Volker Bohn: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Tannen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Tannen“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Tannen

In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
Vor einem halben Jahrhundert
Vor zwei Weltkriegen
Mit jungen Augen.

 

Mahnbild vom Schermützelsee

Ein auf den ersten Blick eher unscheinbares lyrisches Gebilde, von geringem Umfang, ohne auffällige Formstruktur und auch inhaltlich, so sieht es aus, kaum rätselhaft. Aber es verträgt einen zweiten und dritten Blick.
Ein „Ich“ erinnert sich an Vergangenes, an die eigene Kindheit oder Jugend, an die ein halbes Jahrhundert zurückliegende Zeit:

So sah ich sie.

Versonnener Rückblick eines älteren oder alten Menschen? Eine einzelne sinnliche Wahrnehmung wird herausgerufen aus der Tiefe der Zeit: der Anblick von Tannen in der Morgensonne. Das hat jedenfalls etwas Nostalgisches, das Wort „kupfern“ verstärkt diesen Eindruck. Irritierend ist allerdings, daß, wie es heißt, die Tannen kupfern sind, also heute wie eh und je. In diesem Wechsel der Zeitperspektive kommt wohl die Erfahrung zum Ausdruck, die das Thema dieses Gedichts ist: So, wie ich die Tannen mit jungen Augen sah, kann ich sie heute nicht mehr sehen, obwohl sie doch immer noch genauso aussehen wie damals. Eine Folge des Alterns? Das ließe sich sagen, wäre nur von einem halben Jahrhundert die Rede, nicht zugleich von zwei Weltkriegen. Dürfen wir also sagen: eine Folge der Schreckenserlebnisse dieses Jahrhunderts? Ist es unmöglich geworden, sich am Anblick unschuldiger Tannen im Morgenlicht zu erfreuen?
Das Gedicht gehört zu den „Buckower Elegien“. Brecht schrieb sie im Sommer 1953 auf seinem „Land- und Arbeitssitz“ am Schermützelsee in der Märkischen Schweiz – ein Landhaus, dazu ein Gärtnerhäuschen zum Arbeiten, alles unter hohen alten Bäumen. Daß sich unter diesen Gedichten einige der schönsten Verse Brechts befänden, war bald allgemeines Urteil. Vor allem im Westen wurden sie gerne als Zeugnisse für die Wiedererlangung der wahren lyrischen Potenz des Autors zur Kenntnis genommen. Anders gesagt: Man glaubte sie dem politischen Lyriker als seine nunmehr selbstgeschaffenen Mahnbilder entgegenhalten zu können. Im Osten tat man sich entsprechend schwerer: Nur eine Handvoll von ihnen wurde, kurze Zeit nach ihrem Erscheinen, in Brechts Versuche-Heften und in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht. Die erste vollständige Einzelausgabe erschien zehn Jahre später im Westen, und zwar in der edlen Insel-Bücherei. Nunmehr betonte die Kritik das zeitlos Elegische an diesen Elegien ganz besonders.
Ein paar Jahre später las man dann in Brechts Arbeitsjournal unter dem 20. August 1953:

buckow, TURANDOT. daneben die BUCKOWER ELEGIEN. der 17. juni hat die ganze Existenz verfremdet.

Erhellend an diesem Eintrag ist jedenfalls die in Brechts Schriften einzigartige Nachbarschaft der Wörter „Existenz“ und „verfremdet“ – dieses sein Programmwort, jenes die Modevokabel seiner ideologischen Kontrahenten.
„Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre“, heißt es in dem Gedicht „Der Radwechsel“, das ebenfalls zu den „Buckower Elegien“ gehört. Zweifel an Geschichtlichkeit und Zukünftigkeit, das bedeutet für einen Sozialisten in der Tat das Ende. Viele der „Buckower Elegien“ lassen sich auf den 17. Juni 1953 beziehen. Auch das Gedicht „Tannen“? Vielleicht so: Die Morgenröte, den Sonnenaufgang – das Emblem der Welterneuerung, „Wacht auf!“ – mochte man vor zwei Weltkriegen noch mit jungen Augen begeistert schauen. Nun aber ist, nach einem halben Jahrhundert Sonnenfinsternis, nicht mehr bloß dieses oder jenes verfremdet, ins kritische Licht gerückt, nicht die Neben- und nicht einmal die Hauptwidersprüche sind betroffen, sondern die „ganze Existenz“. Aber:

In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.

So sah sie Brecht im Sommer 1953. Und wir, heute?

Man durfte dem Sozialismus das Ende prophezeien, man durfte dem Kapitalismus das Ende prophezeien. Man darf vielleicht der ganzen Menschheit das Ende prophezeien. Aber einem jungen Menschen die Zukunft absprechen, das darf man nicht. In der Frühe sind die Tannen kupfern.

Volker Bohnaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band, Insel Verlag, 1995

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