ROULETTE
Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung
sollte ich vom Auto überfahren worden sein
Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung
sollte ich an Frauenküssen gestorben sein
Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung
sollte ich überbaupt nicht geboren sein
Jede Nummer kommt gleich heraus
nur haben Sie sie grad nicht gesetzt
Poesie – Roulette
Rimbaud Lautréamant
rechtzeitig weggehen ist alles
Wann ist das?
Keiner kann weggehen bevor er die Bank gesprengt hat
Gewinnen oder vollständig scheitern
Nichts lockt mich so sehr, als mit vielen Federn zugleich zu schreiben.
Prophezeiungen auszusprechen, lohnt nicht – auch in der Literaturgeschichte nicht. Aber Vermutungen, Hypothesen sind nicht ohne Nutzen. Dazu gehört die Äußerung des einen und anderen Wissenschaftlers oder Dichters in diesem und jenem Volk, daß das Werk von Vítězslav Nezval eingehen werde in die überaus reiche Geschichte der tschechischen Poesie des 20. Jahrhunderts, zwar mit zwei Ismen verbunden (mit dem Poetismus und dem Surrealismus – zu beiden werden wir, gewollt oder nicht, zurückkehren müssen), doch mit einer „wundersamen“, ja souveränen Position. Das Exzeptionelle und Autonome ist bereits durch die bloße Quantität, die Fülle gegeben: die Fülle der Verse, Gedichte und Gedichtsammlungen, aber auch die Fülle der beherrschten (und zumeist wie beherrschten!) literarischen Genres: Poesie, Prosa, Drama, Essay, Übersetzung, Memoiren, Reden, Filmszenarien usw. bis zu den peripheren, aber nicht zu übergehenden praktischen Exkursen in die Musik und Malerei, aber auch in die Politik.
Der achtundfünfzigjährige Nezval (geboren 26. Mai 1900 in dem südmährischen Dorf Biskoupky bei Třebíč) hinterließ in der Stunde seines Todes einhundertundein Buch. Das ist alles in allem ein kostbares Geschenk von der Art der Gaben, an denen keine Nationalliteratur allzu großen Überfluß hat. Im Kontext der tschechischen Literatur müssen wir sofort an die einzige gleichwertige Erscheinung in Gestalt von Jaroslav Vrchlický (1853-1912) denken, eine Erscheinung, die allerdings in ihrem Schwerpunkt zum 19. Jahrhundert gehört und also auch zu anderen Gebundenheiten; in der deutschen Literatur drängt sich ein olympischer Vergleich auf: Goethe. Beiden ist Nezval nicht nur als ein wahrhaft enzyklopädischer Geist, dem der lyrisch gestimmte Vers bei weitem nicht genügt, sondern auch in seiner Grundhaltung verwandt: Es sind dies im eigentlichen Sinn des Wortes Renaissancegeister, eruptiv, aus innerem Antrieb und mit einer Leichtigkeit schöpferisch, die keine formalen Hindernisse kennt. Die Vitalität, mit der sie sich auf das Leben geradezu stürzen, um seine Fülle zu fassen und sie maximal in ihr Werk hereinzuholen, verwehrt es ihnen zwar nicht, auch die Kehrseite der Dinge zu sehen, sich die letzten Fragen zu stellen, von Skepsis und Desillusion erfaßt zu werden – doch immer siegen die positiven und harmonisierenden Kräfte: die Fähigkeit, sich unaufhörlich zu erneuern, zu regenerieren, die Fähigkeit zur Wandlung.
War Goethe in den deutschen Zusammenhängen ein wunderbarer Brennpunkt, in dem die Impulse vieler Jahrhunderte und Traditionen gesetzmäßig zusammentrafen, war Vrchlický (dem übrigens gerade durch das Verdienst der Übersetzungen ins Deutsche ein wenn auch nicht allzu großer und heute schon fast vergessener, aber doch europäischer Widerhall zuteil wurde) mit seiner besessenen Allumfassendheit vor allem die typisch tschechische Erscheinung der „Einholung von Europa“ und der „Öffnung der Fenster zur Welt“, so ist Vítězslav Nezval völlig äquivalent den Dichtern von Weltrang seiner Epoche. Er gehört unbestritten zu denen, die schon heute das poetische Schaffen des 20. Jahrhunderts bestimmen, und in dieser Polyphonie klingt seine Poesie mit der gleichen vollen Stimme, mit der gleichen Dringlichkeit wie die Poesie eines Majakowski, Brecht, Pablo Neruda, Georg Trakl, Paul Eluard, eines Johannes R. Becher und Paul Celan – wir nennen mit voller Absicht Persönlichkeiten von unterschiedlicher Welthaltung und poetischer Anschauung, indem wir uns ausschließlich auf die Gültigkeit des dichterischen Wortes, die Dauerhaftigkeit und (gewiß immer relative) Neuheit ihrer poetischen Aussage beziehen, In diesem vielstimmigen Chor den Platz für Nezval zu bestimmen, bedeutet, den Schlüssel zu seinem poetischen Prinzip zu suchen und zu finden.
Dieser Schlüssel ist – unserer Meinung nach – die Imagination. Das klingt freilich approximativ, falls wir die Imagination als allgemeine Voraussetzung für jede künstlerische (und nicht nur künstlerische) schöpferische Tätigkeit, für Kreativität und Produktivität auffassen. Bei Nezval ist die maß- und bodenlose Imagination das Taufwasser und der Sinn, der Feuervogel Phönix und die Luft, das Alpha und Omega. In ihrem Spektrum verwandelt sich unentwegt alles in Poesie, was Nezvals Blick, sein Ohr, seine übersensiblen Sinne berührt. Nezvals Imagination ist das Element, das ständig die Flammen entfacht, sie ist die Kraft, die unaufhörlich die Quellen öffnet und Geysire emporschleudert – wir verwenden mit Vorbedacht Worte, durch die Nezvals Poesie häufig charakterisiert wird.
Der ständige Gefühlsüberdruck, das Explosive, das Vulkanische – das sind zusätzliche Zeichen jener Fülle, jener Quantität, die zum Arsenal der Einwände gegen die Qualität gehörte und gehört, gegen die mangelnde Homogenität der Nezvalschen Invention, gegen gewisse Schwankungen der Werte, da neben faszinierenden Werken von kristallischer Schönheit und phosphoreszierender Bildhaftigkeit auch halbautomatisch [In einem frühen Stadium arbeiteten einige der französischen Surrealisten nach der Methode der automatischen Schreibweise (é criture automatique), die von eitlem psychischen Automatismus ausging und die Welt des Unterbewußten durch rein mechanisches Aufschreiben zu fassen glaubte, Nezval benutzte diese Methode, um Rohmaterial für seine Poesie zu gewinnen.] geschriebene Werklein stehen, einer Augenblickslaune entsprungen und von vergänglicher Schönheit, wenn nicht überhaupt des Vergessens wert. Neben der Kunst ein bloßes Können.
„Die Methode, für die ich eingenommen bin“ (Nezvals berühmte Redensart) wird bereits durch die Titel einiger Bücher charakterisiert: Pantomime, Karneval, Der wundersame Zauberer, Der kleinere Rosengarten, Das Würfelspiel, Das falsche Mariagespiel, Der Papagei auf dem Motorrad, Der Akrobat, Die Depesche auf Rädern, Besessenheit, Tyrannei oder Liebe, Der gläserne Havelock, Die Glückskette. Der letztgenannte Titel eines Prosabuches (das nicht das ausdrucksvollste von Nezval ist – dieses ist Dolce far niente, eine zauberhafte Evokation der Kindheit) weist nebenbei auf eines der wichtigen Glieder seiner imaginativen Kette hin: auf den magnetischen Begriff Glück. Der Dichter, dem wir Strophen verdanken, die von intimstem Glück, von erotischer und sexueller Liebe geradezu überquellen, und der mit geschärften Sinnen alle Spiegelungen des Zauberprismas der Liebe wahrnahm und in Bildern von seltener Konkretheit wiedergab (im „Regen über Prag“ genauso wie im „Gras hinter dem Heimatdorf“, „fünf Minuten“ hinter Brünn genauso wie am Ufer des Schwarzen- oder des Mittelmeeres), dieser Dichter wurde geradezu zwanghaft zum Suchen nach den Kräften getrieben, die imstande wären, allen Menschen Glück zu schenken. Deshalb konnte er bereits sehr früh schreiben:
Ich gab meinen Stimmzettel ab im Zeichen der Revolution, denn ich bin jener, der fühlt, daß nun Glück kommen muß.
Es ist darum eben nicht paradox, wenn dieser Dichter der Imagination, ein Mensch des 20. Jahrhunderts, in einem dem Gedenken an Lenin gewidmeten Gedicht „den Zauber der Revolution“ in unmittelbare Nachbarschaft zu dem Schaffen der „phantasmagorischen Dichter“ stellt…
In Lenins Lehre hatte der Optimismus, der bei dem sanguinischen Temperament Nezvals zweifellos in tiefen Schichten seiner Persönlichkeit verwurzelt ist, auch einen geschichtlichen Boden gefunden. Der Optimismus des Dichters mit seiner unendlich spielerischen und in ihrem Spieltrieb „nur so im Vorbeigehen“ erfindenden und entdeckenden Imagination bestimmte Nezval von vornherein für die Rolle des führenden Dichters des Poetismus, der spezifisch tschechischen, avantgardistischen Kunstrichtung der zwanziger Jahre, durch die fast alle bedeutenden tschechischen und slowakischen Dichter aus Nezvals Generation gegangen sind und die selbst ein halbes Jahrhundert nach ihrem Entstehen nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt hat. Der Poetismus ging aus einer Gruppierung von Künstlern aller Kategorien hervor, dem Künstlerverband Devětsil (Neunkraft, aber auch Pestwurz), von Künstlern, die nach dem ersten Weltkrieg zunächst unter dem Banner der proletarischen Kunst auftraten und zu deren Leitspruch die von dem Prosaiker Vladislav Vančura formulierten geflügelten Worte wurden: „Neu, neu, neu ist der Stern des Kommunismus, seine Gemeinschaftsarbeit schafft einen neuen Stil, und es gibt keine Modernität außer dieser.“ Die Welle der tschechischen proletarischen Dichtung bedeutet den ersten starken Nachkriegsimpuls; Jiří Wolker, Jaroslav Seifert, Jindřich Hořejší, A.M. Píša, Konstantin Biebl…
Die Modernität einer derart politisch verankerten, wenn auch noch so spezifischen Richtung entsteht freilich nicht im luftleeren Raum. Das Prag jener Jahre lag sozusagen in einem Schnittpunkt zwischen Moskau und Paris, zwischen Berlin und Rom. Der Prager Theoretiker des Poetismus Karel Teige (1900-1951), der später die allererste Monographie über Majakowski schrieb, hielt engsten Kontakt sowohl zu den zeitgenössischen sowjetischen als auch zu den französischen Künstlern. Man war in der Kunstdiskussion auf der Höhe der Zeit. Bis heute wird die Tatsache übersehen, daß der Brünner Theoretiker des Poetismus, der Germanist Bedřich Václavek (1897-1943), ebenso beweglich den Kontakt mit der deutschen Kunst vermittelte, das heißt besonders mit dem linken Berliner Dadaismus (jedoch auch mit dem erlöschenden Züricher Zentrum), wie mit den spätexpressionistischen Ausläufern (auch wenn der Poetismus den Expressionismus „programmatisch“, aber recht pauschal ablehnte), die dann zuletzt in die sogenannte Neue Sachlichkeit mündeten. Die geringsten Spuren hinterließ in dieser Genealogie des Poetismus der italienische Futurismus, sicher nicht zuletzt wegen Marinettis indiskutabler politischer Haltung.
Zwischen diesen Kraftlinien der Kunst verliert sich Nezvals Poesie in den zwanziger Jahren nicht in flüchtigen Neigungen und Übernahmen. Spürbar beeinflußte sie – gleich im Erstling „Die Brücke“ – eigentlich nur Karel Čapeks Anthologie Französische Poesie der Neuzeit. Die Gedichte der französischen Symbolisten schienen fast unmerklich in die Struktur der frühen Verse Nezvals einzudringen, anhaltende Bedeutung hatte aber nur die Entdeckung der Poesie des Guillaume Apollinaire. Auf der Grundlage von Čapeks verdienstvoller Übersetzung des großen Apollinaire-Gedichts „Zone“ (Zone tschechisch: pásmo) spricht man seitdem in den tschechischen Ländern von der „Pásmo-Methode“, der frei gereihten assoziativen Kette als adäquateste Äußerung einer Zeit, da die Maschinenzivilisation ihren poetischen Reiz noch nicht eingebüßt hatte und die Wälder der Fabrikschornsteine nicht minder faszinierend waren als Tannen- und Eichenwälder. Nezval verband diese Methode mit seiner eigenen, die offensichtlich nicht im Abspulen und Reihen nach einer „Achse“ besteht, sondern im unaufhörlichen gegenseitigen Durchdringen der Vorstellungen, in ihrem nahezu erotischen Ansaugen und Fassen, in ihrer Unberechenbarkeit. Es herrscht das Gesetz der Assoziation, Simultaneität. Polythematik.
Vítězslav Nezval wurde zum bahnbrechenden dichterischen Sprecher des Poetismus, doch nicht selten trat er, gleich dem Haupttheoretiker der Bewegung, Karel Teige, auch mit kunstkritischen Arbeiten hervor. Den allgemein anerkannten „Prolog“ des Poetismus bildete Nezvals umfangreiche Komposition „Der wundersame Zauberer“ (1922), die aus der Atmosphäre des spontanen Unglaubens an die Wirkung eines strikt proletkultischen Gedichtes ebenso wie aus der des Glaubens entstand – des Glaubens an die Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft und der Welt, aber auch an die revolutionäre Macht der Poesie. Tatsächlich wird hier mit fast provokativer Heftigkeit alles zerschlagen, was bisher zur poetischen Norm des 19. Jahrhunderts gehörte, vor allem der traditionelle, mehr oder weniger beschreibende Realismus, die Sentimentalität, die konservative Methode des Gedichtaufbaus, die logische Entwicklung der Motive, die strenge Einhaltung der stabilisierten Gattungen, die Stabilisierung überhaupt. Zur alles beherrschenden Macht wird die Phantasie, ohne daß die Dichtung ins Nebulöse gerät: Diese Gefahr umgeht Nezvals Naturell erfolgreich durch die Konkretheit, die Sensualität, den Gefühlsüberdruck und das liebevolle Modellieren der kleinen Alltäglichkeiten. Dieser letztere Zug äußert sich besonders markant in Nezvals Gedichten in Prosa, die nicht so sehr aus der französischen wie aus der tschechischen, genauer: aus der mährischen Tradition schöpfen.
Den „Wundersamen Zauberer“ nahm Nezval auch in seine Sammlung Pantomime (1924) auf, die ein überaus buntes programmatisches Lesebuch der neuen Richtung ist. Neben den Gedichten des Zyklus „Das ABC“, inspiriert durch die Form der Buchstaben, aber zum lyrischen Aphorismus strebend, enthält es auch Bildgedichte, neben einem gewissermaßen dadaistischen „Vaudeville“ stehen bekennerische Mikroessays zur neuen dichterischen Methode, neben einem Filmszenarium ein sogenanntes radiogenetisches Gedicht, neben einem volksliedhaften Gedicht ein Libretto zur Pantomime usw. Der Gesamteindruck? Dichterische Heiterkeit. Eine Heiterkeit, die überströmend und hemmungslos ist, eine Heiterkeit, die – eine Seltenheit – ansteckend wirkt. In der Zukunft wird Nezval noch oft Vergnügen entfesseln, Leidenschaft, Begeisterung und Liebe, in der Pantomime ist er jedoch der vollste, spontanste Spender von Freude, einer lauteren, reinen Freude, einer Freude, die strömt, sprudelt, gluckert – einer Freude, die knallend explodiert und mit Lachen die früheren Bauten und Anbauten hinwegfegt.
Dies alles entspricht dem ureigenen Sinn des Poetismus, der in seinen Anfängen die engen Grenzen der Kunst überschreiten, der eine „Kunst als Bestandteil des Lebens“ wollte und „für die Rettung und Erneuerung des Gefühlslebens, der Freude und Phantasie“ eintrat. Nezval fühlte sich durch eine gewisse Zweihäusigkeit des Poetismus nicht beunruhigt. Er faßte ihn als Lebensphilosophie auf und ließ die programmatischen Verknüpfungen mit dem rationalen Konstruktivismus der zwanziger Jahre außer acht. Das ist offenbar nicht seine Welt. Sein Bereich öffnet sich auf das Losungswort Gefühl und Sensibilität. Wie vereinbart sich dies mit der revolutionären Weitsicht, zu der sich die Poetisten stets bekannten? Vergessen wir nicht, daß die Poetisten von der breiteren Plattform des Devětsil ausgingen, der den wahrhaft avantgardistischen, lebensspendenden Kern jener Generation um sich scharte (keinesfalls nur Dichter!) und der mit Nachdruck betonte, daß „der revolutionäre Geist eines Werkes immer in der Konzeption, nicht aber in einer angeklebten Tendenz liege“, und daß ein Kunstwerk „nicht gleichbedeutend und auch nicht vergleichbar mit den übrigen Realitäten“ sei. Schon im Verlauf der zwanziger Jahre, aber nicht selten auch später, wurde um die politische Zugehörigkeit der Poetisten (Nezval zum Beispiel war seit 1924 Mitglied der KPTsch) und ihre angeblich allzu unverbindliche poetische Praxis viel Tinte vergossen. Entscheidend dürfte jedoch nicht das Fortissimo der Proklamationen sein, sondern das, was von den Kunstwerken jener Zeit lebendig geblieben ist. Und da stoßen wir sogleich auf die bleibende Frische von Nezvals Lyrismus, auf seine unvergängliche Impulsivität, auf seinen Humanismus (zu dem auch sein Spieltrieb gehört):
und da ich des Lebens einfachen Sinn erfahren
will ich das Recht es ganz zu leben.
Drum gab ich den Stimmzettel ab im Zeichen der Revolution…
Der vielfältige Ausdruck des Menschlichen ist wohl das unbestrittenste Erbe des Poetismus. Nezval, der auf die kleinsten Impulse prompt reagierte, war immer auch auf der Suche,
… die Ewigkeit in einem Geschlecht zu erleben
und keine Sekunde je zu vergeuden von denen
deren Schlaf und Tod erleuchtet war von der Hellsichtigkeit
wie der Schlaf der Nacht
und die zu vereinen gewußt der Ewigkeit Feuer mit dem Feuer jeglichen Augenblicks.
Seine inneren Reservoirs, vor allem der Kindheit und der Jugend, waren unerschöpflich. Im Jahre 1926, da der Poetismus kulminierte, gab er fünf Bücher heraus – und das ist auf seinem Wege keine Ausnahme! Der Eigenkommentar des Dichters:
Die Dinge immer wie am ersten Tag sehen. Ich glaube, ich werde viel schreiben. Mir läßt es keine Ruh. Ich bin immer traurig und fröhlich zugleich. Ich empfinde Ja und Nein als ein Wort.
Im Jahre 1928 schreibt F.X. Šalda (1867–1937), der Kritikerfürst der tschechischen Literatur, der den Poetismus mit einer bewundernswerten Jugendlichkeit des Geistes begriff und akzeptierte, diese Worte:
Der Poetismus ist schon lange nicht mehr das, was er zu der Zeit war, da ihn Karel Teige formulierte: ein entzückendes Spiel des Genusses, ein süßer Lebenseklektizismus. Aber es bleibt sein Verdienst, daß er der Bildhaftigkeit die Schwingen gelöst hat. Vor ihm hinkten die Dichter mit gefesselten Schwingen mehr, als sie gingen, und sie gingen mehr, als sie flogen. Eine Art dumpfer, würgender Druck, der auf der Poesie lag, wurde durch den Poetismus von ihr genommen…
Bildete also den Prolog zum Poetismus Nezvals „Wundersamer Zauberer“, so könnte sein Epilog der „Akrobat“ (1927) sein. Ein gleichfalls umfassend und verzweigt gebautes Gedicht, aber virtuoser und bewußt um eine „Systematisierung des Chaos“ in dem Dichter und in seiner Beziehung zur Welt bemüht. Das Schlagwort des Poetismus von der „Selbsterlösung“ der Poesie, von ihrer fast absoluten Freudigkeit, dem Spielerischen und Vergnüglichen wird hier zu Ende gesungen. Nicht ohne Anhauch von Melancholie freilich. An die Tür klopfen – verkürzt und vereinfacht gesagt – die Sorgen der Zeit, die Weltwirtschaftskrise. Das Gedicht „Edison“ sodann, formal fast klassizistisch, wenn auch nicht weniger polythematisch, ist bereits ein Ausdruck des schmerzhaften Prozesses, der zuletzt in den „Mut und die Freude am Leben und Tod“ mündete.
Annähernd zur gleichen Zeit kommt es auch in der Dichtung zweier von Nezvals poetischen Gefährten zu einer ähnlichen strukturellen Veränderung. Jaroslav Seifert (geb. 1901) schreibt die Sammlung Die Nachtigall singt schlecht und Konstantin Biebl (1898–1951) seinen Neuen Ikarus. Mit ihren mehr oder weniger poetistischen Erstlingen zielen František Halas (1901–1949) und Vilém Závada (geb. 1905) deutlich in ernsthaftere, wenn nicht schwermütigere Bereiche. Mit seiner Kriegsretrospektive Acker- und Kriegsfelder schafft Vladislav Vančura (1891–1942) den „tragischen Dadaismus“, Karel Konrad (1899–1972) scheint in seinen Prosaarbeiten ebenfalls die Funktion des „Strich darunter und zusammenzählen“ auszuüben. Die Maler Štyrský (1899–1942) und Toyen (geb. 1902), die in ihrem Artifiziellismus einen bildkünstlerischen Ableger des Poetismus schufen, gehen von der zirkushaften Naivität und dem kubistischen Exotismus zu einer abstrakteren Welt diffuser vegetativer Formen über. E.F. Burian (1904–1959) ist nach dem nachdadaistischen Gestus seines „Idioten“ für lange Zeit vom Jazz begeistert und strebt dem poetischen Theater zu, Voskovec (geb. 1905) und Werich (geb. 1905) finden wie durch einen genialen Zufall ihren Stil der intellektuell clownhaften Improvisation, die ihre Hinwendung zur politischen Bühnensatire vorzeichnet, bei der man den Anteil des Komponisten Jaroslav Ježek (1906–1942) nicht wegdenken kann. Jan Mukařovský (1891–1975), ein Wissenschaftler, der mit den Dichtern Schritt hielt, analysiert das Werk des Begründers der tschechischen Poesie, Karel Hynek Mácha (1810-1836). Der abklingende Poetismus ergriff damals und auch später Dichter von unterschiedlicher Wesensart, Hora (1891–1945) oder Novomeský (1904 bis 1976) zum Beispiel, er spiegelte sich in den Erstlings- und Jugendwerken von Vladimír Holan (geb, 1905), František Hrubín (1910–1971) und Oldřich Mikulášek (geb. 1910) wider.
Der Bruch, den die schrittweise Abkehr vom Poetismus bedeutet, vollzieht sich parallel zu der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung: 1929 bricht die Weltwirtschaftskrise aus, und in der bürgerlichen Tschechoslowakischen Republik endet die Periode der sogenannten Stabilisierung. In der Nachbarschaft erhebt sich das Drohbild des Hakenkreuzes. Bald wird man das Wort Arbeitslosigkeit skandieren, bald werden sich die Schlachtfelder der Streiks und Demonstrationen beleben.
Suchen wir in den zahlreichen Erklärungen von Nezval den neuralgischen Punkt, der ein Wendepunkt ist, und zwar zu dem anfangs politisch eindeutiger engagierten Surrealismus, so finden wir ihn offenbar fixiert zwischen der ersten und zweiten Nummer der ephemeren Zeitschrift Zvěrokruh (Tierkreis), also datumsmäßig zwischen dem November und dem Dezember 1930. Denn während Nezval im Leitartikel der ersten Nummer beteuert, daß die Zeitschrift „keine surrealistische Revue sei“ und nicht „die Psyche mit der Kunst“ identifiziere, betont er in der zweiten Nummer bereits die historische Parallele zwischen dem Poetismus und dem Surrealismus und bekennt sich eigentlich schon zum Surrealismus, ohne noch auf ihn zu schwören:
… gibt es so viele Analogien zwischen dem Poetismus und dem Surrealismus, so widme ich diesmal fast allen Platz dem Surrealismus, der uns in Zukunft der Verpflichtung enthebt, Fragen zu lösen, die er beantwortet hat, und dank seinen Errungenschaften dürfen wir künftig unseren Kampf auf das Gebiet verlagern, das bis jetzt noch nicht erobert wurde.
Darüber hinaus sind die beiden Nummern der Zeitschrift in der Mehrzahl mit Beiträgen französischer Surrealisten oder tschechischer künftiger Surrealisten gefüllt.
Bis zur offiziellen Gründung der tschechischen surrealistischen Gruppe vergehen jedoch noch drei, vier Jahre. Nezval gab in dieser Zeit einige Dichtwerke heraus, die sich von den tschechischen Konventionen bereits durch ihr äußeres Antlitz unterschieden, noch mehr aber durch den bunteren, vielfältigeren Inhalt und einen größeren Umfang. In den Gedichten der Nacht faßt er seine großen Kompositionen zusammen (seine ewigen Abschiede vom Romantismus!), [Im Jahre 1966 erscheint dieses Buch in einer wahrlich phantastischen Auflage von 220.000 Exemplaren!] in den Fünf Fingern druckt er die „schwarze“ Geschichte der sechs leeren Häuser ab, eine Sonde in die wahrhaft verborgensten Schichten der Psyche, aber auch Quasi-Volkssprüchlein, in dem Gläsernen Havelock stehen reine Aufzeichnungen aus der Kindheit und eine ins Revolutionäre gesteigerte „Antilyrik“ neben rührenden melodischen Negro-Blues, und vereinzelt erscheint auch ein automatischer Text; in der Rückfahrkarte figurieren neben Gedichten, schlicht und einfach wie Volkslieder, auch die grellen politischen „Alarme“, in der Sammlung Adieu und Tüchelchen lesen wir Texte einer maximal freien Metaphorik, aber auch Gedichte mit einer deutlichen Heineschen Note („Im wunderschönen Monat Mai…“). Dieses Buch ist die Frucht einer Reise nach Frankreich und Italien im Jahre 1933, einer Reise, die eine persönliche Annäherung an die Vertreter des französischen Surrealismus und die definitive Entscheidung brachte, sich kompromißlos dieser Bewegung zuzuwenden, die damals mit aller jugendlichen Aggressivität auf dem weltanschaulichen Boden der europäischen Linken stand.
Am 19. März 1934 schreibt Nezval an die Agitprop-Abteilung im ZK der KPTsch:
Genossen, wir halten es für unsere Pflicht, Euch mitzuteilen, daß wir uns entschlossen haben, in der ČSSR eine surrealistische Gruppe zu gründen, die sich die Aufgabe stellt, so allseitig wie möglich auf äußerst revolurionäre Weise und im Geiste des dialektischen Materialismus den menschlichen Ausdruck auszuprobieren und zu entwickeln, und zwar in allen Sphären, wo er sich bekundet, in Wort und Schrift, in Zeichnung und Bild, in plastischen Schöpfungen, auf der Bühne und im Leben selbst…
Der Brief wird begleitet von einer messerscharfen Abhandlung Nezvals, die nichts von den komplizierten Zusammenhängen der dreißiger Jahre verschleiert und alle Zeichen der Invention und Perspektivität trägt. Nezvals surrealistische Aktivität, die nun – von einem Teil der kommunistischen Kritik als positives Experiment angenommen – in vollem Umfang einsetzt und sich durch eine Reise nach Moskau und eine zweite nach Paris vervielfacht, erfaßt auch die Prosa, den Essay, das Drama und die übersetzerische Tätigkeit, und sie wird begleitet von zwei wesentlichen Sammelbänden, von denen der über Mácha (1936) eine ganz außerordentliche Bedeutung hat, denn er stellt einen Versuch über die tschechische Genealogie des Surrealismus dar. Diese Aktivität wird am glaubwürdigsten gekennzeichnet durch drei Sammlungen von ähnlichem spezifischen Gewicht, wie es in den zwanziger Jahren die „Pantomime“ hatte. Es sind dies „Frau in der Mehrzahl“, „Prag mit den Regenfingern“ und „Der absolute Totengräber“.
Worin besteht die Originalität von Nezvals Surrealismus? Die Freunde und Feinde des Dichters (der das außerordentliche Talent hatte, sich ebenso leidenschaftlich Freunde wie Feinde zu machen) stimmten darin überein, daß dieser Surrealismus mehr „nezvalisch“ als orthodox surrealistisch ist. Die Persönlichkeit und Eigenart des Dichters verdrängen dauernd die Richtungsuniformität. Übrigens kann man ruhig sagen, daß die surrealistischen Elemente, wie zum Beispiel der Kult des Zufalls und des Traumes, sich in Nezvals Werk schon lange finden, bevor sich noch Nezval zu dieser Richtung bekannte, und daß sie sich genauso nachher finden, als er sich bereits mit großem Lärm davon losgesagt hatte. Vielleicht kann man darüber streiten, wie jener programmatisch „reine psychische Automatismus“, der „die tatsächliche Funktion des Gedankens“ ausdrücken will, in der Praxis aussieht und aussehen kann. Auch die Gedichte der Klassiker des französischen Surrealismus (Eluard, Breton, Péret, aber auch der junge Char und Desnos und der späte Tzara) sind zumeist keine „reinen“ automatischen Texte. Diese waren wohl nur der poetische Rohstoff, der Ansatz zum Gedicht. Von diesen Fundstellen gingen in die Verse nur die ausgesuchtesten Wundertreffer von logisch nicht zueinander gehörenden Wörter-Bildern ein und verliehen ihnen das geheimnisvolle, suggestive Funkeln, aus dem die autonome Welt des Gedichts entsteht. Bei Nezval ist der Kern einer Versschöpfung meistens ein Erlebnis (ein Gefühls-, Eindrucks-, aber auch intellektuelles Erlebnis, besonders in den Reisegedichten), ein reales Erlebnis, das mit immer neuen Kaskaden von Bildern umrahmt, vertieft und erweitert – das heißt, eigentlich interpretiert wird. Hier drängt sich die ziemlich paradoxe Hypothese auf: Sah man in der poetischen Periode Nezvals Beitrag in der Zerschlagung der alten Monothematik und in der Ausarbeitung einer Polythematik, besonders in den großen dichterischen Kompositionen, so wird jetzt – in der sogenannten surrealistischen Periode – die Polythematik nur ein gewissermaßen sekundäres Mittel zur Schaffung von monothematischen, in der Mehrzahl allerdings kürzeren Gedichten. Dieses Paradox hat den Reiz einer fast absoluten Neuheit und bedeutet keinerlei Zurückweichen, sondern eher eine Art „dialektischen Sprung“. Es verbindet sich mit einem weiteren Paradox: Zu der Zeit, da Nezvals Experimentierfreudigkeit am radikalsten ist, da er von jedweder Konvention meilenweit entfernt ist, sind die „Themen“ der Sammlungen eigentlich „konventionell“: die Frau – eine zwar ewige, aber zugleich auch recht trügerische Inspiration; Prag – gerade seine „Besinger“ rutschten in der Vergangenheit nicht selten in die Bahnen eines sentimentalen Kitsches ab; im Absoluten Totengräber umkreisen die intensivsten Gedichte die „idyllische“ Welt des Dorfes, der Kleinstadt und der Kindheit, der ländlichen Kindheit. (Dort findet sich allerdings auch ein geschliffenes Pamphlet gegen das faschistische Spanien – „Die Pyrenäische Fliege“ –, und in dem Buch fehlen auch Nezvals bildkünstlerische Versuche nicht, die sogenannten „Dekalks“, in denen der Dichter anschaulich seine damalige methodische Besessenheit bestätigt.) Nezval, der als Poetist des öfteren einen „mährischen Exotismus“ schuf, bleibt auch als Surrealist ganz auf seinem Boden: in Prag, in der Kindheit, in der Liebe. So daß möglicherweise die wichtigere Frage nicht die ist, was er aus dem Surrealismus übernommen hat, sondern wodurch er selbst zur Bereicherung dieser Bewegung beigetragen hat. Und hier müssen wir seine eruptive Emotionalität erwähnen, seine Mischung von plastischer Visualität und elastischer Auditivität („Musikalität“), seine Durchsichtigkeit und Schlichtheit, seine Kunst, einen unvertauschbaren Zeitraum zu schaffen (die Realität des heutigen Vormittags und sehr ferner Jahrhunderte“!).
Von den drei durch den Surrealismus geprägten Sammlungen Nezvals ist die andauernd strittigste der Absolute Totengräber. Die strittigste: damit soll kein Urteil gefällt werden. Der Absolute Totengräber ist nämlich methodisch am konsequentesten, er schreitet beim Eindringen in unbekannte Räume des Lyrischen bis zu den noch nicht kartographierten weißen Stellen auf der Landkarte der Poesie – und überschreitet so nicht selten die Grenzen zwischen Poesie und „Antipoesie“, Grenzen, die sicher beweglich und heute offenbar nicht identisch mit denen des Jahres 1937 sind. Damals definierte Nezval seine Poetik mit großer Präzision als das Bemühen „um das völlige Heraustreten aus sich selbst ins Konkrete“. Er erschwerte damit dem Leser die Arbeit maximal, denn ohne das Hilfswort „wie“ stellt er Wörter und Handlungen nebeneinander, deren Summe erst – bei erhöhter visueller Aufmerksamkeit – den realen Ausgangspunkt ergibt: das „Thema“, das zumeist eine sehr einfache Dorf- oder Kleinstadtszene ist, gesehen „mit den Augen eines Kindes“, „als ein Wunder“. Mit dem Entdecken des Schlüssels zu einem derartigen Gedicht schwindet jedwede „kühle Rätselhaftigkeit“, jede „abtötende“ Rebushaftigkeit oder einfach Nicht-Mitteilbarkeit. Lassen wir jedoch die Frage offen, ob das Entdecken eines solchen einfachen Schlüssels die absolute Vorbedingung ist…
Es kommt das Jahr 1938, geladen mit geschichtlichen Ereignissen und Katastrophen. Im März dieses Jahres löst Nezval die tschechische surrealistische Gruppe auf. Die ist eine um so überraschendere Handlung, als ihr Taten von außerordentlicher künstlerischer und analytischer Radikalität vorausgingen: die Herausgabe des Absoluten Totengräbers und der Anthologie Moderne poetische Richtungen des umfangreichen, wichtigen Vorwortes zur zweiten Auflage seines Erstlings Die Brücke, eines Vorwortes, das eine Rekapitulation darstellt, zugleich aber auch eine Autointerpretation des bisherigen Werkes, und das selbstbewußt vielversprechende Möglichkeiten, die „konkrete Irrationalität“ dichterisch zu erforschen, andeutet. Man muß allerdings wissen, daß Nezvals Akt durch und durch politisch war. Nezval stimmte nämlich mit der politischen Haltung einiger Surrealisten – vor allem mit den Ansichten des Karel Teige in dieser entscheidenden Periode nicht überein. Der Wortlaut seiner Äußerung dazu drückt seinen politischen Standpunkt – in der Zeit einer immer deutlicher werdenden Bedrohung der Tschechoslowakei durch Hitler – klar aus:
… In dem Augenblick, als sich in der Surrealistischen Gruppe politische Anschauungen durchzusetzen begannen, die ich in der jetzigen Situation angesichts der Rolle der Sowjetunion und angesichts der Bestrebungen um eine einheitliche antifaschistische Front als unrichtig und gefährlich betrachte, hielt ich es für mein Recht und meine Pflicht, die Auflösung eines Gebildes bekanntzugeben, für das ich durch seine Gründung und meine in ihm ausgeübte Tätigkeit in den Augen der Öffentlichkeit Verantwortung übernommen habe. – Die Frage, ob ich die Prager surrealistische Gruppe zu liquidieren berechtigt war oder nicht, überlasse ich zur Beantwortung denen, die die Aktivität dieser Gruppe und meine Rolle in ihr verfolgt haben.
[Wir haben uns hier ausführlicher mit dem Nezvalschen Surrealismus beschäftigt, weil durch die politische Entwicklung vor und nach 1933 der deutschen Dichtung und also auch dem deutschen Leser diese Aspekte verschleiert, ja unbekannt blieben. Erst nach 1945 kam es, besonders in den ersten zwei Celan-Bänden, zu einer späten Berührung mit dieser Welt, ohne die – geschichtlich gesehen – das poetische Bild dieses Jahrhunderts unvorstellbar bleibt.]
Die Poesie der Sammlung Mutter Hoffnung aus demselben Jahr kommentiert indirekt oder avisiert unterbewußt diese Haltung Nezvals. Auf der einen Seite ist es noch Poesie des „freien“ surrealistischen Typs, auf der andern lesen wir hier meisterhaft gereimte Strophen, geschrieben in melodischen Alexandrinern. In dieser Zeit wurde Nezval auch als der Anonymus „enthüllt“, der im Jahr 1936 die 52 bitteren Balladen des ewigen Studenten Robert David herausgegeben hatte, eine Sammlung mit ungewöhnlicher Virtuosität beherrschte Villonscher Balladen, mit einer „verfluchten“ sozialen Note. Bei der Suche nach dem wahren Autor wurde damals erstaunlich viel Papier beschrieben, obwohl doch einige typische Morawismen und Motive klar auf Nezval hinwiesen. Danach erschienen noch zwei Bücher dieses Anonymus, heute figurieren die Gedichte in Nezvals gesammelten Werken. Das ist ein Beweis, daß es Nezval selbst in seiner gesteigertsten experimentellen Periode, die gesetzmäßig auch die engste sein sollte, nicht fertigbrachte, in einer einzigen apriorischen Methode zu schreiben; er konnte nicht über seinen Schatten springen, er hörte nicht auf, Nezval zu sein.
Zu Beginn der Nazi-Okkupation gelang es Nezval noch, die Fünf Minuten hinter der Stadt erscheinen zu lassen, eine Sammlung, die in ihrer Mischung von Formen und Themen den Sammlungen zu Beginn der dreißiger Jahre nicht unähnlich ist, die aber bereits chiffrierte, gegen die Okkupation gerichtete Passagen, eine starke zentrale Dichtung und die nicht minder intensive „Totenfeier“ für Jiří Mahen (1882–1939) enthält, zu dem sich Nezval immer als „zu seinem Lehrer“ bekannte; in dem Stück in Versen Manon Lescaut (frei nach Prévost) huldigte er in blendender Form der Schönheit der Muttersprache, unter den obwaltenden Zeitumständen spielte auch das eine national aufrüttelnde Rolle, und über ein weiteres Stück und die Arbeit an Filmen ging er dann allmählich – und malend! – zum Schweigen über, denn er stand auf der schwarzen Liste der Nazis und entging auch nicht dem Gefängnis.
Das Jahr 1945 hat für Vítězslav Nezval die gleiche Bedeutung wie für die meisten hervorragenden Vertreter der tschechischen Literatur aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: Endlich können sie wieder frei schreiben und drucken. Der Aufbau eines neuen Staates wird ihnen zur Ehrenpflicht, aber auch zur Leidenschaft. Wie Halas, Olbracht, Novomeský und andere nimmt auch Nezval unmittelbar am kulturellen und politischen Leben seines Landes teil. Er wird in Informationsministerium berufen, wo er für das Gebiet des Films verantwortlich zeichnet. Obwohl ihm die öffentliche Tätigkeit und zahlreiche Reisen viel Zeit rauben und ihn viel Energie kosten, schreibt er und gibt weiter heraus – mit dem Willen, durch seinen Vers dem Sozialismus zu helfen und dabei Nezval, der Vertreter der materialistischen Richtung in der tschechischen Poesie, zu sein. So entwickelten sich damals – an das Erbe der proletarischen Poesie anknüpfend – zum Beispiel Stanislav Kostka Neumann (1875-1947), Konstantin Biebl (1898 bis 1951) und andere Dichter jüngerer Generationen. Nezvals Große Turmuhr, eine Sammlung von wiederum mehr als zweihundert Seiten, legt davon Zeugnis ab, besonders der Zyklus „Historisches Bild“ (wegen der Fülle spezifisch tschechischer Motive und Anspielungen wohl unübersetzbar) ist weit mehr als eine rein geschichtliche Rekapitulation mit Reminiszenzen und Porträts. Der spontane Fluß von Nezvals Dichtersprache wird in den fünfziger Jahren nicht selten durch zeitbedingte Vereinfachungen gestört. Wenn Nezval an einer Stelle erklärt, er sei am glücklichsten, wenn er schlicht und einfach spreche, dann bezieht sich das gewiß nicht auf jene Verse, wo er dürr und trocken spricht. Zum Glück war Nezvals Lyrismus so dynamisch, so vital, daß ihn für die Dauer nichts zerstören konnte. Sein dichterischer Drang war stärker und brachte nach wie vor Wunder an Gefühl, Melodie und Phantasie hervor.
In diesen Jahren begrüßte Vítězslav Nezval im Namen der tschechoslowakischen Schriftsteller den Kongreß der Schriftsteller der DDR und äußerte bei dieser Gelegenheit nach seiner Art einige allgemeinere Gedanken über die Funktion der Dichtung, sein Credo. Er sagte unter anderem:
Das ureigene Blut der Poesie ist die Kraft des Lyrismus, die das Herz der dichterischen Kunst ergreift und ihren Puls regelt. Ich bin überzeugt, daß wir in der Dichtung an der Schwelle ihrer neuen epochalen Größte: Wellen, die den epochalen Möglichkeiten entspricht, welche aus den sichtbaren und unterirdischen Quellen der schöpferischen Kraft und Anmut des Volkes hervorbrechen… Der Dichter, der Schriftsteller ist auf dieser Welt, um die Wahrheit neu zu sagen – um den Enthusiasmus und das Gewissen mehr als je aufzurütteln. In der Frage WAS sind wir einig. In der Frage WIE werde ich nicht über die Form, sondern über die Begeisterung, über den hinreißenden Enthusiasmus sprechen. Über den inspirierten Enthusiasmus, der inspiriert…
Als Nezval am 6. April 1958 in Prag stirbt, geht im wahrsten Sinne des Wortes ein nationaler Dichter von uns, ein Dichter des neuen sozialistischen Humanismus. Sein Lebensoptimismus bildet dafür zweifellos optimale Voraussetzungen. Einige große Gedichte sprechen dafür: „Die batavische Träne“ (hervorgegangen aus dem Wissen um die atomare Bedrohung), „Ich singe den Frieden“ (in viele Sprachen übersetzt), „Aus der Heimat“, „Nächtlicher Gast“, „Kornblumen und Städte“… Der Vers neigt jetzt stellenweise zum Hexameter, der auch im Wundersamen Zauberer schon aufgetaucht war, und manchem Betrachter bieten sich Vergleiche mit antiker Dichtung an. Das Ideal der allumfassenden Harmonie in der Antike war Nezval gewiß nicht fremd; ihm ging es jedoch nicht um Wiedergeburt, um Neugeburt eines bereits Dagewesenen, sondern um die Entstehung eines ganz Neuen. Das ist das Ziel, so lange utopisch, das sich nun über seinem Vers wölbt, das ist der Sinn seiner Poesie:
Ich gebe den Dingen neue Namen,
um ihre menschliche Gleichung zu definieren…
Die menschliche!
Der berühmte Satz der Avantgarde vom Anbruch „einer Zeit, da alle Menschen Poesie machen werden“, rutschte leider unter inhaltsarmen Floskeln ab. Aber gerade in Nezvals Poesie ruht die inspirative Kraft zu seiner – wenn auch relativen – Verwirklichung. Denn dies ist eine Poesie, die zu Berauschung und Erfreuung, zu Spiel und zum selbständigen Fabulieren provoziert. Der Leser wird weder mit ewigen Buchweisheiten überschüttet noch durch spirituelle Nebelhaftigkeit schockiert, er wird nicht in bewundernde Passivität gedrängt, ihm tut sich ein Raum maximaler Freiheit auf, in dem er sich im glücklichen Einklang mit allen Elementen bewegen kann: das Gesicht vor dem Hintergrund des Azurs der Sonne zugewandt, mit beiden Beinen auf der Erde, vom Wasser umflossen. Er kann dem Dichter dann zustimmen:
Ich würde sagen, daß ich in den erfülltesten Stunden meines Lebens nichts tue, was weniger nützlich ist, als die Suche nach dem Schlüssel zur Schönheit, für die es zu leben lohnte und lohnt.
Der Dichter, der als Poetist einen bedeutenden Beitrag zur Lockerung alles Erstarrten, alles Versteinerten (der Form, der Vorstellungskraft, der Sprache, der Phantasie, der kleinbürgerlichen Moral…) und zur Konkretisierung, Materialisierung der „Welt, die lacht“, „der Welt, die duftet“ geleistet hat, der Dichter, der es als Surrealist verstand, die Legende mit der alltäglichsten Wirklichkeit zu verbinden und aus dieser Wirklichkeit keine verkrampfte, sondern – im weitesten und engsten Sinn des Wortes eine erotische Schönheit zu schürfen, der aus den unterbewußten Strömen der Kindheit die künftigen Paradiese an die Oberfläche hob, der sich zum absoluten Experiment aufschwang, der Dichter, der – von Jugend an mit der politischen Avantgarde verbunden – der sozialistischen Kunst der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zahllose Impulse gab, der Dichter, der aus vollen Händen von seinem unerschöpflichen poetischen Reichtum austeilte, wurde bereits zu Lebzeiten ein Klassiker.
Was nicht bedeutet, daß er in der Pose eines Denkmals versteinerte, sondern daß er die verwunschene Schwelle der Literatur überschritt und in das Leben des Volkes und der Völker trat, so die Worte verwirklichend, die er vor Jahren auf dem Boden Berlins ausgesprochen hatte:
Mögen Literatur und Poesie uns in dem bestärken, was in dem großen Wort Freundschaft verborgen liegt.
Ludvík Kundera, Vorwort, 1972
In Guillaume Apollinaires für die Dichtung des 20. Jahrhunderts so sehr exemplarischem wie stilbildendem Gedicht „Zone“ kehren des Dichters Erinnerungen an eine ihn tief beeindruckende Reise nach Böhmen wieder. In diesen assoziativen Reihungen und Verknüpfungen von Impressionen und Metaphern wird gesprochen, auch von einem Gartenlokal bei Prag, in dem er einen goldenen Käfer im Herzen der Rose schlafen sieht, vom Sankt-Veits-Dom, wo er sein Spiegelbild erblickt, vom jüdischen Viertel, wo die Zeiger der Uhr rückwärtslaufen, vom Hradschin und von den in den Schenken gesungenen tschechischen Liedern.
Des französischen Poeten Huldigung an Prag hat die tschechische Poesie in überreicher Dankbarkeit beantwortet. Werke von ihm wurden schon sehr früh übersetzt, und die jungen Dichter, die sich in den zwanziger Jahren zur Richtung des „Poetismus“ zusammenfanden, bekannten sich nachdrücklich zu ihrer Inspiration durch Apollinaires Poetik. Der bedeutendste unter ihnen Vítězslav Nezval, über dessen umfangreiches lyrisches Werk uns jetzt ein Band von Reclams Universal-Bibliothek einen Überblick ermöglicht: Auf Trapezen, mit (bis auf zwei Ausnahmen) Gedichtübertragungen von Franz Fühmann, mit einem informativen und interpretierenden Vorwort von Ludvík Kundera und mit Abbildungen von Illustrationen und Buchausstattungen
Das Werk des 1900 geborenen und 1958 verstorbenen Nezval steht nicht anders als das eines Majakowski, eines Eluard und eines Aragon, eines Pablo Neruda unterm Doppelgestirn von Revolution und Poesie. Die revolutionäre Hoffnung einer universalen Menschheitserneuerung verschmilzt für den seit 1924 der Kommunistischen Partei angehörenden Dichter mit dem experimentellen Avantgardismus einer totalen Erneuerung der Poesie bis zu einer beinah vollkommenen Identität seiner enormen Produktivität wird die Poesie selbst zum universalen Prinzip, durch das alles und jedes zu einem poetischen Gegenstand verwandelt zu werden vermag.
Die übernommene flexible poetische Technik Apollinaires, aus der anfangs bewußten Nachahmung durch eine souveräne Handhabung zu einem ganz eigenen Stil befreit, kann jegliches in sich aufnehmen: Wirklichkeitspartikel und Phantasmagorien, Reimformen und freien Vers, traditionelle lyrische Inhalte und solche, die Novitäten sind. Sie vereint sich mit dem schlichten volksliedhaften Ton der Heimatverbundenheit ebenso wie mit der unumschränkten Imaginationsfreiheit des Surrealismus, zu dem sich Nezval in den dreißiger Jahren programmatisch bekennt.
Bohèmeprotest und Sprachspielereien
Nezval bewegt sich im Element der Poesie mit der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit eines Fischs im Wasser. Es gibt bei ihm antibürgerlichen Bohèmeprotest, mühelose Sprachspielereien voller Witz, Faszination durch Großstadt- und Technikmodernität, eine glühende Erotik gewagter Vorstellungen und Anflüge von Unheimlichkeit, in denen die alltäglichsten Dinge eine dämonische Dimension gewinnen. Doch es gibt ebenso ganz schlicht innige Gefühle, wenn der Dichter Natur, dörfliche Landschaft und den Zauber des alten Prag beschwört. Und ebenso kann er, ohne sein ja in sich so variables Sprachmaterial verändern zu müssen, sein leidenschaftliches Bekenntnis zur Revolution artikulieren oder in mächtigen Visionen vor dem kommenden Krieg warnen.
Nezval war die Poesie alles, und alles wurde ihm Poesie. „Poesie Roulette“, heißt es bei ihm, und weiter: „Keiner kann weggehen, bevor er die Bank gesprengt hat / gewinnen oder vollständig scheitern.“ Nezval hat dieses sein Spiel gewonnen, eine große, eine bedeutende Gestalt der Weltliteratur unseres Jahrhunderts.
H. U., Neue Zeit, 3.7.1978
Vítězslav Nezval, mit unserm phantasmagorischen Jahrhundert geboren, hat sein Leben auf diese Formel gebracht: „Bis zum Jahr 1916 habe ich keine Gedichte gelesen, ab 1916 schrieb ich sie.“ – Schreiben ist nicht ganz der rechte Ausdruck; er brachte sie hervor wie ein Baum sein Laub, oder besser: wie ein Vulkan seine Lava. In jenen zweiundvierzig Jahren, die dem damals Sechzehnjährigen bis zum Tod noch blieben, schrieb Nezval hundertundein Buch, nicht alles Gedichte, doch alles Dichtung, in unerschöpflicher Metamorphose die Summe der Genres zur Bewältigung der Summe des Lebens durchprobend: Lied, Epos, Pamphlet, Essay, Clownsnummer, Drama, Roman, Novelle, Film- und Opernlibretto, Pantomime, Hörspiel, Pasquill, écrire automatique, und immer wieder das Gedicht. Ein mährischer Ätna der Poesie, auch körperlich ein wandelnder Berg, hundertzweiundsiebzig Zentimeter groß, hundertzweiunddreißig Kilogramm schwer, psychosomatisches Metaphernsubstrat aus Fässern von Wein und Fluten von Frauen. Wie erträgt Öffentlichkeit solch ein Unmaß? Man ist versucht, ein Wort Brechts aus dem Baal über die Laster abzuwandeln: „Sucht euch zwei aus: einer ist zu viel“, und so hat sich für dieses Jahrhundert die tschechische Literatur einen zweiten ausgesucht, Nezvals mährischen Landsmann František Halas, ein anderer Berg, ein Granitmassiv, und diese beiden überragenden Gipfel bestimmen die Landschaft der tschechischen Moderne, die insgesamt ein Hochgebirge darstellt: Gellner, Deml, Sova, Hora, Weiner, Walker, Seifert, Holan, all dies Dichter europäischen Ranges, einem deutschen Publikum kaum mit Namen bekannt.
Nezvals wesentliche Hervorbringung ist der Poetismus, eine spezifisch tschechische Art der Dichtung, offenbar ohne Analogie in andern Literaturen, die entschlossene Hinwendung von Zwanzigjährigen zur Wesensbestimmung von Poesie, daß sie vor allem und zuerst Poesie sei, das „sei“ als Imperativ gedacht. Wir kennen die Schöpfungsstunde ganz konkret durch eine berühmtgewordene Erinnerung Nezvals: „Im Frühjahr 1923, dieses unvergessenen Jahres, in dessen Gedenken ich sterben werde –, an einem Abend, dessen sämtliche Worte sich meinem Gedächtnis eingeprägt haben, spazierte ich mit Teige“ (einem gleichaltrigen Freund und Ideengenossen) „durch Prag und fühlte eine Atmosphäre von Glück, dessen Zeuge Frühlingsdüfte waren, Sterne, Rosenkränze der Lichter in den Gassen, kotzende Betrunkene, bettelnde Greisinnen und die Schminke alter Huren, die sich an eine Ecke lehnten –, und wir fanden den Ausweg aus der Disharmonie der Lebensanschauungen, die mumifiziert waren und vergiftet und trübselig – und wir entdeckten den Poetismus.“
Das könnte als Flucht angesehn werden, eine eigenwillige Aktualisierung des jahrtausendealten Schillerwortes, daß das Schöne nur im Gesange blühe, allein es war eine Abkehr von der Lebensanschauung zum Leben selbst, von der dürren Heide poetischer Doktrin zu den Orten dieses Betonjahrhunderts, auf denen das Leben noch Dichtung hervorbringt: der Kintopp mit den neuen Mythen und Helden; Bahnhof und Flugplatz, wo Kontinente sich kreuzen; Boxring, Fußballplatz und Autorennbahn; die Vorstadt mit ihren Alltagsträumen, mit Rummelplätzen und Jahrmärkten, wo auf den Gehsteigen Buntdrucke grellster Farben ausliegen: Tigerjagden im Dschungel des Zöllners Rousseau und Schutzengel über bröckligen Stegen und Krokodile mit Vögelchen im offenen Rachen und Haremsdamen in grünen Hosen, und der Himmelsflug der Kettenschaukeln und die Höllenfahrten der Geisterbahnen, und Drehorgeln, Jazz und Orchestrionsrasseln, die Heiterkeit unverwüstlicher Leiber und Charlie Chaplins traurige Augen, und all das links, und doch unbekümmert, und all das von einem Volk mitgetragen, das in einem zähen Selbstbewußtsein auch Dichtung als Daseinsform begreift.
Der Poetismus war das Glück eines unverhofften Findens; er war, laut Nezval, „eine Methode, die Welt so zu erfahren, daß die Welt zum Gedicht wird“, und solche Augenblicke währen nicht lang, wenn sie auch, um mit Kierkegaard zu sprechen, Augenblicke der Ewigkeit sind. Zwei, drei Jahre überwältigender Fülle, dann beherrschen die Epigonen das Feld, und der Poetismus geht, auf verschlungenen Wegen, in die Weltdichtung des Surrealismus über, aber das ist schon ein andres Blatt, und nicht die Dichter allein haben es beschrieben. Das Gedicht, mit dem Nezval den Poetismus stiftet, heißt – in einer hinreißenden Hoffnung – „Der wundersame Zauberer“, und sein Surrealismus gipfelt in einem Band mit dem Titel Der absolute Totengräber. Der ist, laut Nezval, ein „Mann von weitschauenden Gedanken“, dessen tägliches Mahl aus Fäulnis besteht, der mit „einem Fingerschnalzen das Hirn von Schwalben zerschmettert“ und der, so immer noch Nezval, „eine große Zukunft“ nicht hat, sondern „ist“.
Der Totengräber erscheint 1938, fünfzehn Jahre nach dem „Zauberer“, und diese fünfzehn Jahre sind Nezvals bedeutendste Periode. Die Gedichte, die Sie in dieser Sendung hören, stammen ausnahmslos aus dieser Zeit, und für die Leser dieser Zeilen stehe das folgende eine für alle:
POETIK
Zuerst den Geizhälsen Verhöhnung!
Ein Bild das alles rings in Brände setzt!
Des Pöbels Gaukelein bei einer Krönung
und Liebe ganz zuletzt
Wir sind aus Gossen ein Gelichter
vereint Athleten Huren Dichter
und ab nach Siam hälts zu Haus
man hinterm Ofen nicht mehr aus
oder umsonst mit Aerobussen Charleston
und Ragtime auf der Barrikade tanzen
von Bürgerschädeln Schmer für Schrauben treten
bis Elefanten uns zum Marsch trompeten!
In der Proletenbar die Bräute sammeln
ihnen zum Jazz der Schüsse Verse stammeln
mit Tod bedrohn die Abtreibungen hatten
und kotzen auf die Literaten
Mit Eleganz von Scharlatanen handeln!
Die Stanzen in ein Varieté verwandeln
und recht nachlässig herzlich sein
Das Übrige kommt dann schon von allein
Franz Fühmann, aus Franz Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981, Hinstorff Verlag, 1993
MAGNETGEBIRGE!
(Vítězlav Nezval)
Oh himmelragendes Ei!
Die Windmühlen der Imagination
rumpeln auf vollen Touren
zwei links zwei rechts schütten sich
schöne Phantome aus
ein Atemzug ein Vers
eintönig süße Sprüche
Reim kopuliert mit Reim
Adé
in Žabovřesky standen Sie am Eck der Havlíčková
(Frühjahr 49)
unweit des Gartens, in dessen Laube Sie Adieu und Tüchelchen geschrieben
standen dort mit František Foltýn
Schroff widerrief ich alle die Sarkasmen
hervorgerufen durch die Schläge von der Großen Turmuhr
und wir rissen uns die letzten Kleider runter
und sprangen alle drei in den Fluß Enthusiasmus
der unweit von hier
in die Svratka mündet
Adé
und zuletzt saßen Sie am Klavier
den Kopf zurückgeworfen
Magnetgebirge!
Ludvík Kundera
NACHRUF AUF VIETEZSLAV NEZVAL
Aprilgras, Prag frisch ergrünt,
nur die Straßen mit ihren Bäumen noch schwarz.
aaaaaDunstiger Himmel.
Ob die Burg
aaaaaSegel gehißt hat
aaaaaaaaaaund in die Ferne entschwand,
aaaaaaaaaaaaaaanicht zu erkennen.
Die Moldaumöwen
wollten heute mein Brot nicht fressen.
Der Anruf.
Die Nachricht.
Wie schnell das geht:
Slavocek, es gab ihn,
es gibt ihn nicht.
*
Nezval bleibt.
Nâzım Hikmet
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