, wirkte selbstgemacht und nicht gerade elegant, war aber nur konsequent im Sinne der deklarierten futuristischen Kunst, die sich gegen die Abgenutztheit der Kunstmittel, gegen den Automatismus der Wahrnehmung richtet.
Gerade in den Anfängen des Futurismus war die Abgrenzung von der traditionellen Kunst, besonders von den Symbolisten, der noch lebenden Künstlergeneration, ein wesentliches Thema. Bei allem Verbalradikalismus gegen Klassiker und Symbolisten behaupteten die Futuristen aber nicht etwa, sich in ihrem Streben nach der „wahren Neuheit“ in der Kunst mit dem „Dampfer der Gegenwart“ begnügen zu wollen; im Gegenteil bezogen sie sich in jeder Hinsicht auf ,Ursprünge‘, die sie neu formen und in neue Zusammenhänge setzen wollten. In der Absicht einer ,Aufwertung‘ der Sprache gingen sie zurück auf den „Buchstaben als solchen“, auf kleinste Spracheinheiten.
So ist auch der Abdruck von handgeschriebenen Texten zu verstehen: das handschriftliche Zeichen bot nach Ansicht der Futuristen größere Ausdrucksmöglichkeiten und einen weiteren Assoziationsradius von Bedeutungen, Atmosphären und Stimmungen. Das Höllenspiel wurde von Kručënych in stilisierten kirchenslavischen Lettern niedergeschrieben – eine Anlehnung an Traditionen, deren neuartige Verwendung hier eine ironische Brechung bewirkte und nicht zuletzt ein blasphemisches Moment enthielt.
Hatte die ältere Künstlergeneration ein eher verklärendes, mystifizierendes Verhältnis zur volkstümlichen Kunst und ihren Motiven, so waren die Futuristen vor allem von der Naivität und Einfachheit der Volkskunst fasziniert. Sie ließen sich von oft handkolorierten Volksbilderbogen des 17./18. Jahrhunderts inspirieren, auf denen folkloristische Helden dargestellt waren, Tierkreiszeichen oder auch Parodien auf Staatsereignisse. Sie gingen zurück auf die Wurzeln der eigenen nationalen Kunst, nahmen sich Anregungen aus den Künsten fremder Nationen und eigneten sich dieses reiche Material hemmungslos an.
Ohne diesen Hintergrund ist das Höllenspiel heute nicht leicht zugänglich, weder seine provokative Wirkung, noch die Neuartigkeit seiner Gesamterscheinung, die bei sprachexperimentellen Texten wie dem berühmten „dyr bul ščyl“ von Kručënych oder Chlebnikovs „Beschwörung durch Lachen“ offenkundig sind. Kručënych betonte 1928, das Poem sei „nicht mystisch, sondern spöttisch“ gemeint, als „ironischer Ulk auf den althergebrachten Teufel“. Über seine Entstehung schrieb er:

Ich hatte schon 40-50 Zeilen fertig, für die Chlebnikov Interesse zeigte, und er begann, hauptsächlich für die Mitte, neue Strophen hinzuzuschreiben. Dann sahen wir es gemeinsam durch und machten einige abschließende Korrekturen.

Das Poem beginnt mit einer Art Beschreibung der Hölle, in der die Sünder schmoren und auf Räder gespannt sind, während sich bebrillte oder kahlköpfige Teufel beim Kartenspiel mit seltsamen Regeln vergnügen, es fährt fort mit sprunghaft wechselnden Szenen, in denen zunehmend hitziger um Gold (oder um Seelenheil?) gespielt wird, Teufel zersägt werden, Hexen ihren Besen schwingen, ein maskierter Leichnam (ein Sünder und/oder der Erretter?) mit einem Kreuz auf der Brust, das plötzlich verschwunden ist, zu gewinnen scheint, entlarvt und in Stücke gerissen wird – aber das Spiel geht weiter, endlos: Öde breitet sich aus, engelhafte wunderliche Gestalten streichen an Fenstern vorbei. Auf der Suche nach tiefgründiger Symbolik – der ewige Kampf zwischen Gut und Böse? – fühlt man sich dann doch genarrt und möchte das Ganze vor allem als Parodie auf Mystizismus, apokalyptische Visionen, Okkultismus verstehen – Motive und Elemente, die dem Symbolismus zugeschrieben werden. Hier sind die finsteren Mächte des Bösen zu Karikaturen geworden, Grausamkeiten haben ihren Schrecken verloren, vermeintliche Regeln sind karnevalistisch aufgehoben, Sinn und Zweck dieses wilden Glücksspiels verschwimmen in seiner unendlichen Wiederholung. Die streng gereimte Form mit fast durchgehend vierhebigem Jambus und bisweilen seltsam erzwungenen Reimwörtern verstärkt den Eindruck von bewußt gegeneinandergesetzten Stilmitteln. Drastisch derbes Vokabular wird gebrochen durch altertümlich feierliche Kirchenslavismen. Die energisch gezeichneten, holzschnittähnlichen Figuren vervollständigen mit ihrem stilisierten Primitivismus das Gesamtbild und verstärken den ironischen Tonfall des Poems.

Beate Rausch, Nachwort

Die lithographierten Bücher

der russischen Futuristen aus den Jahren 1912–1916 waren „eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Gerade handgeschriebene Texte boten nach Ansicht der Futuristen besonders gute Ausdrucksmöglichkeiten für rasch wechselnde Eindrücke und Stimmungen. Chlebnikov und Kručënych waren Jugendfreunde, beide spielten im Futurismus eine wichtige Rolle. Ihr Höllenspiel, das sie 1912 gemeinsam reimten, in stilisierten kirchenslavischen Lettern niederschrieben, wurde von Natalija Gončarova illustriert und in einer Auflage von 300 Exemplaren gedruckt.
Kručënych betonte 1928, das Poem sei „nicht mystisch, sondern spöttisch gemeint, als ironischer Ulk auf den althergebrachten Teufel.“ In dieser ersten deutschsprachigen Ausgabe wird das russische Original der Nachdichtung von Ludwig Harig gegenübergestellt.

Friedenauer Presse, Klappentext, 1986

 

Mituritsch

Die einen Künstler malen eine Flugbahn in die Zukunft, die anderen leben nur in der Gegenwart. Unter ihnen gibt es solche, die neue Wege eröffnen, andere wiederum synthetisieren vorgefertigte Ergebnisse. Die einen erinnern an einen Baumstamm, die anderen ähneln einer Baumkrone: Sie wächst auf diesem Stamm und lebt von den Säften, die durch ihn hinaufsteigen.
Pjotr Mituritsch war ein Entdecker von neuen Wegen in der Kunst. Ein Entdecker neuer Probleme, eines neuen Blickwinkels zur Welt. Welimir Chlebnikow teilte die Menschen in ,Erfinder‘ und ,Erwerber‘ ein. Mituritsch war in allem ein Erfinder.
Es gibt eine Logik der weltumspannenden Entwicklung der plastischen Form. Sie hängt nicht vom Willen des Künstlers ab, es ist ein objektiver weltumspannender Vorgang von moralisch-geistiger Natur. Die Weltlinie des Künstlerischen mag durch die einen hindurchdringen, an den anderen geht sie vorbei. Im künstlerischen Schaffen von Mituritsch tritt diese ,Weltlinie‘ deutlich hervor.

 

1. „Mituritsch war unser Gewissen“
Die Begegnung und die daraus resultierende Freundschaft mit Chlebnikow hatte für Mituritsch eine entscheidende, nahezu eine verschlingende Bedeutung. So wie Wassilij Tschekrygin erst auf der Grundlage der Philosophie von N. Fjodorow zu einem Künstler mit Tiefgang geworden war, baute auch Mituritsch seine Kunst auf den Ideen von Welimir Chlebnikow als Fundament auf. Seine besten Werke, insbesondere seine Bucharbeiten, sind der Poesie und den Ideen Chlebnikows gewidmet.
Noch ohne Chlebnikow zu kennen, war Mituritsch ein glühender Anhänger seiner Kunst. Die Bekanntschaft fand im Herbst 1921 statt:

Unendlich war meine Freude, als ich die Hand Welimirs drücken durfte. Tränen schnürten mir den Hals zu, und ich war unfähig, auch nur ein Wort des Grußes hervorzubringen… Ich weihte ihn in meine Erfindungen ein, ich wollte ihm das Prinzip des Wellenfluges1 erläutern, aber Welimir lehnte es beharrlich ab, in die technischen Angelegenheiten einzudringen, und sagte, dieser Tempel sei für ihn verschlossen und er würde nichts begreifen. Ich dagegen spürte, daß mein technischer Gedanke mit seiner Schöpfungs- und Bewegungsphilosophie artverwandt war. Er fing an, mich in seine poetischen Werke einzuweihen, und bei jeder neuen Begegnung gab er mir immer neue Handschriften zum Durchlesen.2

Die letzten zwei Jahre im Leben des Dichters vergingen im engen Umgang mit Mituritsch. Ihre künstlerische Suche verlief auf parallelen Wegen: Chlebnikow arbeitete an Problemen der Zeit, Mituritsch an Problemen des Raumes.
Im Frühjahr 1922 wollte Mituritsch den Dichter vor dem Hungertod retten und nahm ihn mit aufs Land. Sie fuhren in das Dorf Santalowo bei Nowgorod, wo Chlebnikow jedoch erkrankte und starb. Es gibt einen Zyklus der in Santalowo entstandenen Zeichnungen von Mituritsch, die er Chlebnikow gewidmet hat. Ihre harte Wirklichkeitsnähe macht sie zu einem nüchternen Dokument, das die letzten Tage im Leben des Dichters nach Stunden fixiert. Wir finden hier sowohl Landschaftsbilder aus Santalowo, als auch die Haussauna, die den sterbenden Chlebnikow beherbergte, und schließlich auch zwei Porträtdarstellungen: Das letzte Wort heißt – ja und Chlebnikow auf dem Totenlager. In seiner strengen, ungekünstelten und in ihrer nackten Blöße durchdringenden Weise führt Mituritsch den Zuschauer zum Nachempfinden des tragischen Geschehens.
Es fällt nicht leicht, das Geheimnis der Wirkung solcher Zeichnungen von Mituritsch wie Chlebnikow auf dem Totenlager zu verstehen. Vielleicht ist es das berühmte ,bisschen‘, welches die Form entfremdet? Doch es fehlt. Oder ein besonders artistisches, ästhetisches Element? Auch das ist nicht da. Dann vielleicht eine erhöhte Expressivität, eine emotionale Spannung? Nein. Die Zeichnungen von Mituritsch überraschen durch ihre Direktheit und durch die Kraft des Realismus, durch ein völliges Fehlen von ,Ornamenten‘ und einem Arrangement nach den Gesetzen der Ästhetik. Alles ist hier primär, wie auch der Blick des Malers, der im Sichtbaren das Unsichtbare offenlegt. Nikolaj Punin vermerkte:

Die Ehrlichkeit und der Realismus waren… gerade für Mituritsch Synonyme. Ein strenger Mensch war Mituritsch, geizig und fordernd in der Kunst, sogar wie besessen. Was er haßte, das haßte er mit vernichtender Schärfe, was er liebte, das liebte er beharrlich, kniefällig, fanatisch. Mituritsch war unser Ankläger, er war unser Gewissen.3

Die emotionale Härte, die strenge Zurückhaltung in den Gefühlen stellten die ,innere Atmosphäre‘ im künstlerischen Schaffen von Mituritsch dar. Er war kein Lyriker, der seine Kunst aus den Seelenregungen und Eindrücken von einer Begegnung mit der ,Überschicht‘ der Wirklichkeit ,herausführt‘. Wie Chlebnikow ist auch Mituritsch ein ,Erforscher‘ der im Verborgenen liegenden, tieferen Lebensprozesse und Naturrhythmen, die ihn tiefer führen als die Emotionen – nämlich zu einem neuen Weltgefühl, zu einem neuen Weltbild. „Wenn der Mensch sich auf ein neues Gefühl stützt“ – schrieb er, – „dann treten die Emotionen in den Hintergrund.“4
Im Anschluß an die Aufführung von Sangesi wurde in den Sälen des MKK eine Ausstellung in memoriam Chlebnikows eröffnet. Ein besonderes Komitee, dem u.a. Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin, Michail Wassiljewitsch Matjuschin und J.F. Lapschin5 angehörten, sammelte in Petrograd Dokumentationsmaterial aus dem Leben und künstlerischen Schaffen dieses Dichters. Ausgestellt wurden Entwürfe und ,Bretter‘ Tatlins zum Stück Sangesi, eine Skizze von Lew Alexandrowitsch Bruni6 zur Inszenierung der Chlebnikow’schen Fehler des Todes, sowie die meisten Publikationen des Dichters. Zum Kernpunkt der Ausstellung wurden aber die Arbeiten von Mituritsch, die dieser aus Moskau geschickt hatte. Dieser Maler hatte zu Chlebnikows Werken viele Illustrationen gemalt. Freilich ist das von ihm abgeschriebene und illustrierte Poem von Chlebnikows „Razin“ bis heute noch nicht publiziert. Die 150 Zeilen dieses Poems sind als Palindrom (Kehrvers) geschrieben:

Setuj, utes!
Utro čortu!
My, nizari, leteli Razinym.
Tečet i neažen, neažen i tečet.
Volgu div neset, tesen vid uglov.
Oleni. Sinelo.
Ono.

Jammere, o Klippe!
Der Morgen dem Teufel!
Wir Tiefländer, flogen den Razin entlang.
Er fließt und ist zärtlich, ist zärtlich und fließt.
Ein
Div7 trägt die Wolga,
Eng ist die Ansicht der Ecken.
Hirsche. Blaues Zwielicht brach ein.
Es
.8

Mituritsch fand eine ungewöhnliche Methode der graphischen Lösung des Poems: Er schreibt die linke Hälfte der Zeilen und gibt anstelle des Palindrom-Spiegelbildes eine graphische Improvisation, die er niemals wiederholt. Diese graphischen Kompositionen stellen ein eigenartiges „Lautecho bzw. Echo des Klanges“ dar. „Razins“ Zeilen beginnen als Poesie und enden als Graphik. Nicht umsonst bezeichnete der Dichter die Palindrome als eine „zweifach-konvexe Rede“. Und der Dichter Artem Weselyj sagte:

Chlebnikow ist ein Spiegel des Klanges.

Majakowskij war der Ansicht, ein Palindrom sei ein ziel- und sinnloses Spiel, „lediglich ein bewußtes Herumkünsteln, und das – vor lauter Überfluß“.9 Doch war es ein Fehler so zu denken, und Chlebnikow selbst war anderer Ansicht:

Ich verfaßte meinen ,Pereverten‘ in völliger Unwissenheit, und erst nachdem ich dessen Zeilen „чин зван мeчем навзнич“ (etwa: der hohe Rang wurde durch das Schwert zu Fall gebracht), – was ja für ,Krieg‘ steht, über mich ergehen ließ und fühlte, wie sie später zu einer Leere wurden: „пал, а норов худ и дух ворона лап“ (etwa: Er fiel, und sein Gemüt war arm und der Geruch der Rabenkrallen) – da begriff ich sie als einen Abglanz der Zukunftsstrahlen, die vom unterbewußten Ich in den Vernunfthimmel geworfen wurden.10

Die fehlende Richtung im Palindrom steht für die Überwindung der Erdschwerkraft durch das menschliche Bewußtsein und bedeutet den kosmischen Charakter der „die Ökumene umfassenden Weltsprache“, die ja Chlebnikow sein Leben lang als künstlerische Idee beschäftigte. Krutschonych schrieb: „Das Palindrom – früher ein Spiel für Kinder – wurde zum Spiel für Giganten. Und mehr noch als ein Spiel – es wurde zu einer ernsten Beschäftigung.“11

 

2. Räumliche Graphik
Chlebnikows Auffassung von Zahl und Maß wurde auch von Mituritsch in ähnlicher Weise vertreten. Als eine Art Annäherung an das Wesen aller Erscheinungen kam der Zahl eine kolossale Bedeutung zu, sie bildete jedoch nichts Erschöpfend-Absolutes. Chlebnikow schrieb:

Wenn jemand ein Netz aus Zahlen
über die Welt wirft,
Hat er unseren Verstand dann wirklich erhöht?
Nein, unser Verstand ist dann noch ärmer geworden!
12

Und dieses ,Netz aus Zahlen‘ – in der Kunst sind dies die Gesetze und die Möglichkeiten der Geometrisierung – verbarg in sich die Gefahr einer Art von ,Mal-Scholastik‘ und konnte zum Zerreißen der dünnen, aber lebendigen Fäden führen, wie sie zwischen dem Bild und der Natur existieren. So etwas erfolgte oft genug; es genügt, wenn wir in diesem Zusammenhang an das formale ,Netz des Kunstgriffs‘ (russ. setka priema) denken, das von Jurij Annenkow oder von Boris Grigorjew über die Kunst ,geworfen‘ wurde.
Hinter der Zahl und dem Maß stand, ohne ihnen untertan zu sein, das tiefere Wesen von Gegenständen und Erscheinungen. Wie kleine Fische durch große Netzmaschen schlüpfen, so entschlüpfte es diesem ,Zahlennetz‘. Daraus resultierte der Mißerfolg ernsthafter Versuche, den künstlerisch-schöpferischen Prozess modellieren zu wollen bzw. das Kunstwerk formalisieren zu wollen. Erreicht wurde lediglich eine ,grobe Annäherung‘, das grundlegende Wesen aber, die Seele des Meisterwerks, entzog sich jedes Mal dem Zugriff.
Ganz anders verfährt Mituritsch. Er strebt danach, die plastische Struktur dem inneren Wesen des Gegenstandes zu ,entlocken‘. Er unterwirft die Natur nicht durch a-priori-Konstruktionen, sondern er agiert im Einvernehmen mit ihr. Wie schon Welimir Chlebnikow, sucht auch er nach dem inneren ,Weltmaß‘ und versucht zu erreichen, daß die plastische Form gleich einem lebendigen Organismus wächst bzw. sich entwickelt. Schon 1916 bemerkte Punin in prophetischer Weitsicht diese Besonderheit der frühen Zeichnungen von Mituritsch:

Er faßt die Form nicht als leidenschaftsloses Wesen, sondern als eine gewisse pflanzliche Kraft auf, als einen sich ständig entwickelnden lebendigen Organismus.13

Auf der Grundlage dieser Prinzipien entwarf Mituritsch sein graphisches Alphabet bzw. seine „Raumgraphik“. Die erhaltenen ,Bausteine‘ des graphischen Alphabets sind aus Pappe gefertigt, ihre Seitenflächen bedecken Zeichnungen von Naturformen. Auf einem schrieb Mituritsch:

Diese Bausteine – mein ,graphisches Alphabet‘ – stellte ich in den Jahren 1919–1921 während meines Militärdienstes in den Kasernen her.14

Dieses Alphabet, das auf seine Weise die Ideen der Chlebnikow’schen „Sternensprache“ zum Ausdruck brachte, stieß bei den Künstlern auf lebhaftes Interesse. So vermerkte N. Lapschin:

Mit dieser Arbeit scheint Mituritsch die Grundelemente der Naturform, die ,Samen‘, aus welchen ihre Formen wachsen, finden zu wollen. Seine Beschäftigung mit dem Raum ist völlig analog zu Chlebnikows Arbeit an der Zeit, insbesondere an den Zeit-Elementen bzw. -Formen (den sprachlichen Klängen), als deren Ergebnis sein „Alphabet der Sternensprache“ erschien.

Jeden Gegenstand, jede Erscheinung sieht Mituritsch nicht allein in ihren Erd-Verbindungen und -Beziehungen; er fühlt ihr Eingebundensein in die Prozesse im kosmischen Raum. Nach seinem Ausdruck war dies für ihn ,ein neues Welt-Gefühl‘.15

In den Jahren 1918–1921 arbeitete Mituritsch viel an verschiedenen Raumkonstruktionen, die er als „Raumgraphik“ bzw. als „Raum-Malerei“ bezeichnete.

Die Raumkompositionen, die ich in großer Zahl erfand, bildeten meine Hauptbeschäftigung. Diese unsere Arbeit war begleitet von unserer Bekanntschaft mit den Werken Welimir Chlebnikows. Neben meinen Kompositionen zeichnete ich die Verse von Chlebnikow; ich war bemüht, ihm mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dienlich zu sein.16

Die Raumkompositionen von Mituritsch trugen Chlebnikows Verse und Elemente der Darstellung, die an den Konstruktions-Facetten gebrochen wurden. Zuweilen wurden die Gedichte von Chlebnikow auf ein ziehharmonika-ähnlich gefaltetes Papier geschrieben, wie es in der Komposition Mirovik geschah. Es waren eigenwillige räumliche ,Bücher‘, in denen Zeichnungen und Gedichte vereint wurden. Auf einem Foto sehen wir den Künstler in seiner Werkstatt, umgeben von derartigen Werken.
Seine Raumkompositionen präsentierte Mituritsch erstmals im Sommer 1921 auf einer Ausstellung, die dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationale gewidmet war. Von dieser in Vergessenheit geratenen Ausstellung erzählte der Maler Pawel A. Mansurow, dem die Organisation der Exposition anvertraut worden war:

Im ersten Stock des Hotels Continental waren im Hauptsaal die Vertreter sämtlicher Kunstrichtungen repräsentiert, wegen Platzmangels allerdings mit nur je einem Bild. Von den mir zur Verfügung gestellten sieben Millionen Rubeln gab ich hierfür nicht eine einzige Kopeke aus. Auch das pfeilschnelle Automobil der Marke Alfa-Romeo, gelb wie die Sonne, das ebenfalls zu meiner Verfügung stand, konnte in tadellosem Zustand zurückgegeben werden. Ich hatte zur Abrechnung mit den Künstlern einen Weg gefunden, und zwar über Jenukidze, einen Sekretär Lenins, der verfügte, den Teilnehmern an der Ausstellung nach einer von mir gefertigten Liste je ein halbes Schwein von der besten Sorte auszuhändigen. Das war für die damalige Zeit etwas Überwältigendes.17

Mansurow berichtet weiter von dem Staunen des Hotelverwalters, als jener die aus Sperrholz gebogenen Reliefs von Mituritsch erblickte:

Seine Barackenwerkstatt irgendwo am Bahngelände bei Moskau konnte ich erst später besuchen. Dort stellte er seine Reliefs aus angefeuchteten und gebogenen Sperrholzplatten her; zwei von ihnen präsentierte ich auf der Ausstellung zu Ehren der Dritten Internationale. Ich weiß noch wie im Augenblick, als der Hotelverwalter von ,Continental‘ wegen ihnen zu brummen begann, ich würde weiß der Teufel was für einen Blödsinn ausstellen wollen, die Tür aufging und Trotzki hereinkam. Er vernahm diesen unzufriedenen Ton und fragte den jetzt untertänig wirkenden Verwalter, wer er sei, und als er es erfahren hatte, sagte er ihm, er solle sich um seine eigenen Sachen kümmern und Genosse Mansurow in Ruhe lassen, dem die Organisation der Ausstellung aufgetragen worden ist, der alles vorzüglich ausführe und daher nicht gestört werden dürfe.18

Auf dieser Ausstellung konnte auch Chlebnikow die „Raumgraphik“ von Mituritsch, die er hoch einschätzte, besichtigen. Bestürzt war er, als er erfuhr, daß der Künstler diese Arbeiten kurze Zeit später fotografiert und sie daraufhin vernichtet hatte. Sie waren ja aus einem nicht allzu dauerhaften Material (Papier, Pappe, Sperrholz) gefertigt, und Mituritsch wollte nicht, daß sie mit zunehmendem Alter verzogen und verzerrt dastünden. „Als ich es Welimir sagte“ – erinnerte sich der Künstler später – „gefiel ihm das gar nicht. Warum haben Sie nicht nach meinem Rat gefragt? Ich hätte schon einen Platz für ihre Aufbewahrung gefunden, z.B. bei unserem Freund Kuftin. Daraufhin erklärte ich ihm, daß mir dies nicht wünschenswert erscheine. Die Fotos seien schon genug, und später würde ich wieder neue Kompositionen erstellen.“19
Die Raumkompositionen von Mituritsch zeigen ein kompliziertes Modell des plastischen Raumes; bei einer ,Begegnung‘ mit diesem müssen reale Formen unweigerlich und gleichsam gesetzmäßig gebrochen werden. Der Sohn des Künstlers erläuterte:

Man kann es mit Kristallen vergleichen, es sind Elementarteilchen einer komplizierten Realwelt, und an ihnen erfolgt eine Transformation der Darstellung, die aus der gewohnten, herkömmlichen Fläche in einen Kurven-Raum (krivolinejnyj ob’em) übertragen wird.20

Diese Definition bedarf einer gewissen Präzisierung bzw. einer Ausweitung. Die vom Künstler geschaffenen mehrdimensionalen Formen sind in Wahrheit keine ,Teilchen‘ einer Realwelt, sondern die in Material vorgenommene Inkarnation der Struktur des künstlerischen Raums. Es ist ein sichtbarer und vergegenständlichter plastischer Raum, der bei seiner Begegnung mit realen gegenständlichen Formen sie seiner Metrik und Rhythmik unterwirft. Diese Arbeiten von Mituritsch liefern ein anschauliches Bild von der Funktion eines formbildenden Moduls, über das der plastische Raum verfügt. Er verwandelt die Welt nach seinem Ebenbild. Das war das Ergebnis einer tieferen Erkenntnis der Natur und der Gesetze der Kunst in ihrer jeweiligen Wechselwirkung.
In der „Raumgraphik“ von Mituritsch findet sich weder eine reine Gegenstandslosigkeit, noch eine ebenso ausschließliche Gegenständlichkeit. Was wir haben, ist eine Art Legierung aus beiden. Sogar in den am meisten gegenstandslosen Arbeiten ist eine natürliche Grundlage zu erkennen, ein gesetzmäßiges Hinüberwachsen des Gegenstandes in eine Gegenstandslosigkeit, die mit einer Abstraktion von der Art Kandinskys nicht das Geringste gemeinsam hat.
Dieser gesamte Raumzyklus von Mituritsch entwickelte die Vorstellungswelt Welimir Chlebnikows weiter und setzte sie in die Plastik der Formen um.

Jewgenij F. Kowtum, aus Jewgenij F. Kowtum: Sangesi. Chlebnikow und seine Maler, Edition Stemmle, 1993

 

Horst Bienek: Schamanismus der Sprache. Zu Chlebnikovs Neu-Entdeckung, Merkur, Heft 293, September 1972

Wladimir Majakowski: Velimir Chlebnikov, Merkur, Heft 287, März 1972

 

Welimir Chlebnikow und seine poetische Wolga

Fakten und Vermutungen zu Aleksej Kručënych + Pennsound +
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Fakten und Vermutungen zu Welimir Chlebnikow + Instagram +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Welimir Chlebnikows sprache privat gelesen von Valeri Scherstjanoi beim KULTURNETZ 6. KULTURFEST – DAS WORT AUF DER ZUNGE, EIN POETISCHES GASTMAHL am 3.12.2010 in Kassel.

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