DAS EIGENTLICHE
Während wir selbstsicheren Affen
Uns auf den Bildschirmen feilhalten
Wissen wir kaum, was wir eigentlich wollen:
In unsern Redensarten, Freunde
Kann der Sinn nicht ganz liegen.
Während wir magere Daten speisen
Während wir Pläne basteln aus dünnem Papier
Während wir uns an die Linie halten
Wissen wir kaum, was wir eigentlich machen:
Was wir herbeizitieren
Wird uns nicht mehr gleichen.
Wir wissen es kaum, aber eigentlich
Geht es uns nur um das
Was wir umbringen mit vielem Getue
Was wir zuschütten mit grämlichem Eifer
Was wir vergessen in aller Eile
Was wir scheuen wie eine Freude.
I
Die vorliegende Auswahl löst die zyklische Gruppierung der Gedichte Volker Brauns, in der sie in den Erstpublikationen vorgestellt wurden – in den Bänden Provokation für mich (1965), Wir und nicht sie (1970), Gegen die symmetrische Welt (1974) und Training des aufrechten Gangs (1979) –, in eine chronologische Folge auf. Das stellt die Texte in manche neue Beziehung zueinander und zur Entwicklung des Dichters. Es wäre aber ein vorschneller Schluß, die poetische Chronologie für den rekonstruierten Lebensgang des Dichters zu nehmen; die Fäden zwischen Erlebnis und Gedicht, zwischen Leben und Werk laufen nicht linear, sie verflechten und verzweigen sich, und in diesem Netz sind die Verbindungslinien zwischen den Anlässen und den poetischen Resultaten, zwischen biographischem Gehalt und poetischer Gestalt nicht leicht zu entdecken.
Das vom Krieg furchtbar gezeichnete Dresden zum Beispiel, wo er 1939 geboren wurde und aufwuchs, wirkt in den Gedichten vermittelt als Raum früher Erfahrungen. Der Tod des Vaters, noch kurz vor Kriegsende, stellte die Mutter vor schwere Existenzprobleme der Familie. Alle Kraft und Hoffnung mußte sie mobilisieren, um in der Not dieser Jahre die fünf Söhne zu erhalten und in ein gutes Leben zu führen. Braun pflegt diese Kindheitswelt und die Bindung daran nicht im stofflichen Element seiner frühen Dichtung ausdrücklich zu bekennen.
Ein krasser Wechsel seiner Umwelt und damit auch seines Verhältnisses zur Wirklichkeit geschah nach dem Abschluß der Oberschule 1957. Er arbeitete ein Jahr in einer Dresdener Druckerei, bewarb sich vergeblich zum Studium und ging ins Kombinat Schwarze Pumpe, die größte Baustelle der Republik. Tiefbauarbeiter, Betonrohrleger, Ausbildung als Maschinist für Tagebaugroßgeräte – aber er war nicht hier, um einen Beruf zu suchen. Die Gräben und Gruben dieser umgestülpten Landschaft, die Härte der Arbeitsprozesse, die riesenhafte Technik, die rauhe, aber echte, weil von den Interessen der Produktion unmittelbar organisierte Gemeinschaft der Brigaden – das war die weit in das Leben und die dichterische Leistung wirkende Begegnung mit dem entscheidenden materiellen Bereich der Gesellschaft. Von den Erfordernissen, Bedingungen, von der Beschaffenheit dieser Praxis her die Ansprüche und Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung erkennen und messen zu lernen – das war der Gewinn dieser Jahre. Volker Braun formulierte einmal im Gespräch:
Der Sozialismus brachte mit dem Volkseigentum nicht die gänzliche Lösung der sozialen Frage, sondern er ist ihre langwierige Lösung; sie wird um so schneller gelöst, je offener, unverblümter wir sie stellen…
In die von 1959 an datierten und vom Autor akzeptierten Gedichte kam diese Landschaft selten so unmittelbar wie in die Legende von den Erbauern der Stadt Hoywoy (wir lassen allerdings eines der ersten Stücke Volker Brauns, Kipper Paul Bauch, unbetrachtet). Für Sprache und Bildwelt aber lieferten diese Jahre der Plankämpfe, der Dispute auf den Baggern, in den Baracken das Material, ohne sie hätten die sprachliche Kraft, die Anschaulichkeit und Treffsicherheit nicht reifen können.
Das Suchen Volker Brauns nach einer produktiven weltanschaulichen Haltung wurde 1960 nach seiner Immatrikulation an der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität, in den Hörsälen und Büchereien in eine neue Richtung gelenkt. Hegel und Feuerbach, Marx und Engels, Lenin, Politische Ökonomie, Historischer und Dialektischer Materialismus öffneten neue Blickwinkel auf die miterlebten Vorgänge, gaben ihnen die historische Dimension; bisher nicht zu Vereinbarendes zeigte sich jetzt als in der Gegensätzlichkeit wirkende Einheit, Unabänderliches als Entwicklungsmoment größerer Prozesse. Der Gewinn war nicht ein neuer, „philosophischer“ Stoff, sondern die Übung in einer philosophischen Methode, der dialektischen, materialistischen: sie hinterließ ihre Spuren in der Kompositionsmethode, der Struktur, in der bewußten und kontrollierten Haltung des lyrischen Ichs („Ich kam ab von der einseitigen, provokativen Herausschleuderung…“). Und Braun schritt von der Erkenntnis der sozialen Frage zur Erkenntnis der politischen fort, verstand tiefer, daß soziale Veränderungen und politische einander bedingen und nur bewußt von den arbeitenden Massen vollzogen werden können, in sozialistischer Demokratie.
Der besondere Studienaufbau in jenen entscheidenden Jahren unserer Republik setzte die Studenten einigermaßen der gesellschaftlichen Praxis aus. Die Arbeit in den Jugendobjekten, auf den Erntefeldern, die Debatten mit Bauern, Hausgemeinschaften und Stadträten wurden zum Spielraum der Gedichte Volker Brauns: In den für die Lyrikproduktion und -diskussion so turbulenten ersten sechziger Jahren las er mit anderen Autoren seiner Generation auf den populären Lyrikmeetings überall in der Republik, das Publikum provozierend zu gemeinsamer Anstrengung und Verantwortung. 1965, nach der Diplomprüfung, legte der Dichter mit dem Band Provokation für mich eine erste Summe lyrischer Resultate all dieser Entwicklungsjahre vor.
Mit der wiederholt aufgenommenen Tätigkeit als Dramaturg und Regieassistent am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater wurde Berlin für ihn und seine Familie Wohn- und Arbeitsort. Die Entscheidung, nicht mehr fest eingegliedert in einem bestimmten Berufsbereich zu arbeiten, veränderte wiederum die Aufnahme der Lebensprobleme, seine Teilnahme an der Entwicklung unserer Wirklichkeit. Jetzt mußte sich zeigen, ob dem Dichter für eine fortdauernde parteiliche und den Brennpunkten des gesellschaftlichen Kampfes verpflichtete künstlerische Arbeit ein genügender Fundus an Ideen und Praxiserfahrung zugewachsen war, die Bewährung als Dichter begann erst.
In diesen Jahren konzentrierte sich Braun auf das dramatische Schaffen. Das schon 1962/63 entstandene Stück Kipper Paul Bauch wurde unter dem Titel Die Kipper neugefaßt; 1965 schrieb er das Fragment Die Freunde, 1967/68 Hinze und Kunze (ursprünglicher Titel Hans Faust). Seit 1970 entstanden die Schauspiele Lenins Tod, Tinka, Guevara oder Der Sonnenstaat und Großer Frieden.
Auf Lesungen, Diskussionsabenden über die Gedichte, die Stücke und Aufführungen, über die 1972 unter dem Titel Das ungezwungene Leben Kasts publizierten drei Prosaberichte erweiterte sich der Kontaktkreis des Dichters zum Publikum aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten ständig. Volker Braun unterstützte in diesen Jahren – er las auch in Frankfurt am Main, in München, Hamburg und anderen Städten – mit seinen poetischen Analysen die progressiven oppositionellen Kräfte in der Bundesrepublik. Er reiste nach Sibirien, Frankreich, Polen, Österreich, in den letzten Jahren nach Italien, Kuba und Peru. 1968 erschien der Protestband KriegsErklärung – Fotogramme für das kämpfende vietnamesische Volk: die Welt in der Epochenauseinandersetzung wurde zum Erlebnisraum seiner Poesie.
Die poetische Leistung dieser zwei Jahrzehnte zeigt noch deutlicher, daß Volker Braun nicht nur seine Lebenschronik „mitschreibt“. Zum Vers fügt er – die Dichtung verrät seine strenge Wahl – nur jene Erlebnisse, Kämpfe, Erkenntnisse, die im Individuell-Erheblichen das Gesellschaftlich-Bedeutsame bergen, das in der Gestaltung hervorgebracht werden kann.
II
„Kommt uns nicht mit Fertigem“ hieß eines jener Gedichte, mit denen Volker Braun Anfang der sechziger Jahre vor ein überraschtes, provoziertes, teilnehmend-widersprechendes Publikum trat; mit dem Gedicht „Bleibendes“ meldete er sich am Ende dieses Jahrzehnts zu Wort; im Gedicht „Der Bauplatz“ antwortet er selbst auf die Ausgangsthese des früheren Gedichts und setzt die neue Position:
Kommt uns mit Fertigem, sag ich
Der schon anders sprach.
Solche Bezüge von frühem Ruf und späterem Echo machen auf Fortschritte und Wandlungen, Weiterführungen und Korrekturen, auf Kontinuität und Diskontinuität in der dichterischen Arbeit Brauns aufmerksam. „Kommt uns nicht mit Fertigem“ und „Bleibendes“ – in beiden Gedichten wirkt eine lyrische Subjektivität, die die gesellschaftliche Problematik als ihre eigene begreift und auf deren Lösung zielt. In der großen Entwicklungsspanne aber, die von beiden Gedichten polarisiert wird, erfolgte die immer bewußtere Wahl der charakteristischen Gelegenheiten und der ihnen gemäßen Ausdrucksweise.
Man kann dem Leser nicht beweisen, was die Dinge bedeuten, wenn man die Dinge nicht selber gibt, wenn man nicht ausgeht vom gegenständlichen Material und dann hinführt zu bestimmten Konsequenzen, die das Material selbst ermöglicht.
Das wie selbstverständlich realisierte Verhältnis, aus dem heraus dieser Dichter seit seinen ersten poetischen Versuchen Zwiesprache hält mit den Geschehnissen seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt, erweist sich – dieser Selbstverständlichkeit entkleidet – als neue, möglich gewordene Qualität unserer sozialistischen Literatur. Assoziiert man nicht bei dem Schlußvers des Gedichts „Jugendobjekt“: „Eh sie noch gelb und bunt wie blanke Butter hochschwingt, die Gute!“ das Sonnenbild jenes Gedichts J.R. Bechers, das er in der Emigration schrieb und das den nur zu erahnenden Besitz der heimatlichen Landschaft im Zukunftsbild der befreiten Gesellschaft vorwegnehmen konnte: „Und wenn du sagst ,Die Sonne!‘ ist’s ein Zeichen, / daß du dann wirklich sprichst zu deinesgleichen.“? Das Grunderlebnis der neuen Generation, nur noch indirekt von Faschismus und Krieg belastet, spricht sich in seinen Versen aus: heiteres, fast selbstverständliches Inbesitznehmen der den Menschen gemäßer werdenden Landschaft. Aus der für Becher nur möglichen Gegensprache und Vorwegnahme entwickelte sich in der Tat die Zwiesprache zwischen Mensch und Natur – Humanisierung der Natur, Naturalisierung des Menschen erscheinen in den frühen Gedichten, im Erlebnis der „Sommernacht“, des „Jugendobjekts“ als philosophische Konzeption schon angelegt, in den späteren Versen wie „Glückliche Verschwörung“, „Von Martschuks Leuten“ ausgereift. Freundliche, ins Bild menschlicher Qualitäten gesetzte und dadurch vertraut gemachte Natur um die Liebenden („Waldwohnung“), Verzauberung der erklärbaren, entzauberten Naturerscheinungen im naiven, staunenden Kinderlied („Der Regen“), Sinnlichkeit im wechselseitigen ungestümen Verlangen („Annachronik“) werden aus diesem Weltverhältnis mitgeteilt.
In den Gedichten fällt uns ein Drängen nach schöpferischer Leistung auf: der gegenwärtige Zustand wird nicht als schöner Status gefeiert. Die Gegenwart von den Entwicklungszielen her produktiv-kritisch betrachtend und die Zukunft als Ergebnis kollektiver Bemühung begreifend, versucht Braun, selbst ein bewegliches Subjekt dieses Prozesses, die Bewegung der Wirklichkeit durch die Bewegtheit des Gedichtes zu provozieren. Immer spricht der politische Dichter, der die politische Sache als menschliche Angelegenheit und die menschliche Angelegenheit als politische Sache verstanden wissen will. Immer eröffnen sich die Besonderheiten der Gedichte aus diesem Bezug: sie lassen sich nicht mehr in Liebes-, Natur- und Weltanschauungsgedichte klassifizieren.
Dennoch müssen im Vergleich früherer und späterer Gedichte deutliche Wandlungen der poetischen Konfession angezeigt werden, zunächst auch in der Haltung des lyrischen Subjekts. In „Kommt uns nicht mit Fertigem“ trat uns ein junger selbstbewußter Sprecher entgegen, der kritisch und unduldsam Verhaltens- und Denkweisen attackierte, die die große gesellschaftliche Unternehmung behinderten, die die Chance neuer menschlicher Beziehungen ignorierten. Diese Haltung entsprang sowohl einem großen Einsatz an Kraft, Ideen, Willen als auch einer überschwenglichen Gewißheit, daß Schwierigkeiten und unzureichende Positionen der Ungeduld der Jungen nicht werden standhalten können. Die Polemik, gegen zurückgebliebene Jugendliche wie gegen jene Angehörigen der älteren Generation, die der Jugend zu wenig Verantwortung gaben, wurde zur adäquaten Ausdrucksform dieser Haltung. Die Adressaten wurden genannt: die prügelnden Halbstarken Fehrbellins, die Vorsichtigen unter den Studenten auf den Kartoffelfeldern Krummensees, das allein durch Liebe nicht zu gewinnende Mädchen in Flensburg, der Dichter selbst bei unzureichender Anstrengung – die Attacken haben Zielpunkte, verflüchtigen sich nicht in hohler Parole.
Im Gedicht „Bleibendes“ ist das lyrische Ich in anderer Weise profiliert, nicht mehr so sinnfällig ist der Reiz jener jugendlichen Subjektivität. Der Dichter verbündet sich bewußter, ein neues Kraftgefühl entspringt der vervielfachten Gemeinschaft und der stärkeren Beachtung von Realitäten. Die Identifikation wird in den Gedichten besonders dort verdeutlicht, wo das lyrische Ich von der Schilderung, dem beobachtenden „sie“, jäh ins teilnehmende „wir“ und „uns“ hinüberwechselt, so daß nun die erst Beschriebenen die selbst sich Darstellenden, Aussagenden werden. Die Gedichte eröffnen dabei eine größere poetische Landschaft: besiedelt mit sich befreundenden Staudammerbauern, Liebenden, die ihr Kind diesem veränderten Land anvertrauen können, Bauern, die sich zur Kooperation zusammenraufen, Produktionsarbeitern, aufgerufen zur bewußten Mitbestimmung. Brauns grundsätzliche Ansicht von der im Sozialismus möglich gewordenen und notwendigen Verantwortung aller für alle wichtigen gesellschaftlichen Belange, in den früheren Versen manchmal nur einseitig geäußert, wird jetzt zur umfassenden Konzeption. Zugleich ist eine deutliche Ausweitung des Blickfeldes auf den nationalen und internationalen Raum, also auf das Epochengeschehen, zu beobachten, das früher nur im Vergleich, im gelegentlichen Ausblick erschien.
Das ist nicht allein ein quantitativer Weltgewinn: die Welt gerät in ein neues Prisma lyrischer Subjektivität. In „Kommt uns nicht mit Fertigem“ forderte das Ich rigoros eine plötzliche Verwandlung des Gegenwärtigen, abrupt negierte es überkommene, den neuen gesellschaftlichen Erfordernissen unangemessene Verhaltensweisen. Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Existenz wurden fast unvermittelt neben- oder gegeneinandergestellt; „wilhelminischer Schulterputz“, „täglich das alte Leben abgeblasen“ und „Meer unserer Erwartungen“ unverbundene, aufeinanderprallende Bilder. Bleibendes dagegen zielt nicht auf einen völligen Neubeginn, sondern auf die Entwicklung. Gegenwart erscheint als gewordene Realität und fortdauernde revolutionäre Verwandlung. Die Voraussetzung für die prägnante und überzeugende ästhetische Notierung der Schnittpunkte von Vergangenheit und Zukunft ist das Vermögen des Dichters, gleichsam durch eine prognostische Brille zu sehen und Wirklichkeitsteile als Bildelemente zu wählen, die bei oft nur geringen Umfügungen das Bild der Zukunft schon plastisch werden lassen, ohne das gegenwärtige Material zu überfordern oder zu ersetzen. So werden diese Schnittpunkte weder abstrakt definiert noch im phantastischen Bild umschrieben. Das Gedicht wird durchsichtig: wir sehen durch auf mehr.
Die unterschiedliche Haltung Brauns und also die unterschiedliche Sicht auf die Gegenstände ist auch an der Struktur beider Gedichte – sie stehen hier paradigmatisch – abzulesen. Die jugendliche Ungeduld benutzte einen Gedichttyp, der weniger die Bewegung der Realität selbst reproduzierte als vielmehr die Bewegtheit des Subjekts verabsolutierte. Der poetische Impuls des frühen Gedichts entsprang der Manier, frei über die Gegenstände zu verfügen und sie in ihrer Unzulänglichkeit bloßzulegen. In der Absicht, so intensiv wie möglich den Adressaten zu überzeugen, riß der Dichter Bilder sehr unterschiedlicher Qualität zusammen; er variierte den ersten Vers, übersteigerte ihn, so daß er, ohne den Sachverhalt zu untersuchen, immer nur seine Forderung wiederholt:
Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate.
Weg mit dem faden Braten – her mit dem Wald und dem Messer!
Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine.
Hier schreit eure Wünsche aus: Empfang beim Leben.
Im Gedicht „Bleibendes“ dagegen entsteht aus der jetzt „kühler kalkulierenden“ Haltung eine wohldurchdachte, widersprüchlich-wägende Komposition. Der Dichter will nicht mehr „frei“ über die Dinge verfügen, sondern ihre zur Zeit mögliche Entwicklung zeigen: er wird immer stärker zur dialektischen Struktur des Gedichts selbst gedrängt. Der Ausgangssituation der ersten Strophe, die sozialistische Gegenwart als erfreuliches Leben:
… Die Äcker fassen Fuß auf der Erde, breit, in Kolonnen
Auf den Knien liegen die Ämter vor unsrer Herrlichkeit
Wir arbeiten uns hinüber in die freie Gesellschaft
antwortet die Gegensituation der zweiten mit der Unzulänglichkeit des Erreichten:
… Klein klebt die Landschaft unter den Füßen fest
Kleinlich wird der Wurf, eh die Saat den Boden trifft
Bis das Land, das allen gehört, auch auf alle hört.
Nachdem die dritte Strophe beide Situationen noch einmal hart gegeneinander setzt, im denkbar anschaulichsten Bildkomplex:
… Wir richten uns häuslich ein, auf dem Sprungbrett, das federnd bebt
Und kauern im Startloch, jubelnd wie hinter dem Ziel.
Wir sagen: so bleibe es. Wir sagen: nichts bleibt
erhellt die vierte den Zusammenhang, die Tendenz ihrer Lösung: Widersprüche unsres Lebens sind in der bewußten Arbeit des Volkes immer wieder neu zu überwinden; nicht in der Entscheidung für eine starre Haltung, sondern im dialektischen Gebrauch von Haltungen liegt das Geheimnis des gesellschaftlichen Fortschritts.
Diese Methode, mannigfaltig angewandt und nicht nur auf die Fügung der Strophen beschränkt, charakterisiert wesentlich die Gestalt der späteren Gedichte. (Braun überprüft immer wieder kritisch die Möglichkeiten dieser Fügungsart. Er hält sie nur dann für geglückt, wenn im Gang des Gedichts der „materielle“ des erzählten Vorgangs, der Story, erhalten bleibt.) Die Vielfalt der Vorgänge bestimmt daher die Vielfalt der Strukturen.
Werten wir mit solcher Betrachtung die späteren Gedichte höher als die früheren? Der Vergleich von Gedicht zu Gedicht bleibt ungerecht. Jedes Gedicht muß mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, aus der es kam. Die Dichtungen der ersten sechziger Jahre, geschrieben von einem politisch wie künstlerisch Lernenden, waren gerichtet in eine Wirklichkeit, die durch die zielstrebige Überwindung der alten Lebensweise revolutioniert werden konnte. Sie mobilisierten das noch brachliegende Selbstgefühl, die Souveränität der Adressaten. Die Dichtungen vom Ende dieses Jahrzehnts, geschrieben von einem gereiften Dichter, sind gerichtet in eine wissenschaftlich geplante Gesellschaft. Sie sollen ihren Adressaten reicher machen, menschlicher: schöpferischer und freundlicher. Die „Kritik“ an der früheren poetischen Formulierung erfolgte eben von der höheren Stufe des Gesellschaftsprozesses aus: Kontinuität und Diskontinuität in der lyrischen Produktion erklären sich hier mehr als je auch aus der Veränderung der widergespiegelten Realität selbst. Georg Maurer hatte scharfsichtig beim Lesen der frühen Gedichte Volker Brauns diesen Entwicklungsgang des Dichters vorweggenommen:
Ich persönlich höre diesen Lärm gern. Denn was bedeutet dieser Ausbruch und Aufbruch? Der junge Lyriker in unserer Republik kennt die Vergangenheit als schreckliche und heroische Geschichte, aus der er hervorgegangen ist, er weiß von den Taten und Untaten der Väter. Und er will nun innerhalb unserer Republik, um mit Marx zu sprechen, den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß haben. Er schreibt sich alles von der Seele und lernt dabei, sich zu erblicken, und indem er sich erblickt, lernt er schreiben. Er weiß, daß ihm die Verantwortung keiner abnehmen kann. Ja, er verspürt Lust, sie zu tragen. Er nimmt sich in eigene Regie… Weltverlust zieht Ich-Verlust nach sich. Darum ist mir das großgeschriebene Ich der jüngsten Lyrik, das sich nicht durch Phrasen und Losungen sichert, sondern ziemlich splitternackt auftritt, zunächst lieb. Denn ich bin sicher, daß dieser Ich-Gewinn Weltgewinn nach sich ziehen wird.
Ein Gedicht wie „Der Lebenswandel Volker Brauns“, geschrieben Anfang der siebziger Jahre, deutet eine neue, eine dritte Schaffensphase des Lyrikers an. Was in anderen, in diesem Zeitraum entstandenen Versen gleichfalls auffällig ist, bildet hier zentrales stoffliches Element des Gedichts: jene historischen Vorgänge, auf die Braun seit Mitte und Ende der sechziger Jahre aufmerksam wurde, werden nun direkter in die eigene Biographie hineingenommen, aus ihr erhellt. Daß der Lyriker bisherige gesellschaftliche Bewegungen bilanziert, zugleich aber auf die „offenen Enden der Geschichte“ weist und die Erfahrungen der Historie für die zu lösenden Aufgaben mobilisiert, vor allem durch die internationalistische Sicht und Haltung jede „Versessenheit“ auf ein Land attackiert, erscheint in den Gedichten der siebziger Jahre entfalteter im Kontinuum der poetischen Bemühungen Volker Brauns. Charakteristisch ist nun, daß er jetzt konsequenter die gesellschaftlichen Probleme als seine eigenen vor- und auszustellen sucht und so unmittelbarer Geschichte als vielfältiges individuelles Geschehen, als „durch den Kopf gegangenen“ sozialen Prozeß erhellt. Braun setzt unbedenklicher ein Ich in der lyrischen Äußerung ein, bietet betonter subjektive Haltung, Urteile, Emotionen zu den erfahrenen allgemeinen gesellschaftlichen Vorgängen an. Die Gedichte gewinnen aus einer so akzentuierten poetischen Konzeption fraglos auch eine neuartige Intensität. Braun rekapituliert nicht mehr nur die Geschichte unseres Landes als große kollektive Anstrengung; im Wandel, der Eigenart seines Lebens – darin besteht der historische „Vorteil“ seiner Generation – kann er die Revolutionierung unserer Gesellschaft in ihrem wirklichen Gewinn für das Leben der Menschen in unserem Lande dokumentieren. Er berichtet jetzt weniger in der Sprechhaltung eines Kommentators oder Propagandisten über die internationalen Klassenkämpfe. Er stellt sich in der Gedicht-Gestalt als ein in der Szene dieser Kämpfe lebendes Individuum aus; er bekundet eine von seinen persönlichen Gegebenheiten herrührende Betroffenheit, von ihnen ausgelöstes Nachdenken, Vorschlagen…
Sozialistischer Internationalismus wird nicht vorrangig nur stofflich als ökonomische Integration, als kulturelle Zusammenarbeit vermittelt, sondern als historische Chance, das Leben aller durch vielfache Zusammenarbeit qualitativ zu verbessern, zu erleichtern, als ein Prozeß, in dem durch das Bewußtsein der Gemeinschaft die menschlichen Beziehungen neu orientiert werden, größere Ansprüche an Glück gestellt, günstige Bedingungen für Glück produziert werden können. Braun schreibt sich, auch in Gedichten wie „Landwüst“, „Hanß Georg Braun u.a.“, „Engere Heimat“, „Rochwitz“ in die Chronik, die Tradition seiner Familie, weiß sich, „gemodelt aus vieler Geschlechter Stoff“, historisch gewachsen wie historisch vergänglich zu sehen.
Der stärkere Bezug aller Vorgänge auf den subjektiven Bereich läßt sich darin erkennen, daß die alltägliche, konkrete Lebensweise jetzt hartnäckiger auf den realen Humanismus unserer Gesellschaft hin befragt wird.
Die Ungeduld, die sich in solchen Versen mitteilt, erwächst nicht mehr wie in der Dichtung Anfang der sechziger Jahre vorrangig aus der Unzufriedenheit über inaktive Zeitgenossen; sie erwächst aus dem Bedenken, daß über all den technischen Fortschritten, den gesellschaftlichen Errungenschaften der durch sie mögliche eigentliche Gewinn für ein produktives, glückliches Dasein aus dem Blick geraten oder zugeschüttet werden könnte. Appell und Proklamation genügen ihm jetzt um so weniger als lyrische Sprechweise, da sich die ihn jetzt interessierenden Probleme nicht allein aus zu kritisierenden Haltungen ergeben. Die Diktion seiner Rede trägt daher andere Kennzeichen: er bietet seine Beobachtungen, Erwägungen und Fragen an, sucht den Dialog, für den er seine Verse gleichsam als Diskussionsbeitrag bereitstellt. Diese Gedichte rechnen mit einer „Öffentlichkeit der Gesellschaft, (die) ihren abstrakten Charakter verliert“. „Auch das ist nicht mehr mein privates Problem, sondern ein gesellschaftliches, und ein Vorgang, der sich bei vielen abzeichnet oder abzeichnen muß und nicht nur in der Kunst, sondern in allen Lebensäußerungen“, bekennt Braun.
So bekundete Überzeugungen und Erwartungen werden in den Gedichten, die nach 1974 entstehen, differenziert erörtert. Diese sind, damit Keime der dritten Arbeitsphase entfaltend, wesentlich auf Selbstanalyse und auf die Prüfung des gesellschaftlichen Umfeldes im individuellen Vorfall gestellt. Die Sprechweise vieler Verse verändert sich: Die einladende Geste im Gedicht „Statut meiner Dauer“ zielt auf einen Leser, „der die Mühe nicht scheut, in einem anderen zu leben / Und die Bitternis und die Erschütterung seiner zeitungsreinen Gefühle.“ Dem Sprecher wird schmerzhaft bewußt, daß keiner aus seiner Haut kann: Gemeinschaft kann nicht gesetzt, Übereinkunft nicht schlechthin gefordert werden. Sie können sich herstellen, wenn der Leser sich im lyrischen Ich begegnet, seine Erfahrungen und Fragen in denen des Sprechers aufgehoben oder erweitert findet.
Solche Zurückhaltung, von vornherein im Namen der vielen, im Namen der Gemeinschaft zu sprechen, ist offensichtlich sowohl dem persönlichen Älterwerden als auch dem entwickelteren Niveau des gesellschaftlichen Organismus geschuldet, aus dem die eigene Subjektivität erwuchs. Die Erfahrung des Eigenen, auch der Eigenart der künstlerischen Arbeit schärft zugleich eine Optik, durch die eine stärkere Differenzierung der vorhandenen gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnisse beobachtet wird, und sie befördert ebenso ein unverwechselbares Sagen, eine Mitteilungsweise, durch die mit dem eigenen Leben für angemessene Urteile argumentiert wird. So gereift, diskutiert der lyrische Sprecher heute die Ergebnisse der individuellen wie gesellschaftlichen Anstrengungen, er zeigt mit Nachdruck auf Verhaltensweisen und Verhältnisse, die seiner Einsicht nach als unzureichend oder hemmend erkannt werden müssen. An die Lebensinhalte und Lebensentschlüsse der Menschen, an die wirklich gelebten Beziehungen im Sozialismus wird die Orientierung der Klassiker herangeführt:
Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen, denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner selbst für den andren und des andren für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit, erst hier ist sie da als Grundlage seines eigenen menschlichen Daseins. Erst hier ist sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn im Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur (Marx).
Aufmerksam wird unter den historisch-konkreten Bedingungen die gattungsmäßige Natur des Menschen bedacht – Braun überlegt, inwieweit unser Leben so eingerichtet ist und perspektivisch so angereichert wird, daß der Mensch seine gesellschaftliche Natur fortschreitend erfahren kann. Kollisionen des lyrischen Ich werden vor allem dann für mitteilenswert gehalten, wenn sie Störungen in der zu meisternden Dialektik von individuellem Anspruch und gesellschaftlichem Erfordernis, von individuellem Erfordernis und gesellschaftlichem Anspruch signalisieren lassen. Solche Störungen werden empfunden, wenn die eigene Natur zuwenig in ihrer gegebenen Widersprüchlichkeit beachtet, wenn auf den verschiedenen Ebenen der Selbstdarstellung und -analyse der Gesellschaft der reale Lebensprozeß nicht ausreichend einbezogen wird. Mangel wird gemeldet, wenn das den Menschen notwendige, sie produktiv einigende Instrument der Wahrheit zuwenig genutzt ist, wenn die Menschen sich nicht solidarisch aneinander anschließen. Aus einer solchen Auffassung über die Gründe, die das lyrische Subjekt zum öffentlichen Sprechen bewegen, wird letztlich auch eine, in manchen Gesichtspunkten neue Lesart der Geschichte, des Charakters ihrer gesellschaftlichen Formationen versucht…
Mag sein, daß geschichtliche Realität nicht mehr so vorrangig in aktuellen Phänomenen gesichtet, daß historischer Fortschritt so problemreich erörtert wird, daß sich der Impuls zu heutigem geschichtlichem Handeln nicht mehr so einfach ergibt – Gedichte wie „Kommt uns nicht mit Fertigem“, „Bleibendes“, „Der Lebenswandel Volker Brauns“ und solche Verse aus jüngster Zeit wie „Statut meiner Dauer“, „Guevara“, „Höhlengleichnis“, „Forum“ sind paradigmatisch für die Entwicklung und Anstrengung eines Lyrikers, der seine Gegenstände und seine Sprechweise immer aus dem Verständnis für die Phasen der historischen Prozesse gewählt, vervollkommnet und der gesellschaftlichen Kommunikation angeboten hat.
III
In einem Gespräch mit Silvia Schlenstedt versuchte Volker Braun einmal, die Art seiner poetischen Wirklichkeitserkundung, wie sie sich herausgebildet hatte und erprobt wurde, zu umreißen:
Für die Kunst gilt, was Marx an Hegel kritisiert, sie darf nicht ausgehen von einer Idee des Gegenstandes und sie in den Objekten aufsuchen und bestätigt finden. Marx stellte damals für eine wissenschaftliche Philosophie die Forderung auf, an einen Sachverhalt konkret heranzugehen, die Genesis des Sachverhaltes und seine Entwicklung zu beobachten. Das müssen wir in der Kunst ganz langsam und allmählich von der marxistischen Wissenschaft lernen.
Braun bemühte sich mit Konsequenz, dieser Forderung, die die sozialistische Kunst wesentlich bestimmt, in allen Phasen und Ebenen des poetischen Verfahrens zu genügen. Seine hartnäckige Unternehmung, jene Aktionen aufzufinden, die für die Zukunft der menschlichen Gesellschaft bestimmend und damit für ihre Gegenwart bedeutend sind, trifft schon mit der Wahl der Gegenstände und Fragen in das Hauptfeld der historischen Anstrengungen für den realen Humanismus. Selbst dem in die geschichtliche Bewegung der letzten Jahrzehnte uneingeweihten Leser könnten Brauns Gedichte die wesentlichen Etappen und Probleme aufschließen. Jugendobjekt oder Ostermarsch, der Mondflug oder das Treffen der Dichter gegen den Krieg – die Ereignisse sind in ihrer einmaligen Vorgänglichkeit und historischen Dimension aufgezeigt, erschöpfen sich nicht in sich selbst als interessante Neuigkeiten, erhellen den Stand der gesellschaftlichen Beziehungen, ihre Wertigkeit für die progressive Entwicklung der Menschheit. Auf dem Weg über die Darstellung der wirklichen Dinge zu zeigen, wie die Dinge wirklich sind, gelingt durch das Herausstellen der Widersprüche in der Komposition, durch die gegensätzliche Fügung der Bauteile.
Die Gesetze der Bewegung der Wirklichkeit müssen Gesetze des strukturellen Aufbaus des Gedichts sein. Das Abbild muß sich die Dialektik des Gegenstands als Form aneignen, um zum Gebilde zu werden. Die Widersprüche im Gegenstand müssen als Widersprüche im Abbild funktionieren (bzw. in der Beziehung Abbild-Leser/Hörer: in scheinbarer Übereinstimmung mit dem gegenständlichen Vorgang kann der Widerspruch durch Ironie angemeldet werden, die jeden Satz verfremdet und das Furchtbare oder Lächerliche unwidersprochen paradieren läßt, um es zu entlarven und ad absurdum zu führen…).
Erwerb und Erfolg dieser schwierigen Gestaltungsmethode ist gleichfalls als widersprüchlicher Prozeß von Experimenten zu sehen, Gelungenes wuchs aus Mißlungenem.
Eine solche poetische „Technologie“ funktioniert aber nur mit einem scharfsinnigen und phantasievollen Publikum. Die Gedichte Volker Brauns lesen sich leicht, aber sie lesen sich schwer; leicht, denn der Dichter beläßt dem Gegenstand die uns gewohnte, vertraute sinnliche Form, so daß wir unsere eigene Umwelterfahrung ins poetische Spiel bringen können; schwer, denn er bietet die Wesenserkenntnis nicht feil in einer glatten Sentenz, er zwingt den Leser, sie zu erwerben durch den Nachvollzug des antithetischen Gangs des Gedichts. Der Leser muß sich wachsam und kritisch gegenüber dem poetischen Gewicht der einzelnen Bauteile verhalten, da sich nur aus dem Gefüge aller geäußerten Haltungen die Wesenserkenntnis erschließt und der angemessene Standpunkt gewonnen werden kann.
Die harte Fügung, der häufig abrupte Aspekt- und Positionswechsel, Konsequenzen eines solchen Vorgehens, mögen zunächst schockieren; sie sind aber nicht eine auf Kennerbeifall bedachte Artistik, sondern Methode der künstlerischen Wahrheitsfindung.
Denn dieser Dichter fühlt sich seinem Adressaten in hohem Maße verpflichtet. In seinen Gedichten baut er ein kompliziertes Faktorengefüge auf, das uns in eine produktive Haltung (der gedanklichen Durchdringung wie des emotionalen Engagements) zum Gegenstand einsteuert. Dieses Einsteuern kann geschehen, indem das lyrische Ich diese Haltung fordernd vorschlägt (etwa „Regierungserlaß“, „Kommt uns nicht mit Fertigem“) oder sie vorlebt (etwa „Glückliche Verschwörung“, „Jugendobjekt“) oder gerade die hemmende Haltung – sie ironisierend – einnimmt (etwa „Selbstverpflichtung“). In jedem Fall wird ein Verhalten provoziert, durch das der erkundete Zustand am besten, das heißt hinsichtlich seiner Veränderung chancenreich angegangen werden kann, um uns einen größeren Freiheits-, Produktivitäts-, Glücksraum zu öffnen. Das Gefüge aller gestalterischen Elemente erst stellt eigentlich den Gestus des Gedichts her.
Jeder Text wird erst begreiflich, wenn er Vorgang zwischen Menschen wird, indem sich sein linguistischer Inhalt als Bedeutung realisiert: also der Angesprochene erfährt, worauf der Sprecher hinauswill bei ihm und derart und jetzt.
Die Bildwelt Volker Brauns, und wir meinen nicht nur einzelne Vergleiche oder Metaphern, sondern den gesamten, in den Gedichten aufgeschlagenen poetischen Schauplatz, spiegelt in großartiger Weite, Präzision und Plastik unser Land in seinem Wandel wider: „zusammengeschlagene“ Felder, „gesäumt nur vom blassen Himmel“, die „unnachgiebige Erdsuppe“ der Jugendobjekte vor den „Handbaggern“, die neuen Städte, klein auf dem nördlichen Erdball, „Teerstraßen“ und „Sturzdörfer“, der „ausgeraufte Wald“ der Bauplätze, und „im Talkessel verschmelzen hell die Fabriken“, die Böschung des Lands, das wir „einnehmen Elle um Elle“, diese „Lichtung zwischen sonst und jetzt“, „Rauch überm Land wie ein alter Hut“. Diese gleichsam mit den realen Veränderungen wachsende Bildwelt repräsentiert die zwischen der jungen sozialistischen Dichtung und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit gewachsenen Bindungen, sie befördert auf phantasievolle Weise ein neues Vaterlandsgefühl, das die Welt einbegreift. Die Voraussage Georg Maurers erweist sich als richtig:
Woher kommen denn die Lyriker…? Doch aus dem täglichen Leben, aus unseren Betrieben, mitten aus der technischen Revolution in Fabrik und auf dem Land. Und das wird sich bezahlt machen auch auf dem ureigensten Gebiet der Lyrik, nämlich in der Bildwelt. Sie kommen ja nicht vom kastalischen Quell, sind nicht Hirten aus Arkadien. Sie fließen nicht in Sehnsucht zurück. Sie treiben vielmehr die kastalische Quelle durch ein immer komplizierteres Pumpsystem – sie nennen es ,Schwarze Pumpe‘ – in die Städte und auf die Felder, sie legen die Sümpfe Arkadiens trocken und nennen sie Wische.
Mannigfaltige bildliche Verknüpfungen und Spiegelungen aller Elemente der Natur wie Gesellschaft dienen ihrer wechselseitigen Erkenntnis und Charakterisierung. In „Waldwohnung“ zum Beispiel erscheint die Natur, der Sommertag mit menschlichen Merkmalen:
Die Uferschenkel halten den Fluß, still liegt er
Der Himmel zieht den Tag schwarz in sein Blut
Und schluckt ihn langsam…
An den Liebenden betont der Dichter ihr Naturwesen:
Komm schnell: das Tier mit den zwei Rücken liegt
An Erd und Himmel eingestemmt, vier Beine streckts
Vier Arme schlingts um sich und schützt sich selbst vor sich
Und greift sich an.
In Messe hingegen kennzeichnet er die technische „Landschaft“ so:
In den Sälen leuchtet der Stahl, geronnen
Zu Kränen und Tanks, das Glas
Blüht, ein Baum, von Kabeln
Umrankt, durchflogen von Säure und Strom
Blüten treibt das Aggregat.
Diese im poetischen Bild vollzogenen Kommunikationen zwischen den Wirklichkeitsbereichen sind kein leichtfertiges Spielen mit ihnen; sie sind der spezifische lyrische Reflex der neuen Kommunikationen zwischen dem schöpferischen Menschen und dessen gesellschaftlichem und natürlichem Aktionsfeld, ein genaues sprachliches Reagieren auf den zunehmend universellen Austausch der befreiten Individuen. Vor noch unbewältigten großen Anforderungen erstreckt sich die Landschaft in bedrückenden Konturen; im „Bericht der Erbauer der Stadt Hoywoy“ zum Beispiel heißt es anfangs:
Und an Vormittagen unter den blassen Gestirnen
Stieg Staub grau aus dem Schlamm wie ein grauer Himmel ins Land
Und wir sahn die Stadt noch nicht, nur manchmal in den Gehirnen
Zwischen vielem Staub war die Stadt über dem Sand.
Nach erfolgreichem Aufbau und Sieg über den Schlamm aber schmilzt die Landschaft zusammen in die heiteren, faßlichen Dimensionen einer Spielzeugwelt:
An einem Nachmittag, aber das war ja
Viel später, sahen wir eine Stadt
Über dem Schlamm und dem Sand hell und ewig: und da
Standen wir in vielem Licht, und es hat
Uns alles beleuchtet: aber die Häuser stieren
Klein zu uns herauf, und die Straßen kleine Striche im Kies!
Mit geknickten Knien krochen wir in die Türen
Bis uns die Decke allmählich auf die Schädel stieß!
Und auftauchend, hörten wir uns nach den vielen
Tagen lachen, und die Straßen flogen vor den Füßen weg:
Laßt das liegen! rief es, da mögen die Kinder spielen
Wenns ausreicht! Und es blieb nur der Fleck
Hinten am Auge, und vorn sahn wir Land und Wiesen
Groß für Städte! Und nach dieser Ewigkeit
Zogen wir los am nördlichen Erdball hin, ließen
Diese Stadt denen, die so wohnen mochten für einige Zeit!
In solchen Versen werden nicht ein für allemal feststehende Verhältnisse der Größe oder Beschränktheit des menschlichen Vermögens fixiert. Auch aus dem Wechsel der Dimensionen, in denen die Wirklichkeit im sprachlichen Bild nach dem Maß ihrer Aneignung durch den schöpferischen Menschen aufgebaut wird, gewinnt die Sprache Volker Brauns an Dynamik.
Ein charakteristisches Mittel, viele Bedeutungsebenen der Gegenstände sprachlich rationell und eindringlich freizulegen und dabei die Lebens- und Bildungserfahrung des Lesers zu nutzen, besteht in der originellen Übernahme schon geprägter sprachlicher Formen unterschiedlichster Quelle. Einerseits greift Braun markante Stellen klassischer Dichtung, geflügelte Worte, Sprichwörter (also literarische Prägungen im engeren Sinne) auf; zum anderen verwendet er Schlagworte, umgangssprachliche Fügungen, feststehende Wendungen der gesprochenen Sprache. Der Dichter nimmt diese geläufigen Formulierungen gewissermaßen beim Wort, dreht sie sich im Munde um, fügt Fragmente von ihnen mit unerwarteten neuen Wendungen zusammen. In „Das weite Feld“ zum Beispiel wird der Gewinn der Bodenzusammenlegung durch das fröhliche Aufheben alter Drohung erklärt:
den ganzen Grund:
In den warn sie versessen, den hauen sie
Zusammen jetzt zu einem Schlag
In die lappige Landschaft
Wo ihnen was blüht, und wächst gut
Über den Kopf, Weizen
Und der glückliche Klee.
In „Die Genossen“ heißt es über den Zustand des Landes nach dem Krieg nicht wie bisher „was ist, das bleibt“, sondern „Aber was war war“. Die durch die Arbeit der Genossen anbrechende neue Zeit wird charakterisiert durch Aktionen (und deren Bezeichnungen), die der alten Zeit zugehören, aber durch die überraschend eingesetzten neuen Ziele werden sie als neue Aktionen erkennbar:
… Sie besetzen das Land
Mit Spitzen von Stahl. Sie fesseln es
An friedliche Arbeit. Sie diktieren ihm
Seinen Willen.
Es ist ihre Zeit.
Mit dieser Montage traditionellen Sprachgutes in seine Verse möchte der Autor keine artistischen Spezialfertigkeiten nachweisen, dem Leser keine zusätzlichen Rätsel aufgeben, an denen er seine Bildung überprüfen und genießen kann. Diese Umprägung und Montierung eröffnet unseren heutigen Angelegenheiten ihre Geschichtlichkeit, historisiert sie immanent in der sprachlichen Formung, ohne daß der Vers lehrhaft wird. Fixiert er mit einem Sprichwort eine alte Verhaltensweise, so assoziiert der Leser deren soziale Basis; korrigiert der Lyriker die vertraute Maxime, so weisen die veränderten Wendungen den Leser auf eine veränderte Welt.
Mit diesem Gestaltungsmittel werden daher nicht sprachliche Formen zitiert, sondern letztlich Haltungen, deren reale Überwindung mit der sprachlichen angezeigt bzw. gefördert werden soll. Der Leser gewinnt die neuen Einsichten über die Enttäuschung seiner sprachlichen Erwartung; altes Vertrautes wird ihm fremd gemacht, neues Fremdes bekannt. Volker Braun handhabt die sprachliche Verfremdung mit großer Sicherheit. Am poetischen Verfahren also, nicht am formalen Klischee, läßt sich entdecken, daß Volker Braun fest in der Tradition der künstlerischen Methoden steht, die von den Klassikern des sozialistischen Realismus, wie Brecht und Majakowski, unserer heutigen Literatur zur Verfügung gestellt wurden.
Im produktiven Bezug zwischen Erleben und Erkennen, zwischen Gestalten und Wirken erst liegt die Qualität dieser Dichtung. Sie stellt die heutigen Kämpfe in die alten Kämpfe der Menschheit, zeigt ihre Fortführung, ihre in der sozialistischen Gesellschaft erreichte Größe, die der Dichter benennt: „Die Kunst beginnt erst / Wirklich“ – im Leben.
Christel und Walfried Hartinger, Nachwort, 1971, 1975, 1979
Die natürliche Gesellschaft interessiert uns nicht als Ideal, sondern als Prozeß, der begonnen hat; in ihm oder nirgendwo ist zu finden, was über ihn hinausreicht. So bleibt nur eins für die Dichtung interessant: die wirkliche Bewegung. Wie kommt die ins Gedicht?
Der antithetische Gang des Gedichts selbst wird zu Resultaten im Gedicht führen, die, da sie aus der Sache kommen, für die Sache wirken, für ihren realen Gang einen ideellen Vorlauf schaffen aus Erkenntnis, Bereitschaft, Lust. Das Gedicht wird fordern, was die Sache erfordert, es wird operativ. Es wird kühn sein wie die Sache, für die es sich engagiert.
Die insgesamt vom Zustand der Gesellschaft erzählende Dichtung, die keine „Nachahmung“ der Wirklichkeit gibt ( die Wirklichkeit nicht als Selbstverständliches gibt), sondern bewußt eine aktive Haltung zur Wirklichkeit einnimmt, die bewußt bestimmte Emotionen, Haltungen zu erzeugen sucht, ohne ihre eigene Unfehlbarkeit zu suggerieren (die also die Vorgänge und sich selbst der Kritik anbietet), kommt der Politik ins Gehege: als Partnerin.
Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1979
Volker Braun, Jahrgang 1939, repräsentiert so stürmisch und so gültig wie kaum ein zweiter seiner Generation die neue Wirklichkeit unseres Landes im Spiegel des Gedichts. Wie kaum ein zweiter hat er den schöpferischen Kern des Marxismus, die materialistische Dialektik wesenhaft (aber nirgendwo lehrhaft) in Verse umgesetzt: Sein Gedicht kennt keine abgeschlossenen Realitäten, nur den ewigen Werde- und Entwicklungsprozeß, in den auch das lyrische Subjekt sich einbegriffen erfährt. Dieses Gedicht will provozieren – die Zauderer, die Bequemen, die Leichtzufriedenen, die Beharrenden, die Dogmatiker, jeden, für den die sozialistische Wirklichkeit nicht Fülle, Weite und Offenheit eines neuen Lebens, komplexer Werde- und Wandlungsprozeß auf eine äußerste Freiheit und Menschenwürde hin ist. Die Ermüdeten und Bornierten werden provoziert, die Unermüdlichen und Weitdenkenden werden gestärkt.
In unerhörter, auch sprachlich kühner Fülle und Dichte zieht hier unsere Wirklichkeit in das Gedicht ein, macht auch dem ärgsten Zweifler klar, daß eben diese Wirklichkeit poesiefähig, mehr noch: poesiewürdig ist. Die chronologisch geordnete Auswahl des verdienstvollen Reclambändchens zeigt die wachsende Fähigkeit Brauns, die Gegenwart gleichzeitig als hautnahen Lebensprozeß und schon als weiträumige Geschichte zu erfassen. Zum leidenschaftlichen, repräsentierenden Sprechen im Plural (im Subjekt wie Objekt) tritt die Kraft souveräner Überschau, der Deutung des Wirklichkeitsprozesses in großen Bildern. Neben die Schule Brechts und Majakowskis, auch Georg Heyms, tritt – verhalten, aber deutlich – die Schule Hölderlins. Dem Schöpfer einer neuen und vielschichtigen Metaphorik gelingt zugleich das ganz Einfache und das ganz Große, etwa in der ergreifenden Simplizität des Gedichtschlusses:
In der Tür lehnt die Mutter
Und lebt.
Wem solches gelingt, von dem ist noch viel zu erwarten.
Eberhard Haufe, Thüringer Tageblatt, 1972
– Zur Lyrik Volker Brauns. –
Lyrik, will sie nicht in den Gesprächen und Polemiken der Lyriker untereinander verwaisen, hat ihre Bewährung in der Wirkung, die sie an den Leser zu vergeben hat. Nun ist diese Wirkung allerdings nicht derart, daß Gedichte gleichsam von allen und jedem, zu jeder Zeit an jedem Ort rezipiert, gesprochen und durchdacht werden könnten.
Hegels Gedanke, die Lyrik erheische „auch eine erworbene Bildung zur Kunst“, findet sich modifiziert auch in der Äußerung von Marx, daß „die Musik“ erst „den musikalischen Sinn des Menschen erweckt“, da „für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen hat“, weil sie „kein Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Bestätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann…“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte), und in Brechts vorsichtiger Formulierung, Kunst sei auch an Stimmung, Ort und Gelegenheit des genießenden Subjekts gebunden.
Engagement als solches, sei’s auch politisch gemeint, bleibt politisch vieldeutig, solange es nicht auf eine Propaganda sich reduziert, deren willfährige Gestalt alles Engagement des Subjekts verhöhnt.
Dieser Satz Theodor W. Adornos offenbart die Not des bürgerlichen Ideologen, im politischen Standpunkt des Subjekts mehr als nur Propaganda zu sehen, sobald dieses sich politisch eindeutig äußert. Dennoch scheint er zumindest in einer Hinsicht bedenkenswert, nämlich in jener, in der sich Georg Maurer in einem Interview auf die Frage nach der Bedeutung des Begriffs Engagement für die sozialistische Lyrik geäußert hat. Maurer antwortete:
Kunst, meine ich, dient dem Menschheitsinteresse, indem sie die Struktur unserer Wirklichkeit sichtbar macht. Sie kann die Art des Zwischen-Menschlichen, das Zwischensein, denn das heißt Interesse, auch verschleiern. Es ist dann nur die Frage, welche Art ,Kunst‘ das ist? Wem dient sie dann? Doch nur dem, der Verschleierung nötig hat. So glaube ich, daß es eine nicht-engagierte Kunst gar nicht gibt.
Nun hat sich meines Wissens kein anderer Lyriker seiner Generation der politischen Landschaft der DDR derart intensiv zugewandt wie Volker Braun. Der jetzt im Reclam-Verlag erschienene Band Gedichte erlaubt zum ersten Mal einen Überblick über das Werk des jetzt Vierunddreißigjährigen. Es nützt freilich wenig, wenn man, wie oft, diesem Dichter seine politisch positive Haltung zu seinem Staat attestiert; man muß, will man Intention und Wirkung dieser Lyrik zu ergründen suchen, nach der „Verfahrensweise des poetischen Geistes“ fragen, um an ein Wort Hölderlins zu erinnern.
Für eine solche Methode spricht das poetische Kalkül Volker Brauns selber. In einem Gespräch mit Sylvia Schlenstedt (Weimarer Beiträge 10/1972) hat er die Situation seines Dichtens mit einem Rückblick auf Früheres und einen Ausblick auf Künftiges restituiert:
Die frühen Gedichte waren ein sehr persönliches Sich-Aussprechen zu Vorgängen, in denen ich mich als Jugendlicher sah… In den folgenden Gedichten… sprach ich sozusagen als Staatsbürger, der das Wagnis der Vergesellschaftung in seinem deutschen Staat der fatalen Verlängerung der Vorgeschichte in dem anderen deutschen Staat entgegenhielt… Ich versuche auf anderer Ebene zurückzukehren zu einer ursprünglichen Haltung, die sich nicht so forciert für eine Sache engagiert, sondern für die vielen Sachen, die zum Menschen gehören. Das Gedicht hat für mich jetzt zu liefern die viel intimere persönliche Aussage und das Aussprechen eines Weltgefühls, das sich nicht an ein Land klammert, sondern sich viel mehr für das interessiert, was eigentlich die Leute aller Länder angeht.
An anderer Stelle hat Braun seine poetische Konzeption mit einer polemischen Wendung gegen eine vermeintliche „dichterische Weltsprache“ befestigt, deren Welt eine „alte Provinz“ sei:
das Hirn im entfremdeten Schädel.
Es bleibt dabei nicht offen, was und wen Braun meint, wenn er als Beispiel Paul Celans „Psalm / In Mundhöhe“ zitiert und schlußfolgert:
Die Struktur der ,modernen Poesie‘ wird der Unzusammenhang, ihr Kompositionsgesetz die Unänderlichkeit, die Vereinzelung von allem, auch der Sprache: das Schweigen.
Man wird sich allerdings fragen müssen, was eine solche Abgrenzung tatsächlich leistet, wenn man bedenkt, welche Gegenstände und Erfahrungen: dem Dichten eines Paul Celan zugrunde lagen. Der für manche spätbürgerlichen humanistischen Künstler bestehende Widerspruch, einerseits die Gesetze ihrer Wirklichkeit erkannt zu haben, andererseits sich ihnen gegenüber allein durch die Verwirklichung des Ichs behaupten zu wollen, basiert auf einem Irrtum, der letztlich auch zum Verstummen der Sprache führen kann.
Auch Hans Magnus Enzensberger hat durch seinen weitgehenden Verzicht auf „Subjektivität“ und „Kunst“ einem Irrtum Tribut gezollt, der nur äußerlich dem Paul Celans entfernt scheint. In Wirklichkeit bezeichnet dieser Irrtum eine Grenzsituation des Künstlers in der spätbürgerlichen Gesellschaft. Nähme man selbst an, Kunst hätte allein die Aufgabe, die Kontinuität des Leids als Mahnung gegenüber Gegenwart und Zukunft zu befestigen, dann wäre ihr in einer Welt, in der Krieg noch immer möglich und in vielen Teilen der Welt noch immer alltäglich ist, ihre Berechtigung nicht abzusprechen.
Selbst noch in Majakowskis großem, der Diesseitigkeit zugewandtem Werk gibt es Momente tiefer Resignation. Und die Schlußverse seines Jessenin-Gedichtes sprechen in ihrer dialektischen Umwendung davon:
Unser Erdball
aaaaaaaaa aagibt an Frohsinn
aaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaa nicht viel her.
Freude
aaaaaamuß der Zukunft erst
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaentrissen werden.
Sterben
aaaaaaaist in diesem Leben nicht gerade schwer.
Leben baun
aaaaaaaaaist schon
aaaaaaaaaaaaaaaabedeutend schwerer.
Majakowski und Braun – das scheint als möglicher Vergleich zweier dichterischer Individualitäten nicht zu weit hergeholt. Beiden ist gemeinsam, daß sie Dichtung als Öffentlichkeit verstanden wissen wollen; beiden auch, daß diese Öffentlichkeit nicht im Widerspruch steht zu einer sensiblen und spezifisch dichterischen Weltaufnahme. Was Majakowski mit rhythmischem Schwung und Verve vortrug, was ihn zum Tribunen und Anwalt der Revolution macht: eine revolutionäre Situation, die auch den ununterbrochenen Kampf gegen jede Art von ästhetischem Obskurantismus in sich schloß, ist in der von Majakowski geprägten Form unwiederholbar. Majakowski steht derart zwischen den kleineren und größeren Erhebungen der Weltlyrik, zumal der sozialistischen, daß bereits der Brockhaus von 1927 nicht umhin kam, dem Dichter einen Artikel von 11 Zeilen zu widmen. Auch das war Ausdruck von Majakowskis Wirkung, die nicht zuletzt daher rührte, daß er in seinen Gedichten dem Grunderlebnis der sich formierenden sozialistischen Gesellschaft Ausdruck verliehen hatte. Dieser Wirkung konnte selbst das bürgerliche Lager nicht die Anerkennung verweigern, auch wenn dort eine Verfälschung der revolutionären Botschaft ins Ästhetisierende dominierte. Für Majakowski aber ging dieses Neuerertum Hand in Hand mit der Erneuerung der Gesellschaft. Dieser Dichter begriff die Revolution als totales Ereignis, das auch den Vers und das Wort zu sprengen hatte. Seine Wendung gegen eine enge Auslegung der Tradition mag Ungerechtigkeiten impliziert haben – es war dies eine notwendige Abgrenzung gegenüber Zeitgenossen, die hinter der Berufung auf „Tradition“ nur die Schlamperei verbargen, die Gustav Mahler diesem Begriff schon einige Dezennien früher angelastet hatte.
Die bedeutende Weltlyrik (deren Echtheit sich nicht zuletzt dadurch erweist, daß in ihr die Fragen der Menschheit immer wieder konkret formuliert werden), erhält ihren Rang nicht aus einer falsch verstandenen Gegenständlichkeit, deren hilfloser Opportunismus sich darin gefällt, die „Dinge“ lediglich zu „benennen“, sondern aus jener mitunter zornigen Parteilichkeit, die das echte Engagement nicht scheut. Eine Dichtung, die ihren Mangel an Mut hinter den Objekten verbirgt, die für sie quasi wertfrei in Raum und Zeit schweben, ist ohne Wert. –
In den Gedichten Brauns ist freilich von einer solch falsch verstandenen Gegenständlichkeit nichts zu spüren. Die Gefahr dieses Lyrikers liegt eher darin, daß ein Zuviel an beredtem Aufwand spürbar wird in einem Bemühen, den ideologischen Standort um jeden Preis abzusichern. Nicht immer vertraute Braun voll der Kraft seiner Sprache. Auf einer verhältnismäßig sicheren Ebene, die durch sein starkes Talent gewährleistet wird, treffen sich dann die Stärken und Schwächen unserer Lyrik dergestalt, daß Gefahr und Gefährdung seiner Sprache einhergehen mit der Überstrapazierung der aktivistischen Geste und einer sich zeitweilig einstellenden Resignation, die bestimmte Gedichte wie Briefe wirken läßt, die einer an sich selbst schreibt. Brauns triadenhaft-dialektisch sich entwickelnder Weg, der die Aufhebung einer erreichten Position in einer anderen, neuen beschreibt, hält aber die Bewegtheit des Subjekts ständig in Fluß, so daß jeweils immer nur von einer Tendenz die Rede sein kann, deren Ziel im Moment des immer jeweils letzten Gedichtes liegt. Nicht nur, daß hier eine unbezweifelbare Begabung spricht, macht dieses Werk interessant, sondern vor allem, daß sich diese Begabung selbst als Produkt gesellschaftlicher Bedingungen begreift, die es überhaupt erst zu sich selbst kommen ließen.
Brauns Gedichte wollen Gebrauchsgegenstände sein, handhabbar in den Händen derer, die sie betreffen. Diese Bedingung bildet die Basis ihrer Sprache. Diese Sprache verschloß und verstellte sich nicht der Unmittelbarkeit. Programm, das polemische Wendung gegen andere Konzeptionen einschloß, war das „Vorwort“ zum Jugendzyklus:
Laßt sie ihre Verse brechen und bündeln für die euer des Nachruhms!
Laßt sie blumige Reime montieren als Wegzeichen in ihre Wortsteppen!
Unsere Gedichte sind Hochdruckventile im Rohrnetz der Sehnsüchte.
Unsere Gedichte sind Telegrafendrähte, endlos schwingend, voll Elektrizität.
Unsere Gedichte sprossen wie Bäume mit tausend Wurzeln im Geheimniskram des alten Erdballs und zweigen in tausend Aussichten.
Hier sprach einer durchaus nicht für alle Lyriker seiner Generation, aber für seine Generation. Andere Stimmen, etwa zur gleichen Zeit hörbar geworden, meldeten sich vergleichsweise zurückhaltender zu Wort: Rainer Kirsch mit zu Vorwurf und Kritik tendierenden Versen etwa; Sarah Kirsch, Spielerischem verpflichtet, in dem durchaus Ernst enthalten war; Karl Mickel, in dessen Gedichten sich Pathos und Distanz mit Anspruch und Sachlichkeit im Gleichgewicht befanden. Das waren schon Gegenstimmen zu Brauns eher rücksichtslos den Anspruch der Jugend behauptenden Ton. Eine verhaltene Provokation war der Satz in den „Anmerkungen“, die Wirklichkeit habe „seit dem Jugendkommuniqué vom September 1963 den Zyklus zu einer Sache der Historie gemacht“. Tatsächlich war die Wirkung dieser Gedichte auf den Lyriklesungen und -foren unmittelbar. Sie kam nicht zuletzt aus der Sprache, die die Sachverhalte durch ihren unkonventionellen Ton und die Respektlosigkeit gegenüber Tradiertem in ein neues Licht rückte. Fragte man sich damals was von der akklamativen Wirkung dieser Verse tatsächlich die Zeit überstehen würde, war man einigermaßen ratlos. Heute, aus der Distanz einiger Jahre, scheint ein wertender Versuch möglich.
Braun war gut beraten, als er für die Reclam-Ausgabe seiner Gedichte auch die frühen Texte einer Auswahl unterzog und den „Zyklus für die Jugend“ zugunsten eines größeren Kontextes auflöste. Man mag den Verlust der zyklischen Einheit bedauern, der z.B. das zitierte „Vorwort“ ausschloß, jedoch die Selbständigkeit, mit der jetzt die Gedichte für sich sprechen, beweist Brauns mit der Beharrlichkeit eines Aufklärers vorgetragene Suche nach dem der Sache gemäßen Ausdruck, dem eine Allergie gegen blumige Reime ebenso eigen ist wie der Geheimniskram zünftlerischer Versebündler.
Schon der Ansatz, mit dem Braun in die Lyrik der sechziger Jahre eintrat, war ein Bruch mit der poetischen Konvention. Kontinuität mit der sozialistischen Lyrik war selbstverständlich vorhanden: Majakowskis rauher Ton war vernehmbar; besonders aber im Produktivitätsanspruch, den Brecht an die Lyrik stellte, fand sich Brauns Lyrik bestätigt. „Bürgerlichen Traditionen“ begegnete Braun mit ausgesprochenem Mißtrauen, „blumigen Reimen“ wurde der Kampf angesagt. In „Jazz“, einem vergleichsweise direkten Text, wie auch in anderen Gedichten wurde den „peinlichen Partituren“ das Mißtrauen ausgesprochen: den „Liebhabern Puccinis“ ebenso wie denen, die angesichts des „3. Klavierkonzerts c-Moll. Beethoven“ weiteres Komponieren einzustellen empfahlen. – Was die poetischen Traditionen selbst betrifft, so schien sich Braun in den in der Gruppe „1959–1964“ im Reclam-Band zusammengestellten Gedichten wenig um sie gekümmert zu haben. Ein Mitsprechenlassen literarischer Kontexturen, wie es für die mittlere und letzte Gruppe charakteristisch ist, fand nicht statt. Basis dieser Gedichte sind die Erfahrungen und Lebenstatsachen selber. Die Situation des Dichters Braun bedurfte nicht der Reflektierung seiner Rolle als Dichter und Nachfolger etwa Hölderlins oder Goethes wie in späteren Gedichten, weil das gesellschaftliche Engagement mit den Bedürfnissen der Gesellschaft im Gedicht zusammenkam. Selbst noch die intime Szene schloß die Geschehnisse in sich ein, die auf dem „breiten Gefild“ stattfanden: Der historische Schritt, der die Felder der Einzelbauern zur Genossenschaft zusammennahm, war in der „Sommernacht“ den Liebenden gegenwärtig; das Liebeslager – „Platz für uns beide in dieser Hütte“ – hob sich nicht als Exklave trauter Zweisamkeit ab:
Im Licht der Traktoren blendet deine Haut wie Feuer.
Eine derartige Randszene erscheint uns wichtig, weil sie eine charakteristische Geste beleuchtet, die die Haltung des Dichters hervorzurufen bemüht war:
Das meine ich:
In die aufgerissene Gasse
Mit der Straßenbahn krachend geschnellt: hier
Hält die junge Frau den Kinderwagen, in die
Stöße der ungefügen Gleise, mit ihren
Beiden Händen: so dämpft sie das Poltern, weg
Nimmt sie die Schläge der Fahrt. Und noch
An ihre Hüfte brandet das Wüten der Bahn
Gezähmt läuft es die Arme hinab, nur
Als Schaukeln bleibt es den Händen, als
Wiegenschaukeln: diesen Anblick.
In den zwischen das „Das meine ich“: und „diesen Anblick“ gespannten Text des Gedichtes „Junge Frau“ konzentriert sich der beschriebene Vorgang auf den bis, zur Bedeutung eines Gleichnisses reichenden Halbsatz:
… weg
Nimmt sie die Schläge der Fahrt.
Aus der verbalen Sprechweise – „Ich aber rede / Mit vollem Munde rede / Mit hiebharten Zähnen, mit / Künstlichem Rebellengebiß, bis mir übel wird / Sorgenschnaps in der Kehle, berauscht / Und mir selbst verdächtig“ – hoben sich Prägungen, die über Gehalt und Anliegen hinweg aufhorchen ließen, weil sie gesellschaftlichen Anspruch und Leistung des Dichters auf eine unerwartete Weise befestigten:
Der weiche Regen ist niedergekommen
Der Kirschbaum fängt an zu glimmen
Ich streife die Blüten: meine Hand
Wird ein riesiges Blütenblatt. („Die Wolken“)
Hier war jene unwägbare Genauigkeit zu spüren, deren Empfindung sich immer dann bei Lyrik einstellt, wenn Vorgang und Sprache zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen. Nicht das „Gedachte“ schlechthin, sondern seine Entsprechung in der Prägnanz der unwiederholbaren Formulierung macht dieses Ereignis aus. Das sich aus der Spannung zwischen sprachlicher Vertrautheit und Fremdheit Herauslösende ist in keiner „dichterischen Weltsprache“ allgemein und an sich reproduzierbar, sondern es materialisiert sich im Aussprechen des Schnittpunktes, in dem sich die Subjektivität mit dem kommunizierbaren Objektiven trifft. Gerade in dieser Hinsicht sind die Gedichte des Jugendzyklus nach wie vor Ereignisse, die einer Wiederbegegnung standhalten. Sicher: „Anspruch“, „Jugendobjekt“, „Schlacht bei Fehrbellin“, „Flüche in Krummensee“ gaben sich lautstark und hemdsärmelig; Braun wußte, was er sagte, wenn er in der „Mitteilung an meine bedrückten Freunde“ sein Ich rufend auf den Märkten postierte. Aber neben dem akklamativen „Kommt uns nicht mit Fertigem!“ erweisen sich diese Texte auch als sensible Reaktion auf ein von der Wirklichkeit bereitgestelltes Material, das in Braun seinen Dichter gefunden hatte. Der Topos von der Sonnenscheibe über dem Rhinluch erweist seine Beständigkeit, indem das Gedicht auf unaufdringliche Weise noch immer das leistet, was vielen aktivistischen Gedichten der DDR-Lyrik versagt blieb: die Heroisierung des zähen Alltags. Wie sich aus fünf dreizeiligen Strophen in Bewegung und Gegenbewegung eine Idee herausarbeitet, ist nach wie vor für Brauns Poetik charakteristisch. Die Natur, der das Stück Butter abzutrotzen ist, wird nicht zur Nebensache. Naturlyrik – politische Lyrik: solche Begriffe versagen vor der Komplexität dieses Textes, der zur Anschauung zwingt, was sich da aufeinander zubewegt und durchdringt: Land und Leute. Der glückliche Wurf gelang durch die Beziehung, in die einige wenige Begriffe gesetzt wurden: Sonnenscheibe und Sonnenfahne, Himmelsuppe und Erdsuppe sind Medien, durch die eine nur durch ein „wir“ bezeichnete Gruppe sich ein Vaterland herschaufelte. Die zeitliche Bestimmtheit verweist dabei nicht auf die Apotheose heroischer Blindheit eines „Wir haben es geschafft!“, sondern der Text „schwingt“ aus jener am Beginn gesetzten Frühmorgenstimmung eines „Blaßrot“ des Anfangs in ein „Eh sie noch richtig gelb und bunt durch den blauen Himmel schwingt / Schwingen wir unsere lumpigen Suppenschaufeln unter der Sonnenfahne / Eh sie noch gelb und bunt wie blanke Butter hochschwingt, die Gute!“. Ohne ihren Symbolwert gewaltsam aufgeprägt zu bekommen, erhalten die bestimmenden Farben des Gedichts blaßrot, blau und gelb – ihre Bedeutung aus dem Naturvorgang dem kontrapunktisch das Sonnensymbol der Fahne gegenübersteht. – Mit diesem Gedicht hatte Braun seinen poetischen Anspruch dichterisch stabilisiert. Es gelang ihm zunächst, die im „Jugendobjekt“ zur poetischen Sinnfälligkeit verschmolzene Haltung weiter zu differenzieren. In der „Schlacht bei Fehrbellin“ war es der Sieg über „Poseidons graue zähne Mißgeburt“, der gefeiert wurde und dessen Gesang gerann; denn unter „Steinen und Knüppeln falln die Genossen“, Opfer der Jugend, „die den Hintern zusammennietet, um stark zu sein“.
Konnte sich Brauns Poetik auch weiterhin auf solche starken Bilder stützen? Oder waren für die weitere Entwicklung andere Momente von Bedeutung? – Intimes hatte Braun schon in der „Waldwohnung“ kräftig benannt; in den „Liebesgedichte(n) für Susanne M. in Flensburg“ wurde die aussichtslose Liebe der durch die zwei Länder Getrennten in einer „Anmerkung für Bürger der Deutschen Demokratischen Republik“ aufgegeben zugunsten der „augfüllenden Lockung“, die allein diese Trennung überwindbar machen sollte, da die Liebe des einzelnen kein Beweis sei. Aber zwei Texte des Teils „1959–1964“ verweisen jetzt auf weitere wichtige Momente in Brauns poetischer Entwicklung: die Gedichte „Allem verhaftet“ und „Meine Damen und Herren“. In ihnen wurde eine neue Sprechweise ausprobiert: ein zögernder, stockender Gestus – Ausdruck des Suchens nach neuen Möglichkeiten?, Versuch einer „Selbstfindung“, abseits des Postens auf Märkten und Straßen? –:
In meinen verschlossenen Zellen
Sitzen die Möglichkeiten
Die ich habe
In meinem leibeigenen Gebein.
Welche laß ich frei? („Allem verhaftet“)
Und:
Noch kann ich zurück
Aus meinen Vorsätzen
Noch spiele ich meine Roll
Kühl, mit großem Abstand
Noch stehe ich über dem Text
Noch ist mir die Maske nicht ins Fleisch gewachsen
Ich kann nicht mehr abtreten, aber ich habe viele Schlüsse
Meine Damen und Herren
Es ist vieles möglich
Ich kann mich verhüllen oder entblößen, wie Sie wollen
Ich kann auf den Haaren laufen oder noch besser
Auf zwei Beinen wie ein Clown
Entscheiden Sie sich
Noch kann ich meine Worte wenden
Noch kann ich meinen Mund umstülpen zur Trompete
Und Sie in meinem Blick halten wie in einem Strudel
Noch kann ich aus meiner Haut
Aber entscheiden Sie sich
Noch kann ich Ihnen dienen
Also äußern Sie Ihre intimen Wünsch
Sonst müßte ich Ihnen etwas vormachen
Sonst müßte ich mich festlegen auf mich
Sonst müßte ich auf meiner Stelle treten
In meiner letzten Rolle
Und mich einrollen
In diese bleierne Maske. („Meine Damen und Herren“)
Diese Gedichte, weder in Provokation für mich (1965) noch in Wir und nicht sie (1970) aufgenommen, jetzt zusammen mit dem kleinen Lied „Was uns aufhält“ fast am Schluß der Gruppe „1959–1964“ stehend, deuten sie auf einen Moment der Instabilität in der Entwicklung des Dichters Braun? Oder sind sie lediglich als provokante Rollentexte zu werten, als Hinweis darauf, daß sich hinter dem Rhinluchdichter noch ein anderer unbekannter und hintergründiger Volker Braun verbarg? – Eine derartige Frage läßt sich nicht aus den Gedichten Volker Brauns allein beantworten. Die „Lyrikwelle“ der ersten sechziger Jahre hatte die Kollektivität der Lyrik beträchtlich gefördert. Viele Gedichte unterschiedlicher Autoren waren ihrem Charakter nach Sprech-Gedichte. Sie bezogen ihre Wirkung direkt aus ihrer über das gesprochene Wort vollzogenen Kommunikativität. Das galt auch für die Gedichte Brauns. Für kompliziertere gedankliche Abläufe, in deren Innerem die Begriffe im dialektischen Widerspiel standen, war in diesen Gedichten noch nicht der Boden bereitet. Mit dem Abebben der „Lyrikwelle“ begann für viele Lyriker der DDR eine Phase selbstkritischer Überprüfung. Die zweiten Gedichtbände von Autoren wie Karl Mickel oder Sarah Kirsch bezeugten nachdrücklich eine höhere Reifestufe. Unübersehbar wurde auch, zu welchen Traditionen sich die Autoren bekannten: Die Wirkung Bobrowskis, Maurers, Arendts begann sich abzuzeichnen. Derartige Wirkungen waren natürlich – abgesehen von den Arbeiten schwächerer Epigonen – nicht eindeutig. Das Traditionsgefüge war komplex, oft kompliziert vermittelt. Bobrowskis und Arendts Aufnahme der Oden-Tradition Klopstocks und Hölderlins war nicht ohne Wirkung geblieben, gerade dann nicht, wenn die Autoren sich direkt auf das Original zurückwandten.
Bei Volker Braun zeitigte diese Rückwendung zweierlei: einmal die Möglichkeit, den sprachlichen Ausdruck einer höheren Reflexionsfähigkeit unterwerfen zu können; zum anderen die Weiterführung der thematischen Linie jener Gedichte, die die Umwandlung des „Landes“ zum Gegenstand hatten. – Die Gedichtgruppe „1965–1968“, die zweite des Reclam-Bandes, wird geradezu durch ein Konvolut von „Land“-Gedichten charakterisiert, durch Gedichte, in denen er die Auseinandersetzung mit der Problematik zweier deutscher Staaten weitertrieb. In Anlehnung an den Titel von Klopstocks antifeudaler vaterländischer Ode „Wir und sie“ beantwortete er die Frage nach seinem Standort als Deutscher. Dabei wurde das Problem an den Leser nicht mehr von außen herangetragen, indem dieser mit einem in sich abgeschlossenen, als vergangen vorgeführten Vorgang konfrontiert wurde, sondern die Auseinandersetzung fand im Gedicht statt. Der Leser wurde so zum teilnehmenden Subjekt der Auseinandersetzung. Das poetische Lob der DDR sollte nicht aus dem verbalen Lob dieses Landes schlechthin resultieren, sondern aus der Spezifik, mit der das Gedicht die Tatsache dieses Staates selbst bestätigen konnte.
Verfolgt man die in dieser Gedichtgruppe aufgebaute Linie durch die Gedichte „Die Grenze“, „Landgang“, „Der ferne Krieg“, „Landverweis“, „Das Vogtland“, „Der Bauplatz“, „Regierungserlaß“, „Das weite Feld“, „Prometheus“ und „Schöneweide“, erweist sich, daß Braun zu einem: Dichter geworden war, für den es eine Trennung zwischen lyrischer Subjektivität und politischem Gegenstand nicht mehr gab. –
Noch in den Gedichten des Jugendzyklus war es immer das Subjekt, das seinen Anspruch verkündete, indem es sich vor dem Hintergrund des Geschehens als Sprecher abhob. Jetzt ist für eine derartige Subjektivität kein Raum mehr. Die Erlebnisse der Bauplätze und Landschaften des Rhinluchs wurden gleichsam als Selbstgenuß des produktiven Menschen vorgeführt; nicht ohne „Behagen“ wurde von der Schlammschlacht erzählt, wurden Haltungen, die sowohl Produkt als produktiver Anspruch waren, vorgestellt. Politische Erfahrungen, die Hand in Hand gingen mit produktiven Zweifeln an der Wirksamkeit der poetischen Position einer vehementen Kritik an lokalen Unzulänglichkeiten, mögen die Entwicklung eines neuen Gedichttypus beschleunigt haben. Die Freiheit, die sich Braun mit seinem „Kommt uns nicht mit Fertigem!“ genommen hatte, erwies sich im Laufe der dramatischen gesellschaftlichen Prozesse als zu ungewichtig, um als poetische Position beibehalten werden zu können.
In „Landgang“ ist das Subjekt kaum noch betroffen von der heroischen Geste des Beginns der Vergesellschaftung. Bestimmend ist der Alltag mit seinen „täglichen Dienstwegen“, den „Schalterstunden / Am geheiligten Dienstag“, den „Bräuchen der Sozietät“. Auch die Landschaft erscheint nicht mehr im Licht des Anfangs, nicht mehr zu verändern durch „Handbagger“, eher indisponibel, einem Gesetz folgend, nach dem sich „Industrie auf Industrie“ aufeinander zubewegt, wo „Langsam wächst der Beton / Hell um das Eisen zwischen die Bäume ein“. Auch in „Das Vogtland“ beherrscht der industrielle Alltag die Szene:
Aus den Armen früh, Mann und Frau
Von Tisch und Bett weg schichtweis auf das Land
Auf schmalen Teerstraßen die Arbeiter, täglich…
Und noch das Prometheus-Motiv beginnt sich aus einer desolaten Situation zu entwickeln, aus einem „Weg, blinde Eröffnung, die unsre Städte / Beschlägt, süßer Dunst / Und unsre Felder jaucht / Mit Spülicht aus Kinos und Kneipen“. Das Ich erscheint fast unwesentlich gegenüber der Macht der Verhältnisse und Gewohnheiten. Braun will sein Ziel, die bessere Gegenwart und Zukunft, nicht über Hoffnungsbrücken erreichen: die Negation dessen, was vorgefunden und verbessert werden muß, erfolgt auch in der Auseinandersetzung mit „des Lands andern Teil“:
Andere sind weiter fortgelangt als ich
Bis in des Landes andern Teil.
An einem Morgen, nach den Abenden
Hatten sie ihre Suche nach ihrem Land
Schon aufgegeben. („Landgang“)
Oder das Gedicht öffnet den Ausblick auf eine keineswegs utopische Zukunft:
… bis wir an den Hebeln
Verharren jetzt und blicken hangab
Auf die falsche Last, und sehn
Unsre Aussicht ganz:
Wir leiten durch unsre Werkstatt
Einen Fluß von Bändern, der unsre Brocken trägt
Täglich, und ketten die Klitsche
An seinen Lauf durch das Land, schon
Im Talkessel verschmelzen hell die Fabriken
Und der Fleiß versetzt, schichtweis
Hinter denen das Land lag, die Berge. („Das Vogtland“)
Diese ständige Auseinandersetzung des Gedichts mit seinen Teilen schafft einen Binnenraum, in dem in den glücklichsten Stücken die Sprache selbst jene Bewegung stiftet, die Abbild der realen Bewegung ist.
Die von Braun in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gewonnenen Erfahrungen bilden jetzt die Basis seiner Poetik, die sich, begünstigt durch vergleichsweise kontinuierliche Publikationen – 1970 erschien der Band Wir und nicht sie, 1972 die Reclam-Sammlung Gedichte – auch theoretisch äußern konnte. In seinem Aufsatz „Politik und Poesie“ schreibt Braun:
Eine verlorene Partei führt den Kampf nicht mehr in ihrer Praxis weiter – sondern theoretisch. Als die moderne Poesie sprachlos wurde, wurde die moderne Theorie redselig. Wegen ihres Erschreckens vor den gesellschaftlichen Vorgängen mag sie sich Phänomene wie Politik und Poesie nicht vereinbaren, behauptet deren Unverträglichkeit und diffamiert entweder das eine oder das andere schlechthin.
Und:
Poesie entsteht nur aus einem produktiven Verhältnis, das sie ausdrückt (mag es ein zerstörerisches, verzweifeltes, fröhliches sein), der Dichter muß sich selbst einbringen, auch wenn er nicht von sich spricht. (Hervorhebung: H. C.)
Die Abgrenzung des Poetischen vom „Bereich der Deklamation“ (Braun) ist das große Problem, das die Dichtung unserer Zeit zu bewältigen hat. „Keiner der großen Dichter“, so fährt Braun fort, „der nicht zuzeiten in diesen Bereich geraten wäre.“ – Wenn er davon spricht, „Widersprüche als Vorgänge zu zeigen, wodurch das Gedicht etwas Antithetisches und Gespanntes bekommt und sich selbst zu neuen Sachverhalten durchkämpft“, so ist damit eine Methode bezeichnet, die gerade die Gedichte der letzten und der mittleren Periode betrifft. Nicht polare Gegensätze beherrschen dieses Dichten, wohl aber die Spannweite, die von proklamativen Texten wie „Regierungserlaß“ oder „Schauspiel“ bis zu „Landwüst“ oder „Engere Heimat, Rochwitz“ reicht. In dieser Spannweite finden sich nicht nur unterschiedliche Gedichttypen, die wiederum unterschiedliche Sprechweisen bedingen, sondern in ihr scheint auch alles auf eine Tendenz hinzuarbeiten, von der Braun sagt:
Das Gedicht hat jetzt für mich zu liefern die viel intimere persönliche Aussage und das Aussprechen eines Weltgefühls, das sich nicht an ein Land klammert, sondern sich viel mehr für das interessiert, was eigentlich die Leute aller Länder angebt.
Operatives und Intimes, Intimes und Öffentliches hatte in Brauns Lyrik von jeher seinen spezifischen Stellenwert. Auf eine eindeutige Scheidung dieser Elemente hat diese Lyrik nicht hingearbeitet. Was galt, war die Subjektivität, die sich des Gegenstandes bemächtigte. War diese Subjektivität in den frühen Gedichten noch eigenwillig, kontrolliert oft nur durch das gesellschaftliche Engagement und oft über ihr Ziel hinausschießend indem die aktivistische Geste das angesprochene Ziel ungehemmt überlief, so bildeten sich nach und nach in der Sublimierung von Gegenstand und Sprache jene parataktischen Strukturen aus, die in Anlehnung an Klassisches zu jenem Gedichttyp führten, der nicht die Reinheit und Ungeschiedenheit jener Elemente von Öffentlichkeit und Intimität hervorbrachte, wie sie mitunter der Theorie angemessen erscheinen mögen.
Mit der formalen Strenge, die der Odenform verpflichtet ist, übernahm Braun freilich auch eine Verpflichtung dergestalt, daß die Integrierung klassischer Elemente in Form und Ausdruck auch jene strenge Beherrschung des Gegenstandes verlangt, die sich, auf andere Weise als bei Klopstock oder Hölderlin selbstverständlich, ästhetisch gültig in sich bewähren mußte. Das Problem besteht freilich nicht darin, daß man, wie Friedrich Dieckmann in bezug auf Erich Arendt meinte (Sinn und Form 3/1972), nicht mehr Oden schreiben könne, „die sich auf den letzten Hölderlin berufen, wie auf eine Tradition“.
Brauns Gedicht „An Friedrich Hölderlin“ erinnert bewußt Hölderlins „Mein Eigentum“ und die Isaak von Sinclair gewidmete Ode „Der Rhein“:
Dein Eigentum auch, Bodenloser
Dein Asyl, das du bebautest
Mit schattenden Bäumen und Wein
ist volkseigen;
Und deine Hoffnung, gesiedelt
Gegen die geometrische Welt!
Aber die Früchte, wer soll sie
Die Fässer aussaufen, nehmen
Dieses dröhnende Feld?
Die eisernen Reifen, wie
Fallen sie von meiner Brust
Wenn sie sich weitet?
Nicht träge
Sind wir geboren, Mann, dein Gott in Stahl gehüllt
Geht unter den Werktätigen:
Bis doch zu eingeborenem Brauch
Wird, was uns guttut, und
Brust an Brust weitet sich so, daß sie aufgesprengt diese eiserne
Scheu voreinander!
Die Bedeutung dieses beziehungsreichen Textes für die Lyrik Volker Brauns ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Die Verbindung seiner Elemente zu dem, was man als „Aussage“ bezeichnen könnte, bezieht sich auch auf eine von Braun in diesem Zusammenhang (allerdings falsch) zitierte Stelle aus einem Brief Hölderlins vom 1. Januar 1799: „Aber die Besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt hübsch symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen. O Griechenland, mit deiner Genialität und deiner Frömmigkeit, wo bist du hingekommen?“ – Auch indirekte Beziehungen zu den Oden „Dichtermut“ und „Blödigkeit“ sind denkbar. Beide Oden reflektieren die Situation des in ängstlicher Zurückhaltung befangenen Dichters, dem durch die Ode Mut zugesprochen werden soll. Das Bestehen Hölderlins auf „seinem Eigentum“ enthalten die Strophen:
Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du,
aaBeglückender! mit sorgender Liebe mir
aaaaGepflegt, der Garten, wo ich, wandelnd
aaaaaaUnter den Blüten, den immerjungen
In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir
aaMit ihren Wellen allen die mächt’ge Zeit,
aaaaDie Wandelbare, fern rauscht und die
aaaaaaStillere Sonne mein Wirken fördert.
Was Braun unternimmt, ist der Versuch, den bei Hölderlin bestehenden Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit in die praktische Möglichkeit zu überführen. Brauns „Bis doch zu eingeborenem Brauch / Wird, was uns guttut, und / Brust an Brust weitet sich so, daß sie aufgesprengt diese eiserne / Scheu voreinander!“ ist insofern poetische Leistung im Sinne Hölderlins, als hier in der Aufnahme dieses Motivs eine Überführung in die Evokation der Gegenwart unternommen wird. Das Gedicht stellt der Sehnsucht Hölderlins nicht ein erreichtes Ziel gegenüber; auch wenn in der ersten Strophe bereits Erreichtes benannt wird, bedeutet das nicht, daß nichts mehr im Sinne Hölderlins zu leisten wäre. Die Verknüpfung des Ideals mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, eine Beziehung, die auch in Hölderlins Ode gegeben ist, erhält bei Braun einen Doppelsinn: Hölderlins wahres Eigentum, das „Asyl“, der „Gesang“, wird bei Braun gleichzeitig zum realen Boden, auf dem Bäume und Wein angebaut werden. Das Erreichte ist die Hoffnung Hölderlins, „gesiedelt / Gegen die geometrische Welt!“. – Gründet sich diese Hoffnung neu, auf „volkseigenem“ Boden, so setzt die zweite Strophe einen Kontrapunkt zu dieser gefestigten Hoffnung. Gemessen am hohen Ton, mit dem sich bei Hölderlin das Ideal verkörpert, streift die Frage Brauns das Banale. Aber gerade dieses „Banale“ erweist sich inhaltlich wesentlich: Nicht die Tatsache allein, daß die Möglichkeit gegeben ist, über das zu verfügen, was für Hölderlin nur im Bereich der Anschauung tatsächlich war, bestimmt über das Wesen dieser Möglichkeit. Diese Offenheit der zweiten Strophe sucht nach der Antwort auf die Frage, wer die Fässer aussaufen, das dröhnende Feld nehmen und wie die eisernen Reifen von der sich weitenden Brust fallen sollen. Anrufung und Aufforderung der dritten Strophe endlich nennen die Bedingungen, unter den das Ideal der sich selbst von den Zwängen der Bürgerlichkeit befreienden Gesellschaft erfüllt. In ihr vermittelt sich das Apodiktische früherer Gedichte mit den jetzt erreichten rekurrierenden Momenten. Der Rekurs richtet sich gegen einen oberflächlichen, das Ideal für den Zustand nehmenden Quietismus. Damit wird er zum Paradigma, das für Brauns produktives Verhältnis zur Gesellschaft spricht. Brauns Poesie leistet sich das Extra, von dem Brecht in den „Tagen der Kommune“ meinte, daß wir dafür leben, in ihrer über die Tagesfragen hinausweisenden Tendenz, die mit den Mitteln der Dichtung noch einmal verallgemeinert, was die Praxis des Marxismus auf die Tagesordnung gesetzt hat: die Vermenschlichung aller gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen.
Das „Nicht träge / Sind wir geboren, Mann, dein Gott in Stahl gehüllt / Geht unter den Werktätigen“, welches sich auf den Schluß der Rheinhymne bezieht, erscheint freilich in einem tieferen Sinn problematisch. Das auf den hohen Ton Hölderlins gestimmte Gedicht Brauns unternimmt zweimal den Versuch, die Beziehungen Hölderlins zu unserer Gesellschaft und Gegenwart zu aktualisieren. Die Einsprengungen des Adjektivs „volkseigen“ und des Substantivs pluralis „Werktätigen“ in der ersten bzw. dritten Strophe setzen Akzente, die in ihrer Beziehung zu Hölderlin nicht ohne Gewaltsamkeit sind. Hinzu kommt, daß die Anrufung Hölderlins „Nicht träge / Sind wir geboren, Mann…“ keinen unmittelbar logischen Bezug zum anschließenden Satzteil „dein Gott in Stahl gehüllt“ hat. Der in der Schlußstrophe der Rheinhymne erwähnte in Stahl gehüllte Gott ist zweifellos als eine transzendente Verkörperung der Revolution gedacht.
Pierre Berteaux nennt in seinem Aufsatz „Hölderlin und die Beziehungen der deutschen Intelligenz zum Jakobinertum“ (Sinn und Form 4/1970) ausdrücklich die Tatsache, daß es „schon von vornherein höchst umwahrscheinlich“ gewesen sei, „daß Hölderlin von dem Plan einer Revolutionierung Württembergs nichts gehört und ihm nicht begeistert zugestimmt hätte“. Daß Sinclair maßgeblich an der Vorbereitung dieser revolutionären Erhebung beteiligt gewesen war, gilt als sicher. Berteaux verweist auch darauf. Daß Hölderlin auf die Tatsache einer Verschwörung in der Rheinhymne unmittelbar anspielt, belegen die die Heimlichkeit des Ortes und der Gelegenheit betonenden Verse:
Dir mag auf heißem Pfade unter Tannen oder
Im Dunkel des Eichwalds gehüllt
In Stahl, mein Sinclair! Gott erscheinen…
Indem Braun aber diesen Gott in Stahl gehüllt unmittelbar als einen Gott Hölderlins identifiziert, der unter den Werktätigen geht – also den Rückbezug auf die Rheinhymne dergestalt vermeidet, daß er die Anrufung Hölderlins an Sinclair nicht aufnimmt –, macht diese Beziehung problematisch. Die Frage, ob eine derart unvermittelte Beziehung, wie sie hier zwischen dem Gott Sinclairs und der Gegenwart hergestellt wird, Hölderlin nicht Gewalt antut, muß offenbleiben. –
Die Geschiedenheit der Elemente des Gedichts „An Friedrich Hölderlin“ – Hölderlinscher Ton, indirektes und direktes Zitat, Gegenwartsbezug – entspricht der dichtungstheoretischen Konzeption Volker Brauns, die es nicht darauf angelegt hat, eine originäre, intentionelle Verschmelzung dieser Elemente herbeizuführen. Auch in dem Gedicht „Im Ilmtal“, dem Sylvia Schlenstedt eine ausführliche Analyse gewidmet hat (Weimarer Beiträge 10/1972), treffen wir auf eine Anlehnung an eine klassische Vorlage. Der Dialog, den dieses Gedicht mit Goethes „An den Mond“ in der Form von Beziehung und Abgrenzung führt, wirft freilich auch Probleme auf, die Brauns poetische Position direkt betreffen. Braun kümmert sich dabei wenig um eine Anlehnung an die lyrische Diktion des Goethe-Gedichts. Eine Strophe wie „In der gebauten Natur / Geh ich allein, und den Wald schüttelt er / Wie meine Fäuste möchten die steife Welt!“ zeigt sich wie auch das „Einmal lebte ich so“ eher der Sprache Hölderlins verpflichtet. Das „Fließe, fließe, lieber Fluß“ verwandelt Braun in das erstaunliche „Auf die Wiese schwärzer tritt, lieber Fluß“. Und in zwei der insgesamt zehn Strophen stellt sich ein unmittelbarer Bezug zur Tönung des Goethe-Gedichts her:
Und nicht langt mir, nicht ruhig
Macht nun der eine mich;
Nicht glücklich kann ich verschließen
Mich mit ihm vor der Welt.
(Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit ihm genießt,)
Und:
Und was ich beginne, mit ihnen
Bin ich erst ich
Und kann leben, und fühle wieder
Mich selber in meiner Brust.
(Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.)
Zweifellos: das Gedicht will eine Auseinandersetzung mit der Position Goethes. Der Maßstab, der angelegt wird, ist nicht der eines Goetheschen Natur- und Weltempfindens. Dennoch fällt es schwer, diesen zu vergessen. Brauns „Im Ilmtal“ nimmt neben dem Hölderlin-Gedicht deshalb eine bedeutende Stelle in seinem bisherigen Werk ein, weil sich in ihm ein Übergang vollzieht, der über das Verhältnis zur Tradition einen neuen Zugang zur Unmittelbarkeit erschließt. Die Begegnung mit dem Ort, der zum Lebenskreis Goethes gehörte, provoziert auch die Frage, was die Begegnung mit dem Elementaren der Natur in uns heute noch auszulösen vermag. Damit steht es an der Grenze zu einer „Naturlyrik“, die unter den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen bei zunehmender Entfremdung des Menschen vom Elementaren sich nicht mehr damit abfinden kann, die Natur rein phänomenal zu begreifen und ihre Zeichen zu deuten, wie es oft noch in spätbürgerlicher humanistischer Lyrik der Fall ist, so bei Wilhelm Lehmann oder in frühen Gedichten Günter Eichs.
Das Problem, daß es zu bezeichnen und einzugrenzen gilt, bezieht sich auf die Einschmelzung der gesellschaftlichen Erfahrung in die subjektive Sprechweise des sozialistischen Lyrikers. In einem Gedicht mit dem Titel „Schwellen“, in dem sich Braun mit einem Text des sowjetischen Dichters Mark Sergejew auseinandersetzt (nachzulesen in Wir und nicht sie, in den Reclam-Band nicht aufgenommen), wird der Versuch unternommen, die gesellschaftspolitische Seite dieser Erfahrung zu formulieren. Das Gedicht polemisiert gegen eine abstrakt-philanthropische Position, schwingt sich dann zu einer rigoristischen, diese Position verurteilenden Haltung auf, um schließlich im dritten Teil auf die Funktion der Poesie in der Gegenwart zu verweisen: „Wenn das aber gesagt ist / (Und es läßt sich leicht sagen) / Sollte man kein Lob mehr lügen / Diesen Millionen / Die stur wie die Natur / Dulden, im Dreck stolz / Auf den Stationen der rauhen Strecke.“ – Die in dieser Strophe implizierte Programmatik bedeutet, daß die „innerliche“ Subjektivität des Gedichtes von Mark Sergejew zugunsten einer auf das politische Bewußtsein der Massen wirkenden Lyrik aufgehoben werden muß. Brauns Gedicht beläßt es bei dieser Polemik und wirkt so als Anmerkung zu einer anderen poetischen Position der Zeit, die freilich zurückgewiesen wird. Es stellt sich damit selbst als einen Gedichttyp dar (und das ist seine zweite Funktion), dessen poetisches Material selbst einem anderen poetischen Text entnommen ist, diesen wendet und sich von ihm abgrenzt. Derartige „Anmerkungen zur Zeit“ finden sich bei Volker Braun nicht selten: „Gegenwart“; „Die Übersiedlung der Deutschen nach Dänemark“; „Verständigung“; „Der Notstand“; „Bleibendes“ u.a. Gedichte dieses Typs erfüllen bei ihm eine wichtige Funktion. Sie bilden die Basis, indem durch Verständigung und Selbstverständigung das politische Begreifen wichtiger Zeitprobleme vorbereitet wird, ohne das die großen Formen nicht möglich wären. Der Rang solcher Gedichte läßt sich vermutlich weniger nach der sprachlichen Nähe zu ihrem Gegenstand bestimmen als vielmehr durch die Präzision der gedanklichen Formulierung, die einen politischen Tatbestand aufdeckt, ihn preisgibt oder verteidigt.
Ein Gedicht wie „Bleibendes“, das diesem Typus zuzurechnen wäre, bezeichnet freilich die Schwierigkeiten, den allgemeinen Prozeß der Verwirklichung des Sozialismus in unserem Staat in der sprachlichen Besonderheit des Gedichts zu fassen. Das Gedicht, das in dialektischen Sprüngen den Prozeß der Sache zum Gegenstand macht, stößt sich ständig an den Grenzen, die dieser Gegenstand der Sprache auferlegt. Das Klischee drängt sich nicht so sehr dadurch in den Vordergrund, daß Braun hier mit Begriffen arbeitet, die an und für sich schon allgemein sind (Hallen, Maschinen, Bänder, Äcker, Kolonnen), als vielmehr dadurch, daß die poetischen Partikel des Gedichts innerhalb der Lyrik Brauns bereits durch vielfach erfolgte Projektionen klischeehaften Charakter angenommen haben. Das Gedicht ringt mit dem Klischee, ohne es zu besiegen. Das wird deutlich innerhalb der dritten Strophe, in der Begriff und Gegenbegriff aufeinanderprallen:
Wir sagen: die Zeit ist da! wir sagen: sie beginnt erst.
Wir versprechen uns nicht goldne Berge. Wir versprechen uns goldne Berge.
Wir richten uns häuslich ein, auf dem Sprungbrett, das federnd bebt
Und kauern im Startloch, jubelnd wie hinter dem Ziel
Wir sagen: so bleibe es. Wir sagen: nichts bleibt.
Auch der Schluß überholt nicht, was schon einmal gesagt worden ist: die Wendungen früherer Gedichte. Daß Braun bewußt an diese anknüpft, darf als sicher gelten; aber die Formulierung „… uns bleibt / Immer der Kampf: und es bleibt die Zeit des Volks“ bleibt in ihrem losungshaften Charakter hinter dem poetischen und politischen Ziel sprachlich zurück. Dort dagegen, wo Braun den Zusammenfall von politischer Thematik und poetischem Gegenstand unmittelbar erlebt, in Gedichten wie „Gdánsk“ oder „Landwüst“, dringt er zu jener dem Gegenstand entsprechenden Sprechweise vor, die das Gedicht zum Erlebnis werden läßt. –
In dem Gedicht „Landwüst“ wird die Natur als Gegenstand unablässiger Auseinandersetzung des Menschen mit ihr begriffen. „Landwüst“ ist der Ortsname eines bei Adorf im Vogtland gelegenen Dorfes. Der Name selbst verweist auf den Begriff „Wüstung“, der durch Kriege oder Seuchen entvölkerte Dörfer und Fluren kennzeichnete, wie sie in Sachsen häufig vorkommen. – Aber nicht nur die geschichtliche Vergangenheit dieses für Braun als Vorgeschichte seiner Familie wichtigen Fleckens schafft die Bestimmtheit, mit der das Gedicht den Naturraum als Raum menschlicher Geschichte eingrenzt. Auch die Natur, die ihn mit „grüner Schlinge“ anzieht, erhält ihr Gleichgewicht, in dem sich ein gegenseitiges Durchdringen von Landschaft und Menschen abzeichnet. Die poetische Konkretheit ersteht aus der Benennung erlebter Details, deren Weiterung ungewaltsam aus deren Bedeutungen erwächst:
Fingerhut
Welch blutiges Rot! Den barten Zügen
Folge ich, in der Gegend herum, Haufen
Leichnamen der geschlachteten Bauern
Eisern noch
Strahlt der Morgenstern hier. Und ungestalt
Scheint alles Leben, wild
Und unbetreten die Tage.
Und noch etwas macht dieses Gedicht bedeutsam: Es steht in einem indirekten Dialog mit Wulf Kirstens der Topographie folgenden Lyrik: „Ich, der Nachfahr / Lauf über die grauen Entwürfe / ohne Geduld. Langsam / Steigen die Stallungen herauf / Zu den Burgen der Silos, Traktoren / Traben unter den Peitschenlampen. / Ich geb, in diesem Dorf / Mit zureichendem Grund / Aus mir heraus.“ – War Kirstens Lyrik in ihren Anfängen unverkennbar der Aktivität Brauns stark verpflichtet, so zeigt sich jetzt, daß auch Braun in der Aufnahme einer aufs Topographische gerichteten Lyrik von Kirsten profitiert zu haben scheint. Dies, so meine ich, ist ein Vorgang, der für die Dichte und den Beziehungsreichtum unserer Lyrik spricht. Brauns „Landwüst“ wird durch eine derartige Beziehung in seiner Selbständigkeit nicht berührt. Nicht die „innerlyrische Debatte“, wohl aber das Auffächern der Beziehungen, die zwischen der Lyrik und den Lyrikern bestehen, schafft jenen Gesprächsraum, den wir brauchen. –
In den Gedichten Volker Brauns, der sich in der Sammlung Gedichte noch immer als einer der wesentlichsten Vertreter seiner Generation präsentiert, zeigt sich, wie produktiv die sechziger Jahre für die Lyrik der DDR gewesen sind. Erschien Braun zu Beginn seiner Laufbahn in der öffentlichen Rezeption wie ein Stern auf einsamer Höhe, so mochte man sich mitunter fragen, ob er diese Höhe zu halten vermochte. Jetzt bestätigt sich, daß seine Grundposition offen und weit genug war, um inhaltlichen und gestischen Wandlungen gewachsen zu sein. Die vehemente Aktivität seiner frühen Gedichte ist einer mehr und mehr nachdenklicheren Sicht gewichen. Späte Gedichte zeugen von dem, was man Reife nennt. Aber diese Reife hat nichts von einem selbstzufriedenen und gesättigten Abgeklärtsein, das der Erfolg hätte provozieren können. Brauns Gedichte machen deutlich, daß der Dichter den wachsenden Ansprüchen der Zeit vorangehen muß, wenn er der Zeit gewachsen sein will. Die unmittelbare Anteilnahme an dem, was wirklich ist, steht der aufklärerischen Position eines Dichters, dessen Entwicklung ohne die Wirklichkeit unserer Gesellschaft undenkbar wäre, nicht gegenüber, sondern beide durchdringen sich, wieder zur Wirklichkeit werdend, im Gedicht. Das bezeugt ein Text wie „Engere Heimat, Rochwitz“, der hier am Schluß vollständig zitiert zu werden verdient:
Der Asphalt jetzt, zerfallen
Im dunklen Feld. Die Kirschbäume
Klein und zerknittert.
Der Fernsehturm mit hellen
Lichtern breitet das Vaterland
Die violetten
Streifen am Himmel Brücken
Über alten Dächern!
Den Geruch der Felder
Hole ich hastig ein
Vergängliches Andenken.
In der Tür lehnt die Mutter
Und lebt.
Heinz Czechowski, Sinn und Form, Heft 8, 1973
Aber Marx wußte was er sagte, was weiß ich?
In diesem neunzehnten Jahrhundert, voll
Von nackten Tatsachen, und keine Kunst
Die sie auffraß, sah man noch durch
Auf den Tag, an dem die Ketten reißen.
Was immer kommen mußte, schrecklicher
So rettender wars. Das hätte schwächeres Fleisch
Befeuert fortzudenken. Die große
Gewißheit der Klassiker und die langen
Gesichter der Nachwelt. Wohin soll ich denken?
Nach vorn immer durch den Vorhang von Blut
Der Blick auf die Kulissen und nicht hinter.
So viele Kunst und hat nichts zu bedeuten.
In der Vorstellung verbrauchen sich die Köpfe.
Was immer kommt ist besserschlechter oder als.
Was mir die Augen, öffnet nicht die Lippen.
Volker Braun: „Rechtfertigung des Philosophen“
Die sichtbaren Veränderungen, die nicht nur im Tonfall der Gedichte sondern im Denken der Dichter vor sich gegangen sind – eine grassierende Desillusionierung der Vorstellung von Wirklichkeit und Geschichte in den Köpfen der Zeitgenossen – Volker Brauns Gedichte aus den letzten Jahren zeigen sie wie eine transparente Folie: Verse disparater Gedanken, Verse gebrochener Gefühle und betroffener Zäsuren: „Was mir die Augen, öffnet nicht die Lippen…“. – Suchten andere Autoren das allgemeine gesellschaftliche Dilemma in der Parabel zu treffen, Metaphern der Bitterkeit, berechtigter Enttäuschungen, demonstrativer Aversion oder resignativer Mahnung, ging Braun das Übel konkret an, stellte sich, stellte sich in Frage, streitbar und damit angreifbar. Sagten andere: „Nein“, sagte er „Ja, aber“. Einseitigkeiten sollten seine Sache nicht sein, zumindest möchte er sie, soweit es von ihm abhängt, zu seiner Sache nicht machen, selbst nicht in einer Zeit, die außer schwarz und weiß keine Farben gelten lassen will:
Womöglich war es mein Fehler
daß ich mich nicht entschloß
in Schwarz zu gehn oder ganz in Weiß
zu den vorgeschriebenen Stunden
Weder Resignation noch Ressentiment scheinen ihm jetzt angemessen, weder lange genug geübte Zusage noch trotzige Absage, wie wir sie nicht selten lesen. Nur der Vers geht ihm nicht mehr glatt von der Zunge, der fällt, sich selbst unterbrechend, ständig mit wenn und aber ins gültige Wort; schwierige Selbstbehauptung hält ihn lebendig, Leben, das durch Widerrede und Zweifel sein tägliches Recht fordert. Er liest wieder in den Briefen Georg Büchners:
Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter…
und er kommentiert:
Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine.
Hier schreit eure Wünsche aus: Empfang beim Leben…
Der jugendliche Elan, den man emotional-ungestüm und messianisch die Versperioden vorantreiben sah, dieser Elan ist jedoch längst einer nachdenklich-stockenden Nüchternheit gewichen, die sich nur hartnäckig an einen Satz, wie den historischen von Thomas Müntzer, als noch mögliche Zuflucht hält: „Ich kann es nicht anders machen“ (wer hätte nicht dazu gleich den Satz von Müntzers Gegenspieler Luther: „Hier stehe ich…“ parat?) Von „experimentieren“, gar von „herrschen“ kann die Rede da nicht mehr sein, nicht von Wünschen oder selbst von „allgemeinen Erwartungen.“ Bleiben nur Stufen der Erfahrung:
Um nicht zu stolpern, falln den Hals zu brechen
Hinab und hinauf, die Knochen schneller
Als der Verstand, oder viel verstehend
Hocke ich da, lachend über die Gangart
Der Mitbürger auf demselben Terrain
Das sie trickreich bewohnen. Was zum Teufel
Kratzt mich untern Sohlen auf dem Marsch
Ins Morgen. Gestern wußt ichs aber heute
Muß ichs lernen. Stufen…
Diese Stufen gehts mühsam, manchmal holpernd hinauf oder auch wieder hinab wie im Gleichnis vom Besteigen hoher Berge, und die einstige Verheißung ist nur noch ein „geflügelter Satz“:
Wir, die wir einst nichts zu verlieren hatten
Als unsere Ketten, aber eine Welt zu gewinnen
Fragen uns nun erbittert:
Was haben wir gewonnen?
Was ist das für eine Welt?
Solche Fragen, grundsätzlich gestellt, nicht Äußerungen gekränkten zeitweiligen Unmuts oder achselzuckender Abkehr, können so absolut nicht mehr beantwortet werden, schon gar nicht mit formelhaften Argumenten, ideologischen Sprüchen, selbstermutigenden Slogans, wie sie auch Braun einst gern hatte. Das selbstgemute „Wir“ früherer Gewißheit spricht sich im monologisch abwägenden oder den Dialog mit einem Adressaten suchenden Vers vorsichtiger als „ich“ aus, ein Ich, das sich allerdings nicht außerhalb von Gesellschaft sieht, im Gegenteil. Je mehr es sich zur Gesellschaft kritisch stellt, ihr nur umso peinigender verbunden und verkettet ist es:
Ich den alles trifft und der alles vergißt
Ich begegnete mir in der erregten Menge…
Ich der alles trifft und den alles vergißt
Mit dieser offenen Wunde in den Gedanken.
Dieses Ich verleiht sich selbst ein Statut seiner Dauer und Hinfälligkeit, und das Statut gleicht allen zeitlich beschränkten Statuten von Organisationen oder Parteien – es vergeht mit ihren Zwecken. Brauns Gedichte sind jetzt weder aufrufend noch meditierend, weder traurig noch optimistisch, weder linientreu noch revisionistisch – sie stehen jenseits solcher beschränkten Kategorien.
Manche werden über den Autor den Kopf schütteln, daß er sich noch immer oder noch immer wieder mit den „brennenden Fragen unsrer Bewegung“ (Lenin) herumschlägt, andere werden ihn – wie immer – verdächtigen, daß er es auf diese freimütige, direkte Weise tut. Daß er für seine Vorstöße Rückschläge in Kauf nimmt, taktische Rücksichten, Rückzüge, die nicht elegant aussehen, wenn er noch eben radikal vorgebrachte Schlüsse wiederum zur Position stellt – wer wirft auf ihn den ersten Stein?
Brauns Gedicht entsagt der geschlossenen Form, sein Sprecher verweigert sich der Lockung ins metaphorische Alibi – er kann sich aus den anstehenden Konflikten nicht heraushalten bei Strafe seines Talents, das Gedicht ist ihm „Material“ für den „Stoff zum Leben“, so nennt er einen Zyklus, geschrieben 1975/76, in welchem die Verse selbst in die erregte Debatte eintreten, in lyrische Prosa, in den dramatischen Dialog – es ist vielleicht das elementarste Stück seiner Dichtung überhaupt, ein mit bohrender Selbstbefragung vehement vorgetragener Text, der eben aus den bisher geübten Formen gerät. Klassische Zitate sind dem Text einmontiert, auf Zitate wird mit tatsächlicher Erfahrung allergisch reagiert. „Material II: Brennende Fragen“:
Früh um fünf im Train Bleu
Zwischen den schwarzen leeren europäischen Hügeln
Der Mann und die Frau, seine Hand an ihrem Leib.
Die Dämmerung rollt in die nassen Wiesen
Ihre Körper gleiten auf den Schienen nebeneinander
Und berühren sich auf dem Schotter der Masten
Plastikmüll quietschende Bremsen (was brauche ich)
An Stoff für dieses berührende Gedicht?)
Fahl ein Streif fließt in ihren Augen und wächst
Nach oben, sie wirft sich zurück
Ins Polster gepreßt, seine Hand noch immer
Oder ein Bach aus der Landschaft springt über Geröll
…
Mit zuen Augen, die schöne Bourgogne:
Durch die Scheiben fällt Wasser durchsichtig grau
Mit Muscheln und Kies, ein sinnliches Meer
Von Dächern und Fensterflügeln, in die Sonne bricht
Unvermutet. Die Bäume und Stangen
Greifen in ihre Brüste in ihren Schoß
Während Frankreich verschwimmt, oder wie hieß das Land?
Felder von durchdringendem Licht und sieben Himmel
Vor den Augen nichts, aber das alles in ihr
Rast durch sie, sie krümmt sich, sie schluchzt
Sie öffnet die Augen um acht auf die fremde
Stadt: unter den Gleisen rasselnd. Was hat sie gesehn
Von der Landschaft? nichts (aber was sah sie denn?
Was ist ein Gedicht: auf dem weißen internationalen
Papier, ein Stoff
Zum Leben?) sie lächelt hinaus…
Was fühlst du
in der Umarmung?
Die nackten Tatsachen Für einen Kuß
In der ,Stunde der Politik‘ (,des Weltfriedens‘, ,der Klassik‘)
Die Intensivschicht
aaaaaaaaaaaaaaaain der Mundhöhle, die Stellungnahme
(Du bist blaß, Luise?
Es ist nichts. Du bist ja da. Es ist vorüber.)
Mit der Zunge
aaaaaaaaaaadas Geschlecht streicheln, die Berichte
Das Kollektiv
aaaaaaaaaaaeine bleibende Empfindung
,Du bist nicht bei der Sache‘ – ,Wo du dauernd quatscht‘
(Willst du mir ein Glas Limonade zurecht machen.)
EVP –, 53, Flaschenpfand, Plandiskussion
Im offenen Fenster die Abgase, die brennden
Fragen
in deinen Augen, und die Fernsehscheiße!
,Mußtn immer was aussetzen‘. – ,Hatn angefang!‘
,Ich habs satt wenns kein Spaß macht‘ – ,Denkst wohl mir‘.
,Wenn du mir nie zuhörst‘. – ,Immer dein Mist‘.
,Du liebst mich nicht‘.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaes folgen die Spätnachrichten.
(Die Limonade ist matt wie deine Seele – Versuche!
Wendet sich, sobald sie das Glas an den Mund setzt, mit einer
plötzlichen Erblassung weg und eilt nach dem hintersten
Winkel des Zimmers.)
,Dann geh ich ebn fremd‘ – ,Ich halt dich nicht!‘
(Die Limonade ist gut.)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Worte Schwanz, Brust etc.
Überhaupt Worte (Reizwörter, Sprach-
Regelungen, Memoranden zwischen den Zeilen
Zu entziffern) haben mehr Wirkung
Als die Dinge
aaaaaaaaaaawarum? weil sie verdecken
Verallgemeinern, vervielfältigen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaweil sie verdecken was fehlt
Was fühlst du? So vieles geschieht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu zweit
Ist die Welt am deutlichsten, unausweichlich
(Wenn du meinst was ich meine). (So meine ich es doch nicht.)
…
Schluß! sage ich, um bei der Sache zu bleiben
In diesem Gedicht im kühlen Abend
aaaaaaaaaruhen, auf den Rückenwirbeln
Auf dem Bett, in der Mundhöhle
In den Möglichkeiten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaim offenen Fenster
So vieles geschieht! Schluß!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund das Einsundalles
Ist nichts ohne das andre
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKannst du nicht schweigen?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas fehlt, das Ganze
Das zwischen uns liegt (was fühlst du jetzt?
Ich kann es nicht sagen.)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas Gerücht der Gedichte
Im offenen Fenster
aaaaaaaaaaaaaaaarußig, undeutlich
Erheben sich die Fragen
In Zeitungspapier gewickelt, namenlos
Ist das die Möglichkeit?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie brennenden Fragen
Unsrer Bewegung
aaaaaaaaaaaaaaaauf dem Bett, auf dem Materialsektor
Undeutlich, unglänzend durch Anwesenheit
In deinen Augen in den Worten
aaaaaaaaadie ich darüber verliere.
Diesem Zyklus „Der Stoff zum Leben“; sind als Motto Verse aus T.S. Eliots The Wast Land vorangestellt – nach den hierzulande üblichen Attacken gegen diesen als dekadent verschrieenen Apologeten des Spätbürgertums allein schon eine Blasphemie. Und blasphemisch geht Braun hier generell seinem Stoff zu Leibe, travestiert im 1. Material Goethes berühmte Zeile „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“ nicht nur durch poetische Brechungen, sondern indem er sie strikt durch die eigene Daseinssituation in Frage stellt: wie im Zeitraffer wechseln Szenen, Gespräche, Kommentar und Zitat, sinnlicher Akt mit abstrakter Reflektion, um die brennenden Fragen der Zeit in ihrer Bewegung zu erfassen.
Solchen Situationslyrismen werden historische Begebenheiten entgegengesetzt, Material gibt am Beispiel Che Guevaras die tödliche Problematik aktueller Historie.
„Die Suche nach dem Stoff (zum Schreiben, zum Leben), um gegebenenfalls den Tod zu finden“ – sie wird selbst Struktur dieser Texte, um die „Mechanismen des Zeitalters auseinanderzuschrauben, die Beziehungen zu zerfasern nach dem geheimen Blut der Geschichte.“ Wir können hier nur Fragment-Zitate für einen großen Zusammenhang geben. – Im prosaischen „Höhlengleichnis“ schließlich stoßen wir im Schlußsatz auf das Motiv, das seinem neuen Gedichtband den Titel gibt:
Aber in dieser Zeit begann ein neues härteres Training, des schmerzhaften und wunderbaren aufrechten Gangs.
Dieser Satz zielt auf einen wichtigen kritischen Aspekt. Ernst Bloch, bei dem Bild und Begriff vom aufrechten Gang philosophisch interpretiert werden – er erscheint schon in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte“ – entwickelt ihn bei Betrachtung des Naturrechts und gibt ihm eine utopische Größe. Bloch sagte 1965 in einem Interview dazu:
… daß das Naturrecht, das Recht auf menschliche Würde, vom Bürgertum in der Aufklärung ausgebildet, nicht in den Marxismus hineingekommen ist. Die sozialen Utopien betrachtet Engels als Vorstufen zum wissenschaftlichen Sozialismus, das Naturrecht dagegen, das (…) die kämpferische Ideologie für die Herbeiführung und Ermöglichung von aufrechtem Gang ist, das ist nicht aufgenommen worden (…) Die Abschaffung des Zustandes, in dem es Mühselige und Beladene gibt, das ist das Thema der sozialen Utopien gewesen, dann das Thema des wissenschaftlichen Sozialismus. Dagegen die Abschaffung des Zustandes, in dem es Erniedrigte und Beleidigte gibt (was eine ganz andere, nicht ursächlich getrennte, aber doch andere Sphäre darstellt), diese Art Abschaffung ist nicht theoretisch vom Marxismus durchdacht worden. Infolgedessen haben wir heute praktischen Anschauungsunterricht schrecklicher Art, daß die bloße Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht die Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums in Gang setzt (…) Die staatskritischen Prämissen (…) – dieses: Wie rette ich den einzelnen Menschen vor dem Staat? sind nicht zu Ende gedacht worden (…) Also das Subjektive nicht als ein Ersatz für die materiellen gesellschaftlichen Kräfte, sondern als der zweite Akt, der zugleich im ersten Akt, in der ökonomischen Bewegung mit enthalten ist, damit das Leben gesellschaftlich in Ordnung kommt und es nicht zwei Arten von Menschen gibt, Herren und Knechte…
– Volker Braun, „Ist es zu früh. Ist es zu spät“:
Der Sommer ist vor der Tür.
Die hellere Zeit. Und starr noch
Blüht alles, die Gedanken. Wie wenig frei
Gehn wir aus uns, und hängen
In unsern Häusern. Und was sind das für Genossen
Ungleich selbst, und dulden die Räubereien
Hinter den Meeren
Oder Preußens Pfützen…
Ist es zu früh. Ist es zu spät.
Ein Loch brechen in die Reden
Und sehn, wie wir uns selbst
Zu gemalten Männlein machen. Unter die alten
Töpfe schmeißen, aus denen wir ewig
Fressen, daß wir nicht reif sein
Uns zu geniessen. Das Freudigste
Im Zorn sagen
Um bei Sinnen zu bleiben.
Ich kann es nicht anders machen.
Braun hat diese selbstkritischen Erwägungen Thomas Müntzer gewidmet, weil ihm die Historie ständig Muster für die eigene prekäre Lage zu bieten scheint. Er notiert beim Lesen der Briefe Georg Büchners:
Wir ehren Müntzer, wir ehren Heine, wir ehren Lenin und wissen kaum, von wem wir reden. Diese Leute, gestehn wirs nur ein, sind noch immer kaum zitierbar (…) Müntzer: Sein Prager Manifest ist nicht so gänzlich verjährt; wie unsere Umarmung glauben machen will; man stelle den Mann nur auf die Bühne mit seiner ,ausgedrückten Entblößung‘, und er wird abgesetzt werden vor der ersten Vorstellung. Lenin: Das bloße Hersagen seiner Aprilthesen eine Provokation, das Aufzählen der Mitglieder seines Politbüros ein diplomatischer Skandal. Und das schreibe ich im sozialistischen Preußen und Sachsen; im kapitalistischen Hessen oder Bayern sind das noch Unpersonen (…) Wahrlich, die Losung der Ulbrichtzeit hat ihren Sinn: wir haben diese Leute überholt, ohne sie einzuholen.
Wer so spricht weiß, daß eine deckungsgleiche Identität des Verses mit der wirklichen Gefühls- und Bewußtseinslage nur annäherungsweise zu erreichen ist, wenn Alternativen in der Realität fehlen.
Welche Verwüstung, welche Erbauung
in meinem beliebigen Kopf…
Und dieser Kopf, ist durchaus nicht beliebig, sondern nur wie jeder andere den oft sich selbst widersprechenden Widersprüchen ausgesetzt, auf denen er eigenwillig beharrt gegen die übliche verbreitete herrschende „im Kopf wohlgeordnete Welt“.
Wie mich dieses beliebige Jahr
getötet hat und belebt
Und entwaffnet bis an die Zähne…
Wie sie verkommen ist meine Freude
Erstochen von blanken Worten
Und wie sie überlebt wie eine zähe Katze
Überlebt und vor die Hunde geht
Und immer noch in mir zappelt…
Womöglich war es mein Fehler
Daß ich mich nicht entschloß
In Schwarz zu gehn oder ganz in Weiß
Zu den vorgeschriebenen Stunden.
Ich denke, wir gehören zu einer aussterbenden Art
Die es verlernt hat, sich gelten zu lassen
Und fröhlich fröhlich zu sein
Oder traurig
Und ich bin ein beliebiger Mensch und nicht zwei
Und dies zerreißt mich
Und das ist mein Fehler.
Sicher: Dieser beliebige Mensch ist nicht auswechselbar, wie ein beliebiges Jahr kein x-beliebiges ist, sondern wie die Vorkommnisse konkret; Vorkommnisse, die sich allerdings mit ihren harten Konflikten zwischen denkendem Individuum und funktionaler Gewalt auch in der sozialistischen Gesellschaft zäh wiederholen: Der Mangel an real existierender Freude. Volker Brauns Gedicht „Der Müggelsee“ jedenfalls, das ein bekanntes Muster aufnimmt und gleichzeitig zerstört, ist unschwer nach den Ereignissen vom November 1976 zu datieren, die nicht nur Freunde auseinanderrissen:
Aber am schönsten ist
Von des schimmernden Sees Traubengestaden her
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain der Zeit Wirre
Die die Freunde verstreut roh
Vom Herzen mir, eins zu sein
Mit seinem Land, und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGedacht
Mit Freunden voll das Schiff, fahre ich
Fort in dem Text, den der Ältere
Verlauten ließ, an einen anderen Punkt.
aaaaaaaaaaaaUnd auf den Bänken Bernd
Still lächelnd, Reiner, geblecktes Gebiß
Wolf schreind ein freches Lied
Und wir säßen im selben Boot
Auf der selben Welle noch, vor welchem Ufer
Ist mir egal und sei es getrockneter
Mist in Preußen, du kämest, Freude
Volles Maß auf uns herab!
Aber ich fahre hin, an den dunkleren Punkt
Der Geschichte, der ein froh Gesicht
Verzieht zur Fresse, und die beschämend
Schöne Natur geschenkt
aaaaaaaaaaaaaund Sarah vom siebzehnten Stock
Stürzt über die Mauer, ihr Liebes-
lied voll Raben! Raben!
Schwarz, unter Wasser.
Geblähte Fahnen. Aber aus dem Kahn
Kippen sie, die der Kurs fremd
Ankommt, oder von sturen
Schlägen gewippt in die Brühe.
Fröhliches Wasser
aaaaaaaaaaaaUnd sie gehen unter
Aus dem freudigen Text in den bitteren hier
Den ich knurre, ein Gram
Nicht des Schweißes wert.
Klopstocks Ode „Der Zürchersee“ von 1750 gilt als Beispiel der Hymne auf Natur und Freundschaft, mit der sich einst bürgerliches Selbstbewußtsein im Vorfeld künftiger Revolution im Gesange freispricht, der „Freude volles Maß“ in neuer Sprache zu feiern. „Schön ist, Mutter Natur, deiner Schöpfung Pracht…“: die Zeile steht am Beginn einer Epoche deutscher Lyrik. Klopstock beschreibt eine Fahrt auf dem Zürchersee, im Boot die Freunde, die bei Namen genannt werden, die Lieder der nicht anwesenden Freunde singend, und die Göttin Freude selbst ist mit ihnen – Freude, die Schwester der Menschlichkeit. Unsterblichkeit aber ist die Sehnsucht der Fahrenden – ein großer Gedanke, des Schweißes der Edlen wert, wenn ihre Lieder – wie es ja nun eingetroffen ist noch von den Enkeln gekannt werden:
O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns!
Ewig wohnten wir hier…
Braun, dem Nachgeborenen am märkischen Müggelsee, der sich der Ode Klopstocks erinnert, sind freilich solche wohl gefügten Zeilen heute verwehrt. Die Fahrt mit den Freunden im Boot – er nennt sie, wie Klopstock einst, bei Namen – ist nur noch eine Fahrt, gedacht in der Phantasie. Nah sind sie ihm nur noch in diesem bitteren Text, der oft mitten in der Zeile jäh abbricht – „verstreut roh vom Herzen mir“, die Freunde Bernd Jentzsch, Reiner Kunze, Wolf Biermann – von gemeinsamer Fahrt und Freude ausgeschlossen. Brauns Verse, von Klopstock vorgegeben, vorgegeben ihr harmonisches Maß, stocken mitten im Takt:
Aber am schönsten ist
… eins zu sein
Mit seinem Land, und
Der Hymnus auf die schöne Natur ist nicht möglich, Harmonie von Umwelt und Bewohnern gestört, Freundschaft nicht realisierbar mehr, sondern Vision. Gesang bitterer Text, nicht des Schweißes wert. Und aus der Unmöglichkeit der vollkommenen Ode, aus der schroffen Absage, entsteht ein anderes Gedicht, das uns nun durch diese Verstörung berührt: Freundschaft dauert im gebrochenen Vers.
Wie hieß es doch: „Was mir die Augen, öffnet nicht die Lippen“. Was ihn sprechen läßt, ist mit Händen nicht mehr zu greifen, das Gedicht ist Instrument der Utopie. Einer Utopie freilich, die nicht frei in der Luft schwebt, sondern sich auf die Kenntnis historischer Entwicklungen beruft. Braun notiert bei der Lektüre von Briefen Georg Büchners:
Ich studierte die Geschichte der Oktoberrevolution und watete durch das Blut der dreißiger Jahre. Ich sah mich gegen eine Wand von Bajonetten wandern. Ich spürte die Tinte der Lügen brennend auf meiner Haut (…) Die Fragen zu fragen, gestern tödlich, heute ein Schnee. Der Gesamtplan der Wirtschaft, das Tempo der Industrialisierung, der Sozialismus in einem Land: „die Partei ist kein Debattierklub“ – aber die Geschichte diskutiert die Fragen zuende. Viele Verräter von einst wortlos rehabilitiert durch den Gang der Dinge. Ein Gang blutig, hart, irrational: solange wir geduckt gehn, blind, unserer Schritte nicht mächtig. Die sinnlosen Opfer, weil wir die Gangart nicht beherrschen (es gibt notwendige Opfer), „Personenkult“, die feige Ausrede, die alles erklären soll, ein Augenauswischen. Statt einzuhalten im fahrlässigen Marsch, das Gelände wahrzunehmen, die Bewegung zu trainieren. Das Training des aufrechten Gangs.
Aus solchen Erwägungen beziehen Brauns neue Verse ihre unbequeme Dialektik – Dialektik, von der man so viel redet, und die doch so schnell ideologisch-positivistisch-pragmatisch-dogmatisch-realitätsfremd beiseitekritisiert wird, ihr Sprecher ein Abweichler, auf den man mit Fingern zeigt, wie der historische und deshalb aktuelle Ketzer Bruno:
Schwieriger Umgang mit dem Abweichler
Es hilft nicht, die Instrumente zu zeigen:
Er hat sie beschrieben.
Er beharrt, auf seinem feindlichen Standpunkt
Daß sich die Erde bewegt
Die Vernehmer glauben sich zu verhören
Im Knast agitiert er die Mönche
Als wüßten sie nicht wo Gott wohnt
Die Folter verfängt nicht: er singt ein Tedeum
Wohin mit ihm? die Hölle nimmt ihn nicht auf
Verbrennen wäre die Lösung, doch die ist nicht neu.
Brauns Gedichte sprechen eine deutliche Sprache, die aber unsere Deutung verlangt, das heißt unsere Mitsprache, denn darauf ist er aus. Er, den alles trifft und der es ablehnt, die verordnete Miene zu tragen zu den vorgeschriebenen Stunden, er, der auf die Geräusche seines Landes hört wie auf den eigenen Schrei, in die eigene Stille, ein beliebiger Mensch, mit uns vertrauten Ängsten und Hoffnungen, ein Dichter, der gesteht:
Ich sehe alles ein. Ich lebe gern.
Arbeite esse rede. Aber was
Ist das woran mein Kopf stößt…
Ein beliebiger Mensch, der sich selbst eine Satzung zu geben sucht, seine Irrtümer zu begründen, diese Arbeit, die ihn zerreißt, der Prozeß dauert an.
Ich bewege mich auf dem Boden der Gesetze
Gewiß doch, ihr Lieben!
Meines Herzens, das in jedem Körper schlägt
Legal und zerstörerisch, unzüchtig und sanft.
Ich vereinige die wirkliche Sehnsucht
Und die wirklichen Küsse
Die Verzweiflung und die Detonationen
Der Sinne.
Vor allem aber, entgegen dem äußeren Anschein
Versammle ich in mir
Die Freude, den unbedenklichen Stolz
Das Aufatmen bei der Ankunft
Der Wahrheit.
Sehr ihr, ich kann nicht reden von dem
Was ich schon weiß: nur von dem was ich entdecke…
Wie heißt es doch in Ernst Blochs Schrift „Naturrecht und menschliche Würde“ am Schluß:
Der rote Glaube war immer mehr als Privatsache, es gibt ein Grundrecht auf Gemeinde, auf Humanismus, auch politisch und im Zweck. Dazu war das fordernde Recht unterwegs. Die Eunomie des aufrechten Gangs in Gemeinsamkeit; nicht nur der Kunst ist der Menschheit Würde in die Hand gegeben.
Auch davon sprechen die Gedichte Volker Brauns.
Gerhard Wolf, die horen, Heft 124, 4. Quartal 1981
PROVOKATION FÜR EINEN STRUWWELPETER
Nach Volker Braun
1
Mach es wie ich: trink Birkenhaarwasser
Dann wachsen die Haare dir auf den Zähnen!
Beschwör nicht den Bart – beschwör den Kopf des Proleten!
Und kämm dich! Vielleicht, es kommt ein Gesicht zum Vorschein.
2
Wenn ich dir auf die Finger seh, denk ich beinahe
Du willst dir die Welt untern Nagel reißen – dabei
Juckt dich nicht mal das bißchen Deutschland! Dich
Nenne ich noch: vorläufiges Halbfabrikat.
3
Wär ich Friseur, ich würde nicht anders reden.
4
Hier nicht.
Kurt Bartsch
In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.
Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.
Die Geschichte macht keinen Stopp von Peter Neumann. Ein Besuch beim Büchnerpreisträger Volker Braun, der den Weltgeist immer noch rumoren hört.
Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019
Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019
Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019
Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019
Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019
Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019
Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019
Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019
Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019
Guten Tag! Mein Vater hat dieses Gedicht in Ungarn übergesetzt. Könnten wir zum Gedichter Herr Volker Braun Kontakt bekommen? Wir möchten diese Übersetzung in meines Vaters Gedichtsband veröffentlichen in Ungarn. Vielen Dank