Victor Chlebnikov & Aleksej Kručënych: Höllenspiel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Victor Chlebnikov & Aleksej Kručënych: Höllenspiel

Chlebnikov/Kručënych-Höllenspiel

Die Zeit verstreicht – dieselben Karten,
desselben Goldes Rot,
es graut der Tag – der Gram des Spieles
ist mächtig wie der Tod!

Im steten Dämmern wächst der Dunst,
die Kehle krampft zusammen,
das Haus zeigt Risse, aus dem Mund
aufwirbeln stinkend Flammen.

Die Stunden sind dem Wahnsinn nah,
dem Auge droht ein Streich,
ein Krachen… Donnern… Spiel, Eklat –
ist ihnen alles gleich…!

 

 

 

Nachbemerkung

„Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ waren die aufsehenerregenden lithographierten Bücher der russischen Futuristen, von denen zwischen 1912 und 1916 etwa 50 verschiedene herausgegeben wurden. Sie vereinten außergewöhnliche künstlerische Ansprüche mit billigster Herstellung und zerstörten gründlich den Heiligenschein einer Kunst, die aus ehrfürchtiger Distanz betrachtet werden will. Erfolgreich erregten sie das Mißfallen der älteren Künstlergeneration; „alberne Bilderbüchlein“, urteilte Benois.
Kručënych, einer der wichtigsten futuristischen Theoretiker, schrieb 1913:

Gibt es erst einmal eine neue Form, so gibt es folglich auch einen neuen Inhalt, die Form bedingt somit den Inhalt. / Unser Sprachschaffen wirft auf alles ein neues Licht. / Nicht die neuen Objekte des Schaffens bestimmen seine wahre Neuheit. Das neue Licht, auf die alte Welt geworfen, kann ein ganz wunderliches Spiel auslösen.

Text und Illustrationen wurden konzeptionell und im lithographischen Verfahren so eng miteinander verbunden, daß ein organischer Zusammenhang entstand, der der Abbildung ihre sekundäre Rolle nahm und die Schrift einer Abbildung annäherte; man fühlt sich an chinesische oder japanische Schrift-Bilder erinnert.
Die billige Aufmachung, graues oder gelbliches, grobes Papier, alte Tapeten, grobe Schablonen, Hand- oder Stempelschrift und sogar Kartoffeldruck, die stilisierte Unordnung – all das bedeutete eine Provokation gegenüber den ,feinen‘ Büchern der Ästheten, wirkte selbstgemacht und nicht gerade elegant, war aber nur konsequent im Sinne der deklarierten futuristischen Kunst, die sich gegen die Abgenutztheit der Kunstmittel, gegen den Automatismus der Wahrnehmung richtet.
Gerade in den Anfängen des Futurismus war die Abgrenzung von der traditionellen Kunst, besonders von den Symbolisten, der noch lebenden Künstlergeneration, ein wesentliches Thema. Bei allem Verbalradikalismus gegen Klassiker und Symbolisten behaupteten die Futuristen aber nicht etwa, sich in ihrem Streben nach der „wahren Neuheit“ in der Kunst mit dem „Dampfer der Gegenwart“ begnügen zu wollen; im Gegenteil bezogen sie sich in jeder Hinsicht auf ,Ursprünge‘, die sie neu formen und in neue Zusammenhänge setzen wollten. In der Absicht einer ,Aufwertung‘ der Sprache gingen sie zurück auf den „Buchstaben als solchen“, auf kleinste Spracheinheiten.
So ist auch der Abdruck von handgeschriebenen Texten zu verstehen: das handschriftliche Zeichen bot nach Ansicht der Futuristen größere Ausdrucksmöglichkeiten und einen weiteren Assoziationsradius von Bedeutungen, Atmosphären und Stimmungen. Das Höllenspiel wurde von Kručënych in stilisierten kirchenslavischen Lettern niedergeschrieben – eine Anlehnung an Traditionen, deren neuartige Verwendung hier eine ironische Brechung bewirkte und nicht zuletzt ein blasphemisches Moment enthielt.
Hatte die ältere Künstlergeneration ein eher verklärendes, mystifizierendes Verhältnis zur volkstümlichen Kunst und ihren Motiven, so waren die Futuristen vor allem von der Naivität und Einfachheit der Volkskunst fasziniert. Sie ließen sich von oft handkolorierten Volksbilderbogen des 17./18. Jahrhunderts inspirieren, auf denen folkloristische Helden dargestellt waren, Tierkreiszeichen oder auch Parodien auf Staatsereignisse. Sie gingen zurück auf die Wurzeln der eigenen nationalen Kunst, nahmen sich Anregungen aus den Künsten fremder Nationen und eigneten sich dieses reiche Material hemmungslos an.
Ohne diesen Hintergrund ist das Höllenspiel heute nicht leicht zugänglich, weder seine provokative Wirkung, noch die Neuartigkeit seiner Gesamterscheinung, die bei sprachexperimentellen Texten wie dem berühmten „dyr bul ščyl“ von Kručënych oder Chlebnikovs „Beschwörung durch Lachen“ offenkundig sind. Kručënych betonte 1928, das Poem sei „nicht mystisch, sondern spöttisch“ gemeint, als „ironischer Ulk auf den althergebrachten Teufel“. Über seine Entstehung schrieb er:

Ich hatte schon 40-50 Zeilen fertig, für die Chlebnikov Interesse zeigte, und er begann, hauptsächlich für die Mitte, neue Strophen hinzuzuschreiben. Dann sahen wir es gemeinsam durch und machten einige abschließende Korrekturen.

Das Poem beginnt mit einer Art Beschreibung der Hölle, in der die Sünder schmoren und auf Räder gespannt sind, während sich bebrillte oder kahlköpfige Teufel beim Kartenspiel mit seltsamen Regeln vergnügen, es fährt fort mit sprunghaft wechselnden Szenen, in denen zunehmend hitziger um Gold (oder um Seelenheil?) gespielt wird, Teufel zersägt werden, Hexen ihren Besen schwingen, ein maskierter Leichnam (ein Sünder und/oder der Erretter?) mit einem Kreuz auf der Brust, das plötzlich verschwunden ist, zu gewinnen scheint, entlarvt und in Stücke gerissen wird – aber das Spiel geht weiter, endlos: Öde breitet sich aus, engelhafte wunderliche Gestalten streichen an Fenstern vorbei. Auf der Suche nach tiefgründiger Symbolik – der ewige Kampf zwischen Gut und Böse? – fühlt man sich dann doch genarrt und möchte das Ganze vor allem als Parodie auf Mystizismus, apokalyptische Visionen, Okkultismus verstehen – Motive und Elemente, die dem Symbolismus zugeschrieben werden. Hier sind die finsteren Mächte des Bösen zu Karikaturen geworden, Grausamkeiten haben ihren Schrecken verloren, vermeintliche Regeln sind karnevalistisch aufgehoben, Sinn und Zweck dieses wilden Glücksspiels verschwimmen in seiner unendlichen Wiederholung. Die streng gereimte Form mit fast durchgehend vierhebigem Jambus und bisweilen seltsam erzwungenen Reimwörtern verstärkt den Eindruck von bewußt gegeneinandergesetzten Stilmitteln. Drastisch derbes Vokabular wird gebrochen durch altertümlich feierliche Kirchenslavismen. Die energisch gezeichneten, holzschnittähnlichen Figuren vervollständigen mit ihrem stilisierten Primitivismus das Gesamtbild und verstärken den ironischen Tonfall des Poems.

Beate Rausch, Nachwort

Die lithographierten Bücher

der russischen Futuristen aus den Jahren 1912–1916 waren „eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Gerade handgeschriebene Texte boten nach Ansicht der Futuristen besonders gute Ausdrucksmöglichkeiten für rasch wechselnde Eindrücke und Stimmungen. Chlebnikov und Kručënych waren Jugendfreunde, beide spielten im Futurismus eine wichtige Rolle. Ihr Höllenspiel, das sie 1912 gemeinsam reimten, in stilisierten kirchenslavischen Lettern niederschrieben, wurde von Natalija Gončarova illustriert und in einer Auflage von 300 Exemplaren gedruckt.
Kručënych betonte 1928, das Poem sei „nicht mystisch, sondern spöttisch gemeint, als ironischer Ulk auf den althergebrachten Teufel.“ In dieser ersten deutschsprachigen Ausgabe wird das russische Original der Nachdichtung von Ludwig Harig gegenübergestellt.

Friedenauer Presse, Klappentext, 1986

 

Horst Bienek: Schamanismus der Sprache. Zu Chlebnikovs Neu-Entdeckung, Merkur, Heft 293, September 1972

Wladimir Majakowski: Velimir Chlebnikov, Merkur, Heft 287, März 1972

 

Welimir Chlebnikow und seine poetische Wolga

Fakten und Vermutungen zu Aleksej Kručënych + Pennsound +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Welimir Chlebnikows sprache privat gelesen von Valeri Scherstjanoi beim KULTURNETZ 6. KULTURFEST – DAS WORT AUF DER ZUNGE, EIN POETISCHES GASTMAHL am 3.12.2010 in Kassel.

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