BRIEF AN EINEN JUNGEN DICHTER
(…)
Da Sie jedoch, wie Sie sagen, in einer Zwangslage stecken („nie war es so schwer wie heute, Gedichte zu schreiben“),und da Sie glauben, die Dichtkunst in England liege in den letzten Zügen („das eigentlich Interessante machen jetzt die Romanautoren“), will ich mir die Zeit, bis die Post abgeholt wird, damit vertreiben, mich in Ihren Zustand hineinzudenken und ein oder zwei Vermutungen zu wagen, die, da es sich hier um einen Brief handelt, nicht allzu ernst genommen oder zu genau untersucht werden müssen. Ich will versuchen, mich in Ihre Lage zu versetzen; ich will versuchen, mir mit Hilfe Ihres Briefes vorzustellen, wie es sein mag, im Herbst 1931 ein junger Dichter zu sein. (Und eingedenk meines eigenen Ratschlags werde ich Sie dabei nicht als einen konkreten Dichter betrachten, sondern als diverse Dichter in einem.) Auf dem Resonanzboden Ihres Geistes – denn ist es nicht das was Sie zum Dichter macht? – schlägt der Rhythmus seinen fortwährenden Takt. Mitunter scheint er ganz zu verklingen; er lässt Sie essen, schlafen, sprechen, so wie andere Menschen auch. Dann wieder schwillt er an steigt empor und will den ganzen Inhalt Ihres Geistes in einem alles beherrschenden Tanz davonwirbeln. Genau das ist heute Abend der Fall. Obwohl Sie ganz allein sind, sich soeben des einen Stiefels entledigt haben und im Begriff stehen, den anderen aufzuschnüren, können Sie den Vorgang des Stiefel-Ausziehens doch nicht fortsetzen, sondern müssen unverzüglich schreiben, auf Geheiß des Tanzes. Sie greifen zu Stift und Papier, machen sich kaum die Mühe, ersteren fest zu greifen und letzteres glatt zu streichen. Und während Sie schreiben, während die ersten Strophen des Tanzes dingfest gemacht werden, ziehe ich mich ein wenig zurück und schaue aus dem Fenster. Eine Frau geht vorbei, dann ein Mann; ein Auto kommt zum Stehen, und dann… Doch es besteht kein Anlass zu schildern, was ich durch das Fenster sehe, noch reicht die Zeit dafür, denn nun reißt mich ein Aufschrei des Zorns oder der Verzweiflung abrupt aus meinen Betrachtungen. Ihr Blatt ist zerknüllt, Ihr Füllhalter steckt aufrecht, mit der Feder voran, im Teppich. Wäre eine Katze zur Hand, die an die Wand geschleudert, oder eine Ehefrau, die ermordet werden könnte, so wäre jetzt der passende Zeitpunkt. Zumindest entnehme ich das Ihrem wilden Gesichtsausdruck. Sie sind gereizt, erschüttert, ganz und gar missgelaunt. Und wenn ich den Grund dafür erraten müsste, so würde ich sagen, der Rhythmus, der eben noch mit solcher Macht pulsierte, dass Schauer der Erregung Sie vom Kopf bis zu den Zehen durchfuhren, ist auf ein festes, feindseliges Objekt gestoßen und daran in tausend Stücke zerschellt. Etwas hat sich hineingemengt, das sich nicht in Dichtung verwandeln lässt; ein fremdartiger Körper, linkisch, scharfkantig und grobschlächtig, verweigert sich dem Tanz. Der erste Verdacht fällt natürlich auf Mrs. Gape – denn sie hat Sie gebeten, ein Gedicht über sie zu schreiben –, dann auf Miss Gurtis und ihr Geständnis im Omnibus, und schließlich auf C., der Ihnen den Wunsch eingeflößt hat, seine Geschichte – in der Tat eine höchst amüsante Geschichte – in Versen wiederzugeben. Doch aus irgendeinem Grund können Sie diesen Wünschen nicht entsprechen. Chaucer konnte es, Shakespeare konnte es, ebenso wie Crabbe, Byron und vielleicht auch Robert Browning. Doch wir schreiben Oktober 1931, und die Dichtkunst scheut nun schon seit Langem jeden Kontakt mit… wie wollen wir es nennen? Wollen wir es kurz und zweifellos höchst unpräzise als „Leben“ bezeichnen? Und werden Sie mir zu Hilfe kommen und selbst erraten, was ich damit meine? Nun, die Dichtkunst jedenfalls hat all das den Romanautoren überlassen. Da sehen Sie, wie leicht es mir fallen würde, zwei bis drei Bände mit dem Loblied der Prosa und dem Abgesang auf die Verskunst zu füllen, mich darüber auszulassen, wie weit und üppig das Reich der einen ist und wie kümmerlich und kränklich das Wäldchen der anderen. Doch es wäre wohl einfacher und womöglich auch gerechter, diese Theorien zunächst zu überprüfen und eines der schmalen Bändchen mit moderner Lyrik aufzuschlagen, die bei Ihnen auf dem Schreibtisch liegen. Ich schlage es also auf und finde mich umgehend widerlegt. Hier treffe ich auf die gewohnten Gegenstände alltäglicher Prosa, das Fahrrad und den Omnibus. Der Dichter konfrontiert seine Muse offensichtlich mit Tatsachen. Hören Sie nur:
Wem von euch, der, früh erwacht, den Tag
aaaaaaaaaaanbrechen sieht,
Klopft nicht heftiger das Herz im Angesicht
aaaaaaaaaades Wunders
An losgelassnem Licht, das, Führer der
aaaaaaaaaaBewegung, vorrückt,
Wie Brandung sich bricht an Wiese, Weg
aaaaaaaaaaund Wohnstatt
Oder den Schatten über Hügel jagt wie ein
aaaaaaaaaarennender Windhund,
Dann, von Steinen besänftigt, gebremst von
aaaaaaaaaaWimpernschranken,
Einem Gesicht Profil abringt, Male des
aaaaaaaaaaMissbrauchs,
Ungeduldig, ungestüm an die Läden eines
aaaaaaaaaaDamenzimmers schlägt,
Wo das alte Leben noch nicht auf ist, mit
aaaaaaaaaaseinen Strahlen
Durch morsche Böden eine brüchige Mühle
aaaaaaaaaaerforscht –
Und keine Neugeburt dem alten Leben?
Schön und gut, aber wie will er damit durchkommen? Ich lese weiter und finde dies:
aaaaaaaaa. a. Und pfeifend schließt er
Die Tür hinter sich, fahrt mit der U-Bahn
aaaaaaaaaazur Arbeit
Oder nimmt den Weg durch einen Park,
aaaaaaaaaaum die Verdauung zu fördern,
und lese weiter und finde:
So wie ein Junge, der, unlängst vom Land
aaaaaaaaaain die Stadt gezogen,
Für einen Tag in sein Dorf zurückkehrt
aaaaaaaaaain teuren Schuhen…
und finde weiter:
Den Himmel auf Erden suchend, jagt er
aaaaaaaaaaden eigenen Schatten,
Verliert sein Kapital und noch den letzten
aaaaaaaaaaNerv an Dinge,
Nach denen Segler, Entdecker, Aufsteiger
aaaaaaaaaaund Mistkerle streben.1
Diese Zeilen und die Ausdrücke, die ich hervorgehoben habe, genügen schon, um mich zumindest teilweise in meiner Vermutung zu bestätigen. Der Dichter versucht, Mrs. Gape einzubeziehen. Er ist ganz ernsthaft der Ansicht, dass es möglich ist, sie in Dichtung zu überführen, und dass sie sich dort auch bestens machen wird. Die Dichtkunst, so findet er, wird durch das Faktische, durch das Profane nur gewinnen. Doch so ehrenwert mir sein Versuch auch scheint, ich bezweifle dennoch, dass er ganz gelungen ist. Ich spüre einen Missklang. Ich spüre eine Erschütterung. Ich fühle mich, als hätte ich mir den Zeh an der Kante des Kleiderschranks gestoßen. Bin ich also, muss ich mich weiter fragen, prüde und konventionell und von den Ausdrücken selbst erschüttert? Ich glaube nicht. Die Erschütterung ist wahrhaftig eine Erschütterung. Der Dichter, so vermute ich, hat sich damit verausgabt, ein Gefühl einzubeziehen, das weder für die Dichtkunst domestiziert noch akklimatisiert wurde; die Anstrengung hat ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, und ich brauche, davon bin ich überzeugt, nur umzublättern, schon wird er sich mittels eines brachialen Rückgriffs auf das Poetische wieder erheben: Er führt den Mond ins Feld oder die Nachtigall. Doch der Einschnitt bleibt scharf. Das Gedicht bricht mitten entzwei. Sehen Sie nur, es zerfällt mir unter den Händen: Da ist die Realität auf der einen Seite, da ist die Schönheit auf der anderen, und statt ein abgerundetes, komplettes Ganzes zu besitzen, halte ich nur zerbrochene Teilen in den Händen, die ich, da mein Verstand geweckt und es meiner Vorstellungskraft nicht gestattet ist, ganz die Oberhand über mich zu gewinnen, nun kühl, kritisch und durchaus unwillig betrachte.
(…)
sondern erschaffe Charaktere und hole ihre Stimmen hervor! Vermeide Selbstmitleid! Lies die großen Dichter vergangener Zeiten! Verwandle menschliches Leben in Poesie! Schreibe Tragödien und Komödien in verdichteter Form! Vor allem aber: Strebe nicht nach Ruhm und veröffentliche nichts vor dem dreißigsten Lebensjahr!
Virginia Woolfs Brief an den jungen Dichter John Lehmann ist eine Gebrauchsanweisung für moderne Poesie. Als erfahrene Prosaschriftstellerin, die sich vorgeblich über die Dichtkunst kein wirkliches Urteil erlauben mag, gibt sie dem scheinbar verzweifelten John feinfühligen, ironischen und sehr präzisen Rat. Dieser erschien erstmals 1932 als achter Band der Hogarth Letters in Woolfs eigenem Verlag. Der vorgebliche Adressat des Briefs, John Lehmann, war dort Geschäftsführer und hatte Virginia Woolf um einen Beitrag über moderne Lyrik gebeten. Aus der vermeintlichen Unterweisung des Dichterfreunds entwickelt Virginia Woolf eine beeindruckende Poetik.
Steidl Verlag, Ankündigung
– Virginia Woolfs Überlegungen zur modernen Lyrik. –
Virginia Woolfs Brief an einen jungen Dichter erschien erstmals 1932 in der Hogarth Press, dem Verlag, den die britische Schriftstellerin (1882–1941) gemeinsam mit ihrem Mann Leonard Woolf gegründet hatte und in dem sie auch ihre eigenen Werke veröffentlichte. Der junge Dichter John Lehmann, der als ihr Geschäftsführer fungierte, hatte sie für den achten Band der sogenannten Hogarth Letters um einen Beitrag über moderne Lyrik gebeten. Virginia Woolf sagte zu und entschied sich für die Form eines Briefes, in dem sie vorgibt, einem jungen Dichter, der unter einer Schreibblockade leidet, ihre Gedanken über moderne Lyrik mitzuteilen – wohl wissend, dass solch ein fiktiver Dialog natürlich lebendiger ist als eine trockene Poetik. Ein Manifest wäre ihrem ironischen Temperament nicht gemäß gewesen. Woolf proklamiert hier keine Thesen, sondern entwirft und verwirft ihre Position in einem kurzweiligen Prozess der Erkenntnis. Dem abstrakten Begriff zieht sie ein Bild vor. Oder erfindet eine Figur, um ihr Argument zu veranschaulichen.
So erzählt sie dem jungen Dichter von einem älteren Gentleman, der zwischen seinen Hustensalven den Tod des Briefeschreibens, ja den Tod der Dichtkunst überhaupt beklagt. Das Gegenteil sei richtig, sagt sie. Chaucer, Shakespeare und Tennyson lebten in den heutigen Dichtern weiter, ein Gedanke, auf den sie noch mehrmals zurückkommt – nur dass sie den Bezugsrahmen immer wieder neu spannt: Ein anderes Mal sind es die Romantiker Shelley, Byron und Keats, die sie ins Feld führt. Sie zitiert Verse von Auden, der – was Virginia Woolf einigermaßen irritiert – sein „lyrisches Ich“ zu so etwas Alltäglichem wie der U-Bahn gehen und, schlimmer noch, durch den Park spazieren lässt, um den „Darm zu entlasten“. Dieser Verstoß gegen den traditionell hohen Ton der Dichtung lässt sie zusammenzucken, als ob „sie sich den Zeh am Kleiderschrank gestoßen habe“.
In ihrer Kritik operiert sie allerdings methodisch genauso wie der Dichter mit dem uncharmanten Darm. Die Verskunst und den großen Zeh zusammenzuspannen bedeutet einen humoristischen Bruch. Sehr gern bringt Virginia Woolf das Hohe und das Alltägliche oder Lebenspraktische bildlich zusammen. Trotzdem ist es verwunderlich, dass in Sachen Lyrik bei ihr, der Verfasserin avantgardistischer Romane (siehe die Besprechung der Neuübersetzung ihrer Romanbiografie Orlando auf dieser Seite), eine konservative Ästhetik durchzuschimmern scheint, eine Position, die antike und klassische Maximen wie Schönheit und innere Geschlossenheit einfordert. Mit dem Kunstgriff, in Gestalt des hustenden Mr. Peabody einen so aufgeblasenen wie beschränkten Philister zu verspotten, kann sie selbst scheinbar konservativ sein und sich zugleich von dem lächerlichen Reaktionär absetzen.
Diese zeitgenössischen Gedichte hätten weder „Ohren noch Augen, weder Fußsohlen noch Handflächen“, so Woolf, sie entsprängen einem „buchgefütterten Gehirn“. Und während die Dichter vormals die Liebe oder den Hass auf einen Tyrannen besungen hätten – Themen, die jedermann zugänglich sind –, zeigten die Gedichte der Gegenwart einen extrem gesteigerten Subjektivismus. Der Dichter heute sitze allein in seinem Zimmer, schreibt sie, bei heruntergelassenen Jalousien. Doch sei es nicht die Aufgabe des Dichters, sich narzisstisch zu bespiegeln, sondern aus dem Fenster zu schauen und über andere Menschen zu schreiben. Und weiter: Er solle unser Leben in Dichtung verwandeln und darin die Tragödie und die Komödie aufscheinen lassen. Und die geheime Affinität aufspüren, die zwischen Disparatem besteht. Der Dichter möge aus dem Fenster schauen, bis ein Ding ins andere zerfließt, bis aus den separaten Fragmenten ein Ganzes entstanden ist, bis die Taxis mit den Osterglocken tanzen.
Taxis, die mit Osterglocken tanzen? Die Moderne, sei sie nun durch das Taxi oder die U-Bahn vertreten, darf also durchaus Thema von Lyrik sein. Und die Osterglocken sind gewiss eine Anspielung auf das berühmte Narzissen-Gedicht des englischen Romantikers Wordsworth.
Die unerschöpfliche Schönheit der englischen Sprache soll der Dichter Woolf zufolge entfalten, ihre Wertigkeit, ihre Farben, Laute und Assoziationen und damit die Wörter über sich selbst hinausleuchten lassen, schreibt sie. Und er dürfe, um Himmels willen, nichts veröffentlichen, bevor er dreißig ist. Vorher gehe es nur darum: üben, üben, üben!
Am Ende weiß der Leser, welche Fehler man vermeiden sollte. Und fängt an zu ahnen, wie es gelingen könnte, gute Gedichte zu schreiben. Wer aber erfahren will, wie man gute Aufsätze, Briefe oder E-Mails schreibt, lese die wunderbaren Essays von Virginia Woolf, die sehr viel zugänglicher sind als ihre Romane. Ihr kurzer Brief an einen jungen Dichter ist eine Entdeckung – in seiner Lebendigkeit und Klugheit, seiner Ironie und dank Virginia Woolfs wunderbarer Fähigkeit, abstrakte Sachverhalte zum Beispiel mit einem hustenden Gentleman zu erklären, den sie am Ende des Briefes an einem gebutterten Stück Toast ersticken lässt.
Bärbel Gerdes: Virginia Woolf: Brief an einen jungen Dichter
aviva-berlin.de, 17.5.2019
Janice Sattler: Aufruf zum Unfug
litlog.de, 23.6.2020
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